BT-Drucksache 17/8620

zu der Beratung der Unterrichtung - Drucksachen 17/8426 Nr. A.46, 17/8618 - Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Regeln und Verfahren für lärmbedingte Betriebsbeschränkungen auf Flughäfen der Union im Rahmen eines ausgewogenen Ansatzes sowie zur Aufhebung der Richtlinie 2002/30/EG des Europäischen Parlaments und des Rates KOM(2011) 828 endg.; Ratsdok. 18010/11 hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes

Vom 8. Februar 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8620
17. Wahlperiode 08. 02. 2012

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Stephan Kühn, Daniela Wagner, Dr. Anton Hofreiter, Cornelia
Behm, Tabea Rößner, Harald Ebner, Bettina Herlitzius, Dr. Valerie Wilms,
Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, Sylvia Kotting-Uhl, Oliver Krischer, Undine Kurth
(Quedlinburg), Nicole Maisch, Friedrich Ostendorff, Dr. Hermann E. Ott, Dorothea
Steiner, Markus Tressel und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu der Beratung der Unterrichtung

– Drucksachen 17/8426 Nr. A.46, 17/8618 –

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments
und des Rates über Regeln und Verfahren für lärmbedingte Betriebsbe-
schränkungen auf Flughäfen der Union im Rahmen eines ausgewogenen
Ansatzes sowie zur Aufhebung der Richtlinie 2002/30/EG des
Europäischen Parlaments und des Rates
KOM(2011) 828 endg.; Ratsdok. 18010/11

hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23
Absatz 3 des Grundgesetzes

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Deutsche Bundestag hält den Vorschlag für eine Verordnung des Europä-
ischen Parlaments und des Rates über Regeln und Verfahren für lärmbedingte
Betriebsbeschränkungen auf Flughäfen der Union im Rahmen eines ausgewoge-
nen Ansatzes sowie zur Aufhebung der Richtlinie 2002/30/EG des Europäi-
schen Parlaments und des Rates (im Folgenden BetriebsbeschränkungsVO) für
nicht geeignet, die Lärmbelastung an Flughäfen der Europäischen Union zu
reduzieren. Der Verordnungsentwurf ist vor allem auf wirtschaftliche Belange
ausgerichtet, allen voran auf die Ausweitung der Kapazitäten an europäischen
Flughäfen. Die Verbesserung des Lärmschutzes spielt dabei nur eine untergeord-
nete Rolle. Zudem steht der durch die Regelungen des Verordnungsvorschlags
verursachte Aufwand in keinem angemessenen Verhältnis zu dem zu erwarten-
den Erfolg.
II. Der Deutsche Bundestag fordert daher die Bundesregierung auf,

sich für eine grundsätzliche Überarbeitung des Verordnungsvorschlags für lärm-
bedingte Betriebsbeschränkungen auf Flughäfen der Union einzusetzen und im
Rahmen der laufenden Verhandlungen auf Ratsebene als wesentliche Belange
im Sinne des § 9 Absatz 4 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundes-

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regierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen
Union durchzusetzen, dass

• zur Lärmminderung die wirksamsten und nicht die kosteneffizientesten Maß-
nahmen bzw. Maßnahmenkombinationen ausgewählt werden können,

• Betriebsbeschränkungen als bevorzugtes Mittel zur Lösung von Lärmkon-
flikten ausgewählt werden können und nicht als „letztes Mittel der Wahl“,

• bei der Abwägung der unterschiedlichen Belange der Gesundheit der durch
Fluglärm betroffenen Bürgerinnen und Bürger, insbesondere in der Nacht,
eine höhere Bedeutung beizumessen ist als den wirtschaftlichen und verkehr-
lichen Belangen,

• Schutzziele vorgegeben werden, ab denen Fluglärm als schädlich im Sinne
der Verordnung zu werten ist und entsprechenden Handlungsbedarf auslöst
(insbesondere europaweit gültige Grenzwerte für die Lärmpegel an Flug-
häfen),

• das nicht sachgerechte Kontroll- und Vetorecht durch die Europäische Kom-
mission auf ein vernünftiges Maß beschränkt wird.

Der Deutsche Bundestag fordert anderenfalls die Bundesregierung auf, im or-
dentlichen Gesetzgebungsverfahren den Vorschlag der Europäischen Kommis-
sion abzulehnen.

Darüber hinaus fordert der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf, sich
bei der Überarbeitung des Verordnungsvorschlags dafür einzusetzen, dass

1. im Rahmen der Überarbeitung des Verordnungsvorschlags klargestellt wird,
dass Maßnahmen zur Bewertung und Bekämpfung von Fluglärm an den ein-
zelnen Flughäfen der nach Artikel 3 benannten zuständigen Behörde oblie-
gen und dass Lärmminderungsmaßnahmen erforderlich werden, wenn die zu-
vor bewertete Lärmsituation die Durchführung entsprechender Maßnahmen
erfordert;

2. die für die Europäische Kommission vorgesehenen weitreichenden Kontroll-
befugnisse und die Befugnis zur Aussetzung von Betriebsbeschränkungen
gestrichen werden. Da damit Nachtflugbeschränkungen und -verbote im
Hinblick auf Kapazitätseinbußen und Wettbewerbsverzerrungen ausgesetzt
werden könnten und zeitliche Beschränkungen des Betriebs kaum noch
durchsetzbar wären;

3. lärmbedingte Betriebsbeschränkungen mindestens auf dem Niveau der be-
reits bestehenden Betriebsbeschränkungen angesetzt werden und die Mit-
gliedstaaten Handlungsspielraum für darüber hinausgehende Regelungen er-
halten. Es ist klarzustellen, dass bereits erlassene Betriebsbeschränkungen
bestehen bleiben, auch wenn sie nicht nur unwesentlich geändert werden
sollen;

4. keinesfalls mit dem Verweis auf den ECAC-Bericht (ECAC = Europäische
Zivilluftfahrt-Konferenz) Doc. 29 (aus dem Jahr 1997) ein weiteres Berech-
nungsverfahren im Vorgriff auf die fortzuschreibende Umgebungslärmricht-
linie eingeführt wird, da in Deutschland für die Lärmberechnungen im Zu-
sammenhang mit dem Gesetz zum Schutz gegen Fluglärm sowie zur
Umsetzung der Umgebungslärmrichtlinie bereits zwei verschiedene Berech-
nungsverfahren angewendet werden;

5. das komplizierte und langwierige Antragsverfahren zur Einführung von Be-
triebsbeschränkungen vereinfacht wird;

6. der Anwendungsbereich der Verordnung auf Flughäfen mit weniger als

50 000 Flugbewegungen pro Jahr ausgeweitet wird;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/8620

7. die Gruppe der „knapp die Vorschriften erfüllenden Luftfahrtzeuge“ deutlich
stärker ausgeweitet wird, so dass ein relevanter Anteil der heute lautesten
Flugzeuge erfasst wird;

8. die Möglichkeit erhalten bleibt, weiterhin Differenzierungen für den Abzug
bestimmter Luftfahrtzeuge vornehmen zu können, die über die Kategorien
der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation (ICAO) hinausgehen, um auf
die Bedürfnisse der einzelnen Flughafenstandorte spezifisch reagieren zu
können.

Berlin, den 7. Februar 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Der Text der Verordnung, insbesondere die Ablehnung der Betriebsbeschrän-
kungen als gleichberechtigtes Mittel zur Lärmreduzierung, lässt befürchten,
dass Kosteneffizienz, die Effizienz des Luftverkehrsnetzes und die Furcht vor
Wettbewerbsverzerrungen die allein ausschlaggebenden Argumente für Maß-
nahmen sind und nicht daneben auch der als klares Ziel definierte Schutz der be-
troffenen Bevölkerung vor Fluglärm.

Nach Auffassung der Europäischen Kommission stehen Europas Flughäfen vor
einer Kapazitätskrise. Bis zum Jahr 2030 wird mit einer Verdoppelung des Luft-
verkehrsvolumens in Europa gerechnet. Es wird davon ausgegangen, dass ein
großer Teil dieser Nachfrage mangels Flughafenkapazität nicht gedeckt werden
kann. Aus diesem Grund vertritt die Europäische Kommission die Auffassung,
dass lärmbedingte Betriebsbeschränkungen zu unerwünschten Begleiterschei-
nungen auf die Kapazität führen. Es ist daher zu befürchten, dass mit der Ver-
ordnung angestrebt wird, lärmbedingte Betriebsbeschränkungen zu reduzieren
und gleichzeitig einheitlich auf europäischer Ebene zu regeln.

Nach der Definition in dem Verordnungsvorschlag ist eine „Lärmminderungs-
maßnahme“ jede Maßnahme, die sich auf die Lärmsituation in der Umgebung
von Flughäfen auswirkt und für die die Grundsätze des „ausgewogenen Ansat-
zes“ der ICAO gelten. Für Betriebsbeschränkungen sieht der Verordnungsvor-
schlag vor, dass sie nur als letztes Mittel der Lärmminderung ergriffen werden
dürfen. Die Praxis zeigt jedoch, dass Betriebseinschränkungen (z. B. Nachtflug-
verbot) das erste Mittel der Wahl sind, um die Nachbarschaft und die betroffenen
Regionen schnell und wirkungsvoll vor Fluglärm zu schützen.

Für die Fluglärmbetroffenen in der Umgebung von Flughäfen hätte die Verord-
nungsregelung erhebliche negative Auswirkungen. Denn insbesondere bleibt
unklar, wie mit bereits erlassenen Betriebsbeschränkungen verfahren wird, wenn
sie nicht nur unwesentlich (vgl. Artikel 5 Absatz 5) geändert werden sollen.
Neue Betriebsbeschränkungen sind der Europäischen Kommission vor ihrer An-
wendung nach den Artikeln 7 und 10 zur Kenntnis bzw. zur Prüfung vorzulegen.
Im Falle ihrer Änderung könnte die Europäische Kommission die Betriebsbe-
schränkungen künftig ggf. aussetzen und eine Änderung verlangen. Damit kön-
nen faktisch alle Nachtflugbeschränkungen und -verbote von den betroffenen
Flughafenbetreibern mit Erfolg beklagt werden. Eine zukünftige Ausweitung
von Nachtflugverboten oder Flugbetriebsbeschränkungen in schützenswerten

Drucksache 17/8620 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Zeiten wäre damit ausgeschlossen. Bisherige akzeptierte Lärmminderungsmaß-
nahmen könnten somit wieder aufgehoben werden.

Der Verordnungsvorschlag enthält keinerlei Vorgaben, wann Fluglärm als (ge-
sundheits-)schädlich i. S. d. Verordnung zu werten ist und entsprechenden
Handlungsbedarf auslöst. Die Definition von Zielwerten für die Lärmpegel an
Flughäfen bzw. des „Lärmminderungsziels“, wie in Artikel 4 Absatz 1 Buch-
stabe b gefordert, kann nicht den einzelnen Mitgliedstaaten und einer Einzelfall-
betrachtung jedes in Frage kommenden Flughafens überlassen werden. Auch
mit Blick auf die in Artikel 5 Absatz 3 geforderte regelmäßige Bewertung der
Lärmsituation wird eine eigene nationale Definition benötigt.

Durch die detaillierte, mehrstufige und langwierige Regelung zur Einführung
von Betriebsbeschränkungen, die der Verordnungstext vorsieht, kann es zu gro-
ßen Zeitverzögerungen, wenn nicht gar zur Vermeidung von Beschränkungen
auf Grund der Komplexität dieses Verfahrens kommen.

Nach Artikel 3 sollen die Mitgliedstaaten nicht nur eine für den Erlass von
Betriebsbeschränkungen zuständige Behörde, sondern auch eine unabhängige
Beschwerdestelle einrichten. Der Bundestag hält die Einrichtung einer Be-
schwerdestelle nicht für erforderlich. Der Aufbau unnötiger Bürokratie und Ver-
waltungsebenen sollte vermieden werden. Neben der Europäischen Kommis-
sion nach § 32b des Luftverkehrsgesetzes sind an vielen Verkehrsflughäfen in
Deutschland Fluglärmschutzbeauftragte bestellt, die auch die Aufgabe einer
Beschwerdestelle wahrnehmen. Daher besteht weder ein Bedürfnis für die in
Artikel 3 geforderte Beschwerdestelle noch für das in Artikel 5 Absatz 4
beschriebene weitere Gremium. Zudem ist es jedem Bürger freigestellt, sich im
Beschwerdefall an die für die Überwachung des Flughafens zuständige Behörde
oder den Petitionsausschuss beim Landtag als unabhängiges Gremium zu wen-
den. Statt unnötige Bürokratie und Verwaltungsebenen zu schaffen, sollte der
wirksame Einsatz bestehender Instrumente gestärkt werden.

Bei der Bewertung von Betriebsbeschränkungen sollen neben den Anforderungen
an die Gesundheit der Flughafenanwohner auch die Kosteneffizienz und die
Auswirkungen auf die Luftverkehrskapazität umfangreiche Berücksichtigung
erfahren. Dabei lässt der Verordnungsvorschlag offen, wie die Kosteneffizienz
zu ermitteln ist und was einer durch die Betriebsbeschränkungen verursachten
Kostensteigerung des Luftverkehrs gegengerechnet werden darf. Denkbar wäre
hier z. B. eine Verrechnung mit lärmbedingten Gesundheitskosten oder mit dem
möglichen Wertverlust von Immobilien. Anhang II des Verordnungsvorschlags
benennt keine konkreten Maßstäbe.

Grundsätzlich zu begrüßen ist die erleichterte Möglichkeit, besonders laute
Flugzeuge außer Dienst zu stellen. Diese Anpassung der Eingriffsschwellen auf
die aktuell lautesten Luftfahrzeuge war dringend erforderlich. Allerdings ist die
Aktualisierung der veralteten Definition für „knapp die Vorschriften erfüllende
Luftfahrzeuge“ so eng gefasst, dass nur ein ganz geringer Anteil der aktuell ein-
gesetzten Flugzeugflotte unter diese Gruppe fällt und die Maßnahmen hierdurch
nur viel zu geringe Lärmminderungswirkung entfalten können.

Eine Analyse des Umweltbundesamtes kam beispielsweise zu dem Ergebnis,
dass mit der Neuregelung zwar die Luftfahrzeugbaumuster DC 103 sowie
MD 83 erfasst wären, nicht jedoch die immer noch häufig eingesetzten Muster
B 747-400 oder MD 11. Der Verordnungsentwurf bietet damit nur ganz geringe
Anreize für eine Verbesserung der technischen Ausstattung heutiger Flugzeuge
und zementiert dadurch weiterhin den Status quo. Das Ziel, dem technischen
Fortschritt durch die Ausweitung der bisherigen Regelung Rechnung zu tragen,
wird mit der aktuellen Anpassung nicht erreicht.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/8620

Differenzierungen für den Abzug bestimmter Luftfahrtzeuge, die über die Kate-
gorien der ICAO hinausgehen, müssen möglich bleiben, um auf die Bedürfnisse
der einzelnen Flughafenstandorte spezifisch reagieren zu können.

Der Anwendungsbereich des neuen Verordnungsentwurfs ist sehr einge-
schränkt, da er lediglich Flughäfen mit mehr als 50 000 Flugbewegungen im
Jahr einbezieht. Für eine effektive Anwendung der Verordnung ist eine Auswei-
tung des Anwendungsbereichs erforderlich.

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