BT-Drucksache 17/9571

Tourismus in ländlichen Räumen durch schlüssiges Gesamtkonzept stärken

Vom 9. Mai 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9571
17. Wahlperiode 09. 05. 2012

Antrag
der Abgeordneten Heinz Paula, Elvira Drobinski-Weiß, Hans-Joachim Hacker,
Bettina Hagedorn, Hubertus Heil (Peine), Gabriele Hiller-Ohm, Fritz Rudolf Körper,
Andrea Nahles, Thomas Oppermann, Dr. Frank-Walter Steinmeier und
der Fraktion der SPD

Tourismus in ländlichen Räumen durch schlüssiges Gesamtkonzept stärken

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Für ländliche Räume ist der Tourismus ein zentrales Zukunftsthema. In ihm
steckt vor dem Hintergrund landwirtschaftlicher Strukturveränderungen, des
demographischen Wandels und der Klimaschutzaspekte großes Entwicklungs-
potenzial.

Immer mehr Menschen suchen die naturnahe Erholung, den Gesundheits-, Well-
ness- und Aktivurlaub auf dem Land. Für Menschen aus städtischen und dicht-
besiedelten Ballungsräumen bietet der Bauernhof- und Landurlaub durch di-
rekte Naturerlebnisse und Ruhe, aber auch durch vielfältige Freizeit- und Sport-
angebote wie Wandern, Fahrradfahren oder Reiten viele Anreize. Insbesondere
für Familien mit Kindern, Jugendlichen und Senioren sowie preisbewusste Tou-
risten ist der Urlaub auf dem Lande eine bevorzugte Urlaubsform geworden. Die
Angebote sind vielfältig und reichen von dem klassischen Urlaub auf dem
Bauernhof über Obst- und Winzerhöfe, Bio-, Kneipp- oder Fischerhöfe bis hin
zu vielfältigen Sport- und Wellnessangeboten. Spezielle Erlebnissegmente und
die Erschließung neuer Zielgruppen werden immer wichtiger. Das Marktpoten-
zial ist noch nicht ausgeschöpft. Allein für den Bauernhofurlaub interessieren
sich beispielsweise sieben Millionen Deutsche innerhalb der nächsten drei
Jahre. Das sind 1,7mal mehr Interessenten, als die aktuelle Zahl der Bauernhof-
reisenden.1 Um vorhandene Nachfragepotenziale künftig auszuschöpfen, ist es
umso wichtiger, dass der Bauernhof- und Landtourismus weiter gestärkt wird.

Der Tourismus in ländlichen Räumen ist vor allem durch kleine und mittelstän-
dische Unternehmen geprägt. Er ist ein wichtiges Standbein der wirtschaftlichen
Entwicklung in strukturschwachen Regionen und muss durch geeignete Förder-
programme unterstützt werden. Neben den Beherbergungsbetrieben profitieren
insbesondere Unternehmen aus den Bereichen Handwerk, Einzelhandel, Gastro-
nomie sowie Wellness-, Freizeit- und Kultureinrichtungen. Hier müssen Syner-

gien gestärkt und bewusster genutzt werden, um alle Potenziale voll auszu-
schöpfen. Dabei bedarf es einer nachhaltigen Strategie, die nicht nur auf die öko-

1 Vergleiche Urlaub auf dem Bauernhof/Urlaub auf dem Lande 2010/11, Studie für das Bundesministe-
rium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, hrsg.: N. I. T. Institut für Tourismus- und
Bäderforschung in Nordeuropa GmbH, September 2011.

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nomische Effizienz, sondern auch auf eine soziale Balance sowie effiziente Nut-
zung und Schonung natürlicher Ressourcen abzielt.

Die bewusste Einbindung von Traditionen, regionalen Besonderheiten und Iden-
titäten sowie speziellen touristischen Angeboten kann helfen, neue Märkte und
Zielgruppen zu erschließen. Auch eine lebendige Vereinsstruktur und vielfälti-
ges bürgerschaftliches Engagement, als starke Säulen des gemeinschaftlichen
Zusammenlebens in ländlichen Gebieten, tragen wesentlich zur Attraktivität
touristischer Ziele bei. Durch ein interessantes regionales Angebot kann der
Bauernhof- und Landtourismus gegenüber der teilweisen Austauschbarkeit von
Reisezielen im weltweiten Tourismus punkten – Anbieter können über den di-
rekten Verkauf ihrer produzierten Güter und regionaler Spezialitäten ihr Ein-
kommen steigern. Auf Familien- und Kinderferienhöfen kann beispielsweise
durch den direkten Kontakt zur Landwirtschaft und Natur das Verständnis für
die Nahrungsmittelherstellung und Umweltbelange gefördert werden. Bio-
bauernhöfe können nicht nur von einzelnen Familien, sondern auch von Schulen
als außerschulische Lernorte für Kinder und Jugendliche hinsichtlich der Sensi-
bilisierung für eine nachhaltige Landwirtschaft und gesunde Ernährung genutzt
werden. Durch speziell auf Seniorinnen und Senioren zugeschnittene Angebote,
wie zum Beispiel Kombinationen aus Aktiv-, Wellness- und Gesundheitsurlaub,
kann der Bauernhof- und Landtourismus den demographischen Wandel im länd-
lichen Bereich positiv mitgestalten. Ein wichtiges Qualitätskriterium ist in die-
sem Zusammenhang die Barrierefreiheit. Dies gilt nicht nur für die Unterkunft,
sondern auch in der Umgebung bzw. bei An- und Abreise. Eine umfassende Be-
ratungs- und Aufklärungsarbeit sowie Fördermaßnahmen für die Anbieter sind
ebenso wichtig wie der Ausbau einer geeigneten Infrastruktur, die den Komfort
für Reisende mit Mobilitätseinschränkungen und damit eine gesamtgesellschaft-
liche Teilhabe aller sichert.

Die vielfältigen Möglichkeiten des Naturerlebens sind das Lebenselixier des
Tourismus in ländlichen Räumen. Daher ist eine attraktive Natur- und Kultur-
landschaft, die es im Rahmen nachhaltiger Bewirtschaftungskonzepte zu erhal-
ten, zu pflegen und weiterzuentwickeln gilt, eine wesentliche Voraussetzung für
die Zukunft des Bauernhof- und Landtourismus.

Eine Verbesserung und nachhaltige Bewirtschaftung der Infrastruktur und der
Verkehrsdienstleistungen stärken den Tourismus in strukturschwachen Regionen.
Hierzu sollten die Angebote des öffentlichen Nahverkehrs durch flexible Mobi-
litätsangebote zunehmend ergänzt werden. Auch die Kombination mit dem Rad-
und Wandertourismus schafft weitere Nachfragepotenziale.

Aus dem Spannungsfeld zwischen den erheblichen wirtschaftlichen Potenzialen
und den großen Herausforderungen der Branche, angefangen von dem Struktur-
wandel in der Landwirtschaft über den demographischen Wandel, den Defiziten
in der Infrastruktur, der großen Vielfalt und neuen Zielgruppen des Tourismus in
ländlichen Gebieten, ergibt sich die Notwendigkeit einer bundesweiten Touris-
muskonzeption.

Die Bundesregierung beabsichtigt, den Tourismus in ländlichen Räumen durch
eine Analyse von Best-Practice-Beispielen sowie eine bundesweite Implemen-
tierung der Ergebnisse zu stärken (vgl. Pressegespräch des Bundesministeriums
für Wirtschaft und Technologie am 12. Dezember 2011). Dieser Ansatz ist aner-
kennenswert, aber ungenügend. Die Zufälligkeit bei der Sammlung von Beispie-
len sowie die Übertragung auf andere Regionen sind schwierig und unzureichend.
Wir fordern daher ein Gesamtkonzept, das den Tourismus als wichtigen Motor
für die Entwicklung der ländlichen Gebiete begreift und die Stärkung des Tou-
rismus in eine innovative, Ressourcen schonende, umwelt- und sozialverträg-
liche Politik für ländliche Räume bettet.

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II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

• ein Konzept für den Tourismus in ländlichen Räumen vorzulegen, das den-
selben als Querschnittsaufgabe begreift und die wirtschafts-, gesellschafts-,
sozialpolitischen sowie ökologischen Dimensionen berücksichtigt;

• unter Hinzuziehung wissenschaftlicher Expertise eine bundesweite Grund-
lagenuntersuchung zu fördern, die belastbare Daten zum Tourismus in länd-
lichen Räumen als Wirtschaftsfaktor liefert;

• zu prüfen, inwieweit eine eigene langfristige und kontinuierliche Datenerhe-
bung und Fachberichterstattung über den Tourismus im ländlichen Raum
aufgebaut werden können;

• ein bundesweites dauerhaftes Forum zu initiieren und zu koordinieren, das
alle Akteure des ländlichen Tourismus zusammenbringt und ihnen die Mög-
lichkeit bietet, sich regelmäßig über die Entwicklungen in dem Sektor auszu-
tauschen;

• auf die Bundesländer hinzuwirken, Projekte und Marketing-Kampagnen im
Bauernhof- und Landtourismus ressort- und länderübergreifend sowie mit
den Verbänden zu koordinieren. Das von der Bundesarbeitsgemeinschaft für
Urlaub auf dem Bauernhof und Landtourismus initiierte Informations- und
Buchungsportal Landsichten.de kann dabei eine tragende Funktion überneh-
men;

• den Tourismus in die Arbeit der interministeriellen Arbeitsgruppe „Ländliche
Räume“ noch stärker einzubeziehen und die Zusammenarbeit hinsichtlich
der Stärkung des Tourismus in ländlichen Räumen zwischen den betroffenen
Ministerien zu verbessern;

• die speziellen Anforderungen des Tourismus in ländlichen Räumen in den
Förderprogrammen des Bundes und der Länder zu verankern, so dass Syner-
gien möglich werden;

• auf die Bundesländer hinzuwirken, Bauernhöfe sowie Natur-, Nationalparke
und Biosphärenreservate als außerschulische Lernorte stärker ins Schulwe-
sen zu integrieren, um bei Jugendlichen das Bewusstsein für nachhaltige
Landwirtschaft, gesunde Ernährung und Umweltschutz zu fördern sowie ent-
sprechende Projekte von Anbietern des Bauernhof- und Landurlaubs zu un-
terstützen;

• Jugendfreizeitheime, Jugendherbergen und Schullandheime in ein Gesamt-
konzept mit einzubeziehen, um damit gezielt Jugendlichen und Menschen
mit geringem Einkommen einen Aufenthalt in ländlichen Räumen zu ermög-
lichen;

• das bürgerschaftliche Engagement und Vereinswesen zur Pflege der regiona-
len kulturellen Besonderheiten und des Brauchtums mit besonderer Anzie-
hungskraft für Touristen zu stärken sowie die Kooperationen mit touristi-
schen Leistungsträgern in ländlichen Räumen zu unterstützen;

• vorhandene regionale und überregionale Engagementstrukturen im Gesamt-
konzept zu berücksichtigen und die bürgerschaftlich Engagierten bei der
Ausarbeitung und Weiterentwicklung des Konzepts zu beteiligen. Dazu ge-
hören Vereine und Initiativen aus den Bereichen Umwelt, Tourismus, Kultur
und Sport;

• Rahmenbedingungen für Barrierefreiheit in ländlichen Räumen zu verbes-
sern und Anbieter touristischer Angebote diesbezüglich stärker durch Auf-
klärung und geeignete Fördermaßnahmen zu unterstützen;

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• die Bundesländer dabei zu unterstützen, den Ausbau der Verkehrsinfrastruk-
tur in ländlichen Räumen und die Entwicklung nachhaltiger Konzepte für
innovative und flexible Verkehrsdienstleistungen (z. B. „Bürgermobile“ oder
„AnrufBus“) weiter voranzutreiben;

• die Bundesländer dabei zu unterstützen, eine leistungsfähige Breitbandver-
sorgung mit Geschwindigkeiten von 50 Mbit/s, die auch zukünftigen Anfor-
derungen Rechnung trägt, flächendeckend zu gewährleisten;

• attraktive Natur- und Kulturlandschaften in ländlichen Räumen zu erhalten;

• zu prüfen, inwieweit die Arbeit der Naturparke, Nationalparke und Biosphä-
renreservate sowie ihre Kooperation mit touristischen Leistungsträgern durch
geeignete Forschungs- und Förderprogramme weiter verbessert werden kann;

• um einer weiteren „Labelflut“ entgegenzuwirken, die Länder bei der Ent-
wicklung geeigneter einheitlicher Qualitätssiegel für den Tourismus in länd-
lichen Räumen als Impulsgeber und Koordinator zu unterstützen. Die Quali-
tätssiegel sollten nicht nur die Ausstattungs- und Servicequalität bewerten,
sondern auch spezifische Merkmale des Tourismus in ländlichen Räumen
aufgreifen (spezielle Erlebnismerkmale oder die Vermarktung regionaler Be-
sonderheiten als Kriterium);

• auf die Länder einzuwirken, die Ferienzeitenkorridore wieder breiter zu staf-
feln (Ziel: Spanne wieder auf 90 Tage ausweiten);

• den Bauernhof- und Landtourismus als eigenes Schwerpunktthema in den
tourismuspolitischen Bericht aufzunehmen;

• den Tourismus in ländlichen Räumen als eigenes Schwerpunktthema in den
Strategieplan der Bundesrepublik Deutschland für die Entwicklung der länd-
lichen Räume aufzunehmen;

• den Tourismus in ländlichen Räumen als eigenen Schwerpunkt in den Agrar-
bericht der Bundesregierung aufzunehmen;

• sich für den Abbau bürokratischer Hürden bei grenzüberschreitenden Touris-
muskooperationen hinsichtlich der Förderung aus EU-Mitteln einzusetzen;

• den Tourismus in ländlichen Räumen überregional und international über die
Deutsche Zentrale für Tourismus e. V. in Kooperation mit den Akteuren der
Branche aktiver zu vermarkten.

Berlin, den 9. Mai 2012

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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