BT-Drucksache 17/9061

Individuelle Gesundheitsleistungen eindämmen

Vom 21. März 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9061
17. Wahlperiode 21. 03. 2012

Antrag
der Abgeordneten Mechthild Rawert, Dr. Marlies Volkmer, Bärbel Bas, Petra
Ernstberger, Elke Ferner, Dr. Edgar Franke, Iris Gleicke, Angelika Graf
(Rosenheim), Ute Kumpf, Dr. Karl Lauterbach, Steffen-Claudio Lemme, Hilde
Mattheis, Thomas Oppermann, Dr. Carola Reimann, Dr. Frank-Walter Steinmeier
und der Fraktion der SPD

Individuelle Gesundheitsleistungen eindämmen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) sind Leistungen, die nicht zum fest-
geschriebenen Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen gehören. Von
den gesetzlichen Krankenkassen werden sie deshalb grundsätzlich nicht finan-
ziert. Patientinnen und Patienten müssen solche Leistungen aus der eigenen
Tasche bezahlen.

Im Jahr 2010 wurden in deutschen Arztpraxen Individuelle Gesundheitsleistun-
gen im Wert von 1,5 Mrd. Euro erbracht. Es handelt sich um einen schnell wach-
senden Markt. Im Vergleich zu 2008 ist der Umsatz mit Individuellen Gesund-
heitsleistungen um 500 Mio. Euro gestiegen.

Patientinnen und Patienten werden in den Arztpraxen zum Teil durch aggressives
Marketing zu den Leistungen gedrängt. Häufig erhalten die Patientinnen und
Patienten weder schriftliche Behandlungsverträge noch schriftliche Rechnungen.
Diese Verhaltensweisen schädigen das Arzt-Patienten-Verhältnis. Weil die
Patientinnen und Patienten in der Regel nicht beurteilen können, ob die Kassen-
leistungen für sie ausreichend sind, wird durch die Individuellen Gesundheits-
leistungen suggeriert, dass der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenver-
sicherung (GKV) nicht ausreichend sei und den gesetzlich Krankenversicherten
wichtige Leistungen vorenthalten würden.

Für zwei der am häufigsten verkauften Individuellen Gesundheitsleistungen
(Glaukom- und vaginales Ultraschallscreening) gibt es keine Anhaltspunkte für
einen patientenrelevanten Nutzen. Bei anderen Individuellen Gesundheitsleis-
tungen, wie z. B. der Colon-Hydro-Therapie, werden neben dem fehlenden
Patientennutzen sogar gravierende Schäden (z. B. Darmblutungen) berichtet.

Individuelle Gesundheitsleistungen werden deutlich häufiger Patientinnen und

Patienten mit höheren Einkommen angeboten. Dadurch verdichtet sich der Ein-
druck, dass bei der Erbringung dieser Leistungen nicht die medizinische Not-
wendigkeit im Vordergrund steht, sondern die wirtschaftlichen Interessen der
Ärztin oder des Arztes. Neben klassischen Individuellen Gesundheitsleistungen,
die nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen gehören, stellen
immer mehr Ärztinnen und Ärzte auch solche Leistungen privat in Rechnung,

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die bei medizinischer Indikation sehr wohl von den gesetzlichen Kassen bezahlt
würden.

Auch innerhalb der Ärzteschaft wächst die Einschätzung, dass der Missbrauch
von Individuellen Gesundheitsleistungen durch die Ärztinnen und Ärzte mittler-
weile ein Problem darstellt. Individuelle Gesundheitsleistungen werden als Ge-
fährdung einer vertrauensvollen Arzt-Patient-Beziehung gesehen, insbesondere
dann, wenn die Patienten sich nicht sicher sein können, ob es dem Arzt in erster
Linie um die Lösung ihrer gesundheitlichen Probleme oder um eine zusätzliche
Einkommensquelle geht. Andererseits sehen einzelne Facharztgruppen die Aus-
weitung der Individuellen Gesundheitsleistungen aus rein wirtschaftlichen
Gründen als unerlässlich an.

Diese Rahmenbedingungen für Individuelle Gesundheitsleistungen sind nicht
länger hinnehmbar, schaden sie doch sowohl den Patientinnen und Patienten als
auch dem Vertrauensverhältnis zu ihren Ärztinnen und Ärzten und dem Ver-
trauen in die Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung deshalb auf,

ein Gesetz mit den folgenden Inhalten vorzulegen:

1. Hat eine Ärztin oder ein Arzt für eine Patientin oder einen Patienten eine In-
dividuelle Gesundheitsleistung erbracht, darf sie oder er für diese Patientin
oder diesen Patienten am selben Tag keine Leistungen zu Lasten der gesetz-
lichen Krankenversicherung abrechnen. Ausnahmen hiervon sind von der Pa-
tientin oder vom Patienten selbst nachgefragte spezielle Leistungen, wie z. B.
Reiseimpfungen oder sportmedizinische Untersuchungen.

Damit soll Patientinnen und Patienten ermöglicht werden, die Entscheidung
für oder gegen eine derartige Leistung ohne Druck und Zwang zu treffen.
Diese Regelung wird in den vertragsärztlichen Pflichten normiert und bei Zu-
widerhandlung von den Kassenärztlichen Vereinigungen sanktioniert, bis hin
zum Zulassungsentzug. Ausgenommen sind Leistungen, von denen ange-
nommen werden kann, dass sie Anlass des Arztbesuches sind, z. B. Reise-
schutzimpfungen oder sportmedizinische Untersuchungen. Leistungen dieser
Art sind genau zu katalogisieren.

2. Bei Individuellen Gesundheitsleistungen muss grundsätzlich ein schriftlicher
Behandlungsvertrag geschlossen werden. Der Arzt wird dabei verpflichtet,
umfassend zu informieren, u. a. auch darüber, warum eine Individuelle Ge-
sundheitsleistung nicht GKV-Leistung ist, bzw. wann sie es wäre. In einem
persönlichen Gespräch sind Patientinnen und Patienten umfassend über die
Individuelle Gesundheitsleistung aufzuklären. Diese Beratungsgespräche
sind ausschließlich von den behandelnden Ärztinnen und Ärzten vorzuneh-
men, nicht an Dritte zu delegieren und kein Ersatz für eine schriftliche Auf-
klärung. Der Patient erhält bei allen Individuellen Gesundheitsleistungen im-
mer eine schriftliche Rechnung.

3. Bei Formverstößen, z. B. fehlenden Informationen im Behandlungsvertrag
oder fehlender schriftlicher Rechnung, ist der Patient nicht verpflichtet, die
Rechnung zu zahlen.

4. In jeder Arztpraxis, in der Individuelle Gesundheitsleistungen erbracht wer-
den, muss eine Übersicht über die angebotenen Individuellen Gesundheits-
leistungen als Information der Bundesregierung aushängen. Für jede Indivi-
duelle Gesundheitsleistung muss dabei angegeben sein, warum sie nicht im
Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung enthalten ist. Dabei
sollen die folgenden Kategorien unterschieden werden:

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• Leistungen, die wegen der sozialgesetzlichen Regelungen nicht GKV-
Leistungen sein können, die aber aufgrund spezifischer Bedürfnisse eines
Versicherten sinnvoll sein können (z. B. Impfung vor Fernreisen, sport-
medizinische Untersuchungen);

• Leistungen, die nur bei bestimmten Indikationen von der GKV übernom-
men werden;

• Leistungen, deren Beratung im Gemeinsamen Bundesausschuss nicht be-
antragt wurde;

• Leistungen, die aktuell im Gemeinsamen Bundesausschuss beraten wer-
den;

• Leistungen, für die der Gemeinsame Bundesausschuss einen ablehnenden
Beschluss gefasst hat, da kein ausreichender therapeutischer Nutzen be-
legt wurde.

Als Ergänzung dazu wird der Gemeinsame Bundesausschuss beauftragt, all-
gemeinverständliche und patientenorientierte Informationen über Indivi-
duelle Gesundheitsleistungen zu formulieren. Dies soll den Patientinnen und
Patienten helfen, eine fundierte Entscheidung für oder gegen eine Individu-
elle Gesundheitsleistung zu treffen. Dazu sollen nach Kriterien der evidenz-
basierten Medizin der mögliche Nutzen und Schaden für die Patientinnen und
Patienten geprüft und bewertet werden. Ärztinnen und Ärzte werden ver-
pflichtet, ihre Patienten auf der Basis dieser Informationen umfassend zu in-
formieren. Die Informationen über die jeweilige Individuelle Gesundheits-
leistung werden Bestandteil des schriftlichen Behandlungsvertrages.

5. Die Kassen werden ebenfalls zu umfassender Aufklärung ihrer Versicherten
verpflichtet.

6. Die Bundesregierung lässt sich in regelmäßigen Abständen über die Entwick-
lung bei Individuellen Gesundheitsleistungen berichten. Mit der Erstellung
dieser Berichte wird die Verbraucherzentrale Bundesverband beauftragt. Ziel
ist es, mehr Informationen zur Struktur des Marktes der Individuellen Ge-
sundheitsleistungen zu erhalten, um hier im Interesse der Patientinnen und
Patienten zu mehr Transparenz und Qualitätssicherung zu gelangen.

7. Um die Bewertungen neuer Diagnose- und Behandlungsmethoden durch den
Gemeinsamen Bundesausschuss zu beschleunigen, wird die Verfahrenslauf-
zeit begrenzt.

8. Die Bundesregierung wird aufgefordert, dafür zu sorgen, dass in den ver-
tragsärztlichen Verpflichtungen bei der Zulassung durch die regionalen Zu-
lassungsausschüsse sichergestellt wird, dass Vertragsärztinnen und -ärzte den
überwiegenden Anteil ihrer Arbeitszeit für die Behandlung von Versicherten
der gesetzlichen Krankenversicherung mit Kassenleistungen verwenden.

Berlin, den 21. März 2012

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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