BT-Drucksache 17/8927

Den Euratom-Vertrag an die Herausforderungen der Zukunft anpassen

Vom 7. März 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8927
17. Wahlperiode 07. 03. 2012

Antrag
der Abgeordneten René Röspel, Rolf Hempelmann, Marco Bülow, Dr. Martin
Schwanholz, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Willi Brase, Ulla Burchardt,
Petra Ernstberger, Michael Gerdes, Iris Gleicke, Klaus Hagemann,
Oliver Kaczmarek, Ulrich Kelber, Ute Kumpf, Thomas Oppermann, Florian Pronold,
Marianne Schieder (Schwandorf), Swen Schulz (Spandau), Dagmar Ziegler,
Dr. Frank-Walter Steinmeier und der Fraktion der SPD

Den Euratom-Vertrag an die Herausforderungen der Zukunft anpassen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom-Ver-
trag) ist seit seiner Unterzeichnung im Jahre 1957, trotz erheblicher Veränderun-
gen und Umwälzungen in Politik, Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft,
nahezu unverändert geblieben. Hierdurch haben sich erhebliche Widersprüche
zwischen dem Wortlaut des Vertrages und der gesellschaftlichen und politischen
Realität in den Nationen, die den Vertrag unterzeichnet haben, entwickelt.

So war und ist beispielsweise das Ziel des Vertrages bis heute die „Entwicklung
einer mächtigen Kernindustrie“. Grundlage dieser Zielsetzung war die Überzeu-
gung, „dass die Kernenergie eine unentbehrliche Hilfsquelle für die Entwick-
lung und Belebung der Wirtschaft und für den friedlichen Fortschritt“ darstellt,
wie es weiter im Vertrag heißt. Die Nutzung der zivilen Atomenergie in Europa
soll demnach unterstützt und aktiv gefördert werden.

Die Hoffnung auf eine saubere und vor allem sichere Energieversorgung durch
Atomenergie hat sich jedoch nicht erfüllt. Die Ereignisse in Tschernobyl/
Ukraine sowie in Fukushima/Japan haben erneut deutlich vor Augen geführt,
dass die Energiebereitstellung durch Kernspaltung – auch in hoch technolo-
gisierten Ländern mit erheblichen Ressourcen und einer starken Wissenschaft –
ein für Menschen unbeherrschbares Risiko darstellt. Zudem sind wichtige Fra-
gen, wie die der Endlagerung der atomaren Abfälle, heute noch immer ungelöst,
obgleich an ihnen in der Vergangenheit mit Hochdruck und erheblichem Res-
sourceneinsatz gearbeitet wurde.

Die derzeitige Zielrichtung des Euratom-Vertrages steht im Widerspruch zu den
Bemühungen der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten, eine sichere
und nachhaltige Energieversorgung insbesondere durch erneuerbare Energien
zu verwirklichen. Trotz divergierender Ansichten der Mitgliedstaaten zur Atom-
energie besteht doch ein Konsens dahingehend, dass die Zukunft der Energie-
versorgung nicht in der Kernspaltung, sondern in der Nutzung regenerativer
Energien liegt. Heute gilt es, die Entwicklung und Förderung erneuerbarer
Energien voranzutreiben und neue Formen nachhaltiger Energieversorgung zu

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entwickeln, um so eine Energieversorgung ohne unbeherrschbare Risiken sicher-
zustellen. Dies muss zentrale Zielsetzung eines neuen „Energie“-Vertrages sein.

Ein möglicher atomarer Unfall mit all seinen Folgen kann die Bevölkerung ganz
Europas und darüber hinaus bedrohen. Nur ein gemeinsames europäisches Han-
deln kann die Bevölkerung und die Umwelt ausreichend schützen. Deshalb
macht ein Verbleiben Deutschlands in der Euratom-Vertragsgemeinschaft auch
nach dem nationalen Atomausstieg Sinn. Denn nur als Mitglied dieser Organi-
sation hat Deutschland die Möglichkeit, einen Beitrag zur Weiterentwicklung
der Organisation im Interesse der deutschen und europäischen Bevölkerung und
auch im Interesse der Umwelt zu leisten. Eine umfassende Reform des Vertrags-
werkes ist daher notwendig.

Im Rahmen der notwendigen Neuausrichtung müsste zunächst die Sonderstel-
lung abgeschafft werden, die bisher der Atomenergie durch den Euratom-Ver-
trag – beispielsweise durch Investitionserleichterungen – zugemessen wird.
Diese Sonderstellung entspricht auch nicht der Rolle, die die Energieerzeugung
durch Atomenergie tatsächlich im Rahmen des Energiemixes der europäischen
Mitgliedstaaten einnimmt. Selbst in Frankreich wird sich der Anteil der Atom-
energie an der gesamten Stromproduktion in den nächsten Jahren reduzieren.
Daher ist es nur konsequent, den europaweiten endgültigen Atomausstieg als
Ziel zu formulieren.

Der Euratom-Vertrag verhindert eine nachhaltige europäische Energiepolitik
und verzerrt damit den Wettbewerb auf dem ansonsten liberalisierten Energie-
binnenmarkt. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass Haftungsrege-
lungen in den Mitgliedstaaten völlig unterschiedlich ausgestaltet sind. Die Haf-
tungsregelungen in den einzelnen europäischen Ländern müssen so ausgestattet
sein, dass potenzielle eintretende Schäden auch durch den Verursacher gedeckt
werden.

Die Europäische Atomenergiebehörde sollte künftig gestärkt werden, so dass sie
höchste und einheitliche Sicherheitsstandards in der EU garantieren sowie For-
schung und Entwicklung von Sicherheits- und Endlagerkonzepten vorantreiben
kann. Die Europäische Union sollte sich zum Ziel setzen, dass vergleichbare
Sicherheitsanforderungen an Atomkraftwerke und Atommüll auf höchstem Ni-
veau auch in den Nachbarländern der EU und sogar weltweit eingeführt werden.
Allerdings setzt dies voraus, dass überhaupt verbindliche europäische Sicher-
heitsnormen für den Betrieb und Neubau von Atomkraftwerken geschaffen
werden. Dies steht bisher noch aus. Ein neuer Euratom-Vertrag könnte für diesen
Prozess wichtige Impulse geben.

Zudem ist insbesondere die Möglichkeit, im Euratom-Vertrag nur Grundnormen
für den Gesundheitsschutz der Bevölkerung und der Arbeitskräfte gegen die
Gefahren ionisierender Strahlungen festzusetzen, in Anbetracht des durch Fu-
kushima verdeutlichten internationalen Gefahrenpotenzials der Atomenergie-
nutzung nicht mehr zeitgemäß.

Der Euratom-Vertrag weist aber nicht nur inhaltliche Defizite auf. Auch die da-
rin normierten Entscheidungsverfahren sind nicht hinreichend transparent. So
entscheidet in der Regel der Europäische Rat auf Vorschlag der Europäischen
Kommission. Das EU-Parlament fungiert nicht als Mitentscheidungsorgan. Es
hat in einzelnen Bereichen lediglich Anhörungsrechte. Dies ist ein Anachronis-
mus, nachdem der Lissabon-Vertrag auch zum Ziel hatte, die demokratische
Legitimation in der Europäischen Union zu stärken. Folglich ist auch unter dem
Gesichtspunkt der Demokratie und der Beteiligungsrechte eine Weiterentwick-
lung des Euratom-Vertragswerks geboten.

Im Rahmen einer nachhaltigen europäischen Energiepolitik spielen erneuerbare
Energien eine Schlüsselrolle. Es gilt daher, innerhalb des Handlungsrahmens der
Europäischen Union eine Strategie für die gemeinsame Förderung und Stärkung

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erneuerbarer Energien zu erarbeiten. So könnte zum Beispiel eine verstärkte Zu-
sammenarbeit auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien einen wichtigen Bei-
trag leisten, einen europäischen Binnenmarkt für erneuerbare Energien zu er-
richten und die Forschung und Kooperation mit Drittstaaten in diesem Bereich
weiter und stärker zu fördern.

Die Bundesrepublik Deutschland hat bereits zur Schlussakte von Lissabon vom
13. Dezember 2007 zusammen mit anderen europäischen Mitgliedstaaten eine
Erklärung abgegeben, in der sie ihre Unterstützung für eine zeitgemäße Verän-
derung des Euratom-Vertrages zum Ausdruck gebracht hat:

„Erklärung Nr. 54: Deutschland, Irland, Ungarn, Österreich und Schweden stel-
len fest, dass die zentralen Bestimmungen des Vertrags zur Gründung der Euro-
päischen Atomgemeinschaft seit seinem Inkrafttreten in ihrer Substanz nicht
geändert worden sind und aktualisiert werden müssen. Daher unterstützen sie
[die erklärenden Mitgliedstaaten] den Gedanken einer Konferenz der Vertreter
der Regierungen der Mitgliedstaaten, die so rasch wie möglich einberufen wer-
den sollte.“

Dies ist bisher unterblieben.

II. Der Deutsche Bundestag begrüßt,

• dass sich die Bundesregierung bereits im Jahr 2007 zur Reform des Euratom-
Vertrages bekannt hat;

• die vom Bundesland Nordrhein-Westfalen initiierte Bundesratsinitiative zur
Änderung des Euratom-Vertrages;

• den einstimmigen Beschluss der 56. Europaministerkonferenz (EMK) zur
Energie- und Klimapolitik mit der Forderung nach einer Überarbeitung des
Euratom-Vertrages.

III. Der Deutsche Bundestag bedauert,

• dass die derzeitige Bundesregierung bisher keine sichtbaren Anstrengungen
zur Reform des Euratom-Vertrages unternommen hat;

• dass der zweite deutsche Atomausstieg erst nach den furchtbaren Ereignissen
von Fukushima durch die Bundesregierung umgesetzt wurde.

IV. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

• sich auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass schnellstmöglich eine
Regierungskonferenz einberufen wird, die den Vertrag zur Gründung einer
Europäischen Atomgemeinschaft grundlegend überarbeitet.

Im Rahmen dieser Konferenz soll die Bundesregierung auf folgende Neuaus-
richtung hinwirken:

– Die durch den Euratom-Vertrag festgeschriebene Sonderstellung der
Atomenergie ist abzuschaffen, insbesondere sollen alle Passagen des Eu-
ratom-Vertrages gestrichen werden, die Investitionen in die Atomenergie
begünstigen. Die freiwerdenden Mittel sollen stattdessen außerhalb des
Euratom-Rahmens für die Forschung und Entwicklung von erneuerbaren
Energien eingesetzt werden. Die Forschung und Entwicklung auf dem Ge-
biet der Kernspaltung ist auf Sicherheits- und Gesundheitsfragen zu be-
schränken.

– Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Atomenergie noch einige
Zeit Teil des Energiemixes vieler Mitgliedstaaten bleiben wird, müssen
höchstmögliche, verbindliche Sicherheitsstandards für Atomkraftwerke

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gelten. Die Kontrolle der Sicherheitsstandards muss verschärft werden.
Zudem soll die Europäische Atomenergiebehörde den Austausch mit den
Nachbarländern der EU ausbauen, um diese über Fortschritte bei Sicher-
heits- und Gesundheitsfragen zu informieren und ihnen bei der Umset-
zung höchstmöglicher Sicherheitsstandards behilflich sein.

– Die Sicherheitsstandards für Zwischen- und Endlager müssen europaweit
einheitlich hoch sein und auf wissenschaftlichen Fakten basieren. Not-
wendig ist hierfür auch eine europäische Förderung der Endlagerfor-
schung.

– Der europaweite Ausstieg aus der Atomenergie muss vorbereitet werden.

– Die Revision des Euratom-Vertrages muss die bislang fehlende Transpa-
renz der Verfahren und die mangelhafte Beteiligung des Europäischen
Parlaments beheben;

• sich dafür einzusetzen, dass mittelfristig eine europäische Strategie bzw. ein
europäisches Instrument zur stärkeren Förderung der erneuerbaren Energien,
Energieeffizienz und Energieeinsparung geschaffen wird. Dabei soll auf den
erfolgreichen Förderstrategien der Mitgliedstaaten aufgebaut werden.

Berlin, den 7. März 2012

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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