BT-Drucksache 17/9730

Selbstbestimmtes Leben von Menschen mit Behinderung - Grundsatz der deutschen Entwicklungspolitik

Vom 22. Mai 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9730
17. Wahlperiode 22. 05. 2012

Antrag
der Abgeordneten Klaus Riegert, Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, Ingrid
Fischbach, Hartwig Fischer (Göttingen), Michael Grosse-Brömer, Helmut
Heiderich, Anette Hübinger, Jürgen Klimke, Maria Michalk, Stefan Müller
(Erlangen), Johannes Selle, Armin Schuster (Weil am Rhein), Sabine Weiss
(Wesel I), Dagmar G. Wöhrl, Volker Kauder, Gerda Hasselfeldt und der Fraktion
der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Helga Daub, Dr. Christiane Ratjen-Damerau, Joachim
Günther (Plauen), Harald Leibrecht, Gabriele Molitor, Dr. Rainer Stinner, Rainer
Brüderle und der Fraktion der FDP

Selbstbestimmtes Leben von Menschen mit Behinderung – Grundsatz der
deutschen Entwicklungspolitik

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Menschen mit Behinderung zählen zu den am stärksten benachteiligten Gruppen
in Entwicklungsländern. Der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und
der Weltbank im Juni 2011 veröffentlichte Weltbehindertenbericht „World
Report on Disability“ belegt: Die meisten Menschen mit Behinderung haben
schlechtere Chancen auf Gesundheitsversorgung, Schul- und Berufsbildung und
wirtschaftliche Teilhabe. Gerade in Entwicklungsländern werden sie häufig dis-
kriminiert und ausgegrenzt. Viele der weltweit über eine Milliarde Menschen,
die eine Behinderung haben, leben in Armut. In Entwicklungsländern hat unter
den ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung durchschnittlich jeder Fünfte eine Be-
hinderung. Ihre Behinderung ist nicht nur auf ihre körperlichen, sensorischen
oder geistigen Beeinträchtigungen zurückzuführen, sondern auch auf ein Um-
feld, das ihnen die gesellschaftliche Teilhabe verwehrt.

Die UN-Behindertenrechtskonvention zielt darauf ab, Menschen mit Behinde-
rung den gleichen menschenrechtlichen Schutz einzuräumen wie Menschen
ohne Behinderung. Mit ihr werden die universellen Menschenrechte für die Be-
dürfnisse und Lebenslagen behinderter Menschen konkretisiert. Im Zentrum
steht das Recht auf Gleichbehandlung, Teilhabe und Selbstbestimmung. Das
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
(BMZ) hat in seinem Menschenrechtskonzept die Menschenrechtsorientierung

der Entwicklungszusammenarbeit zur verbindlichen Vorgabe gemacht. Die
Strategie des BMZ beruht auf der Förderung sowohl spezifischer Menschen-
rechtsvorhaben als auch der Querschnittsverankerung des Menschenrechtsan-
satzes in allen Sektoren und Schwerpunkten der Entwicklungszusammenarbeit.
Als einer der ersten Staaten hat Deutschland die UN-Behindertenrechtskonven-
tion und das Zusatzprotokoll am 30. März 2007 unterzeichnet und am 24. Fe-
bruar 2009 ratifiziert. Seit dem 26. März 2009 sind sie in Deutschland geltendes

Drucksache 17/9730 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Recht. Deutschland hat sich damit zur inklusiven Entwicklungsarbeit (Artikel 32)
und zur bedarfsgerechten humanitären Hilfe (Artikel 11) verpflichtet.

Inklusion bedeutet, dass Menschen mit und ohne Behinderung von Anfang an
gemeinsam in allen Bereichen selbstbestimmt leben und zusammenleben.
Dieses Leitbild ist als ein andauernder Prozess zu verstehen. Selbstbestimmtes
Leben sollte als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden werden, die von
der Gemeinschaft geleistet und gelebt wird. Eine inklusive Entwicklungszusam-
menarbeit fördert Gleichberechtigung und Teilhabe von Menschen mit Behinde-
rung und betrachtet sie als aktive Partner bei der Umsetzung ihrer Rechte. Für
die Stärkung der Rechte von Menschen mit Behinderung setzt die Bundesregie-
rung auf einen dualen Ansatz (sog. „Twin-Track-Approach“). Das heißt, zum
einen werden Maßnahmen gefördert, die spezifisch auf Menschen mit Behin-
derung ausgerichtet sind. Zum anderen wird dafür Sorge getragen, dass die
Interessen dieser Menschen in allen relevanten Vorhaben ausreichend berück-
sichtigt werden.

Seit dem Jahr 2000 hat das BMZ in diesem Bereich 188 Projekte mit einem
Gesamtvolumen von knapp 54 Mio. Euro gefördert. Diese wurden zu über
70 Prozent über private oder kirchliche Träger durchgeführt. Neben spezi-
fischen Projekten wird das Thema Inklusion zunehmend in bilateralen Vorhaben
berücksichtigt. Das BMZ fördert derzeit mindestens 14 inklusiv gestaltete Ent-
wicklungsmaßnahmen in Afghanistan, Bangladesch, Chile, Haiti, Indonesien,
Kambodscha, Sierra Leone, Tansania und Usbekistan. Das Menschenrechtskon-
zept des BMZ sieht darüber hinaus vor, dass die Durchführungsorganisationen
in Zukunft Vorhaben auf menschenrechtliche Auswirkungen und Risiken prüfen
müssen. Schließlich arbeitet die deutsche Entwicklungszusammenarbeit eng mit
zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammen. Eine besondere Rolle kommt
dabei der Förderung von Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit
Behinderung zu.

Infolge der Ratifikation der Konvention hat die Bundesregierung am 15. Juli
2011 den Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-
Behindertenrechtskonvention (NAP) beschlossen. Der Aktionsplan soll einen
Prozess anregen, der in den kommenden Jahren das Leben der rund 9,6 Millio-
nen Menschen mit Behinderung in Deutschland maßgeblich beeinflussen wird.
Der Nationale Aktionsplan der Bundesregierung beinhaltet Maßnahmen, zu de-
nen sich das BMZ verpflichtet hat. Angekündigt ist die Entwicklung einer BMZ-
Strategie zur Inklusion von Menschen mit Behinderung in der Entwicklungs-
zusammenarbeit. Die BMZ-Strategie soll das Format eines Aktionsplans haben.
Deutschland gehört damit zu den ersten europäischen Ländern, die sich einen
eigenen Aktionsplan zur Stärkung der Rechte von Menschen mit Behinderung
im Rahmen der Entwicklungspolitik geben. Damit setzt die Bundesregierung
auch die in der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie enthaltenen Zielvorgaben
um.

Die Akteure der deutschen Entwicklungspolitik legen Wert darauf, Organisatio-
nen, die sich den Belangen von Behinderten in der Entwicklungszusammenar-
beit widmen, ein hohes Maß an Beteiligung zu ermöglichen. In diesem Sinne hat
das BMZ am 2. Februar 2012 im Rahmen des „3. Runden Tisches zur Inklusion
von Menschen mit Behinderungen in der Entwicklungszusammenarbeit“ die
Eckpunkte für den Aktionsplan vorgelegt und diese mit Vertretern der Zivil-
gesellschaft, Vertretungsorganisationen von behinderten Menschen und anderen
wichtigen Stakeholdern diskutiert. Weitere Schritte sind die Entwicklung kon-
kreter Maßnahmen im Rahmen des Aktionsplans, ein erster Gesamtentwurf so-
wie eine Expertenanhörung. Der BMZ-Aktionsplan soll bis Ende 2012 abge-
schlossen sein und dann in die Umsetzung gehen.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/9730

Der Deutsche Bundestag begrüßt die Entwicklung des BMZ-Aktionsplans im
Geiste der UN-Behindertenrechtskonvention – insbesondere die Einbindung der
Zivilgesellschaft.

II. Der Deutsche Bundestag unterstützt die Anliegen der Bundesregierung,

1. im weiteren Ausarbeitungsprozess des Aktionsplans an der Mitwirkung der
Zivilgesellschaft festzuhalten;

2. die Inklusion von Menschen mit Behinderung in der Entwicklungszusammen-
arbeit als Querschnittsaufgabe nicht nur zu verankern, sondern im BMZ und
den Durchführungsorganen – KfW Bankengruppe und Deutsche Gesellschaft
für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH – systematischer zu gestal-
ten;

3. ein Monitoringsystem einzuführen, um die behindertengerechte Ausgestal-
tung von Entwicklungsmaßnahmen bei der Beauftragung zu dokumentieren;

4. das Thema Inklusion von Menschen mit Behinderung in die Aus- und Fort-
bildung von Fachkräften der Entwicklungszusammenarbeit und humanitären
Hilfe aufzunehmen;

5. Organisationen, welche die Interessen von Menschen mit Behinderung in den
Partnerländern vertreten, in die Planung und Umsetzung sie betreffender
Maßnahmen einzubeziehen;

6. die Lage von Menschen mit Behinderung in Entwicklungsländern verstärkt
sowohl auf bilateraler Ebene bei Regierungsverhandlungen als auch auf
Ebene der EU sowie im Politikdialog auf internationaler und multilateraler
Ebene zu thematisieren.

Berlin, den 22. Mai 2012

Volker Kauder, Gerda Hasselfeldt und Fraktion
Rainer Brüderle und Fraktion

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