BT-Drucksache 17/8580

Die Soziale Dimension von Bologna stärken

Vom 7. Februar 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8580
17. Wahlperiode 07. 02. 2012

Antrag
der Abgeordneten Ulla Burchardt, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Willi Brase,
Petra Ernstberger, Michael Gerdes, Iris Gleicke, Klaus Hagemann, Petra Hinz
(Essen), Oliver Kaczmarek, Ute Kumpf, Thomas Oppermann, Florian Pronold,
René Röspel, Marianne Schieder (Schwandorf), Swen Schulz (Spandau),
Dagmar Ziegler, Dr. Hans-Peter Bartels, Klaus Barthel, Christel Humme,
Daniela Kolbe (Leipzig), Andrea Wicklein, Dr. Frank-Walter Steinmeier und der
Fraktion der SPD

Die soziale Dimension von Bologna stärken

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Im Londoner Communiqué 2007 wurde auf Drängen von Studierenden und Ge-
werkschaften die soziale Dimension als weiteres und notwendiges Ziel des
Bologna-Prozesses zwischen den beteiligten Hochschulministern verabredet:
„Wir teilen den gesellschaftlichen Anspruch, dass die Studierenden bei ihrem
Eintritt in die Hochschule, mit ihrer Beteiligung und bei Abschluss der Hoch-
schulbildung auf allen Ebenen die Zusammensetzung der Bevölkerung wider-
spiegeln sollte. Wir bekräftigen, dass es wichtig ist, dass Studierende ihr Stu-
dium ungehindert durch ihre sozialen oder wirtschaftlichen Voraussetzungen
abschließen können.“

Bund und Länder tragen hierfür eine gemeinsame Verantwortung. Beide wer-
den dieser nur gerecht, indem sie zusätzliche Finanzmittel für Bildungsinvesti-
tionen sowie für die individuelle Bildungsförderung zur Verfügung stellen, um
Chancengleichheit auszubauen und die sozialen Hürden zum sowie die im Stu-
dium zu senken. Zur sozialen Dimension zählen dann auch die Sicherung in
den vorgesehenen Zeiten studierbarer Lehrpläne sowie angemessener Arbeits-
und Prüfungsbelastungen für die Studierenden. Der Bund und vor allem die
Länder und Hochschulen haben sich im Zuge der Bildungsproteste 2010 auf die
Überarbeitung der ländergemeinsamen Vorgaben sowie der Studiengänge und
Prüfungsregelungen verpflichtet.

Zur sozialen Dimension gehören zudem die sozialen Rahmenbedingungen
eines Studiums jenseits der Seminare und Vorlesungen. Günstiges, studienort-
nahes Wohnen, gutes bezahlbares Essen, eine qualifizierte Studienberatung und
-betreuung und auch weitere studienbezogene Dienste und Serviceleistungen

tragen erheblich zu einem zügigen und fokussierten Studium bei. Deshalb müs-
sen zusätzliche Gestaltungsspielräume dazu genutzt werden, um den erfreu-
licherweise wachsenden Studierendenzahlen auch vor Ort gute, für das Stu-
dium förderliche soziale Rahmenbedingungen mit entsprechender Infrastruktur
anbieten zu können. Dies ist gerade jetzt ein Gebot der Stunde, da auch nach
den doppelten Abiturjahrgängen und der Aussetzung der Wehrpflicht allein die

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steigende Studienneigung und Studiennachfrage im In- wie aus dem Ausland
auch in den kommenden Jahren zu einer eher wachsenden Studiennachfrage so-
wie entsprechend anhaltend hohen Studierendenzahlen führen werden.

Experten gehen bereits für das Wintersemester 2011/2012 von bis zu 500 000
Studienanfängern aus. Diese Studienplatznachfrage stellt eine große Chance für
unser Land dar. Mit ihm kann der volkswirtschaftlich hohe Bedarf an Hochqua-
lifizierten gedeckt und einem drohenden Fachkräftemangel in den nächsten
Jahren vorgebeugt werden. Mit der steigenden Studienplatznachfrage wächst
eben aber auch der Bedarf an einer flankierenden sozialen Infrastruktur des
Studiums an den Hochschulen. Die soziale Infrastruktur des Studiums blieb
aber in den Hochschulpakten bislang unberücksichtigt, obwohl der Deutsche
Bundestag in seiner Entschließung vom 29. März 2007 auf Bundestagsdruck-
sache 16/4563 die Erwartung an die Länder geäußert hatte, „die Leistungs-
fähigkeit der Studentenwerke zu erhöhen und auch die sozialen Voraussetzun-
gen für eine deutlich höhere Zahl von Studienanfängern, z. B. im Bereich der
Wohnraumversorgung, rechtzeitig zu schaffen“.

Die Studentenwerke tragen mit ihrer Arbeit dazu bei, die soziale Infrastruktur
an den Hochschulen zu unterhalten. In einem ersten Schritt geht es daher da-
rum, dessen Leistungsfähigkeit zu erhöhen. Aber auch die Hochschulen tragen
im Bereich der sozialen Dimension Verantwortung, indem sie die Organisation
am Fachbereich sowie die Lehr- und Prüfungsordnungen festlegen und die bau-
lichen Gegebenheiten Vorort bestimmen. Studierende mit Kind oder Studie-
rende mit körperlichen Einschränkungen sind von diesen Entscheidungen in
Hinblick auf die Machbarkeit ihres Studiums nachdrücklich betroffen.

Die Finanzierung der Studentenwerke speist sich aus unterschiedlichen Quel-
len: Semesterbeiträgen der Studierenden, Einnahmen aus Essensverkäufen der
Mensen und Mieteinnahmen und Länderzuschüssen. Allerdings waren die Län-
derzuschüsse in den letzten zwei Jahrzehnten an die Studentenwerke stark
rückläufig und sanken von 24 Prozent Anfang der 90er-Jahre auf rund 10 Pro-
zent im Jahr 2010. Einzelne Länder, wie z. B. Nordrhein-Westfalen und Rhein-
land-Pfalz, kehren diesen Trend nun um.

Die Ergebnisse, sowohl des kürzlich vorgestellten 11. Studierendensurveys „Stu-
diensituation und studentische Orientierungen“ als auch der 19. Sozialerhebung
zur wirtschaftlichen und sozialen Lage der Studierenden der Bundesrepublik
Deutschland 2009, beide vom Deutschen Studentenwerk e. V. verantwortet, be-
legen die steigende Nachfrage der Studierenden nach bezahlbarem Wohnraum,
nach psychologischer und sozialer Beratung, nach Kinderbetreuungsangeboten
und nach Serviceleistungen.

Bezahlbarer, campusnaher Wohnraum wird zunehmend knapper. Derzeit wer-
den rund 80 Prozent der 225 000 öffentlich geförderten Wohnheimplätzen an
deutschen Hochschulen von den Studentenwerken unterhalten, die anderen ste-
hen unter der Verwaltung von kirchlichen und privaten Trägern. Das reicht aber
nicht aus, den Studierenden ein bedarfsgerechtes und angemessenes Angebot
machen zu können.

Auch im Bereich der Service- und Beratungsangebote gibt es Handlungsbedarf:
Vor allem jüngere Studierende, die aufgrund der verkürzten Schulzeit und des
Aussetzens der Wehrpflicht verstärkt an die Hochschulen drängen werden,
benötigen im höherem Maße diese Angebote. Aktuelle Studien zeigen, dass
mittlerweile jeder zweite Studierende Befürchtungen hat, den Belastungen
eines Studiums nicht gewachsen zu sein. Zunehmende Versagens- und Prü-
fungsängste und die wachsende Stresswahrnehmung im Studium lassen sich
auch daran ablesen, dass seit 2007 die Zahl der psychologischen Beratungen
um ein Viertel gestiegen ist.

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Die Kapazitäten der Beratungsangebote zur Studienfinanzierung und der sozia-
len Beratungsangebote müssen ebenfalls im Hinblick auf den Studierenden-
ansturm erweitert werden. 22 Prozent der Erstsemester nutzen beispielsweise
Beratungsangebote zur Studienfinanzierung. Vor dem Hintergrund, dass 5 Pro-
zent der Studierenden Eltern sind, wird auch der Rat im Bezug auf Vereinbar-
keit von Studium und Familie zunehmend nachgefragt.

Für die Studierenden mit Kind besteht naturgemäß oftmals das Problem der
Kinderbetreuung während der Studienzeiten. Für viele, oft alleinerziehende
Elternteile, sind Kinderbetreuungsangebote Voraussetzung für die Aufnahme
oder erfolgreiche Bewältigung eines Studiums. Befragungen unter Studierenden
mit Kind zeigen, dass derzeit ein Drittel der Betroffenen Probleme bei der ver-
lässlichen Kinderbetreuung mit entsprechenden nachteiligen Studienauswirkun-
gen haben. Über die Hälfte der Kinder von Studierenden sind zudem unter fünf
Jahre alt. Aktuell bietet das Deutsche Studentenwerk e. V. in rund 221 Kinder-
tagesstätten etwa 7 300 Kinderbetreuungsplätze ab der Geburt an, was einen
Anteil von 0,3 Prozent an allen Studierenden entspricht.

Auch im Bereich der Serviceeinrichtungen bedarf es Verbesserungen. Laut der
19. Sozialerhebung ist beispielsweise der Bedarf an Hochschulgastronomie
sehr hoch. 85 Prozent der Studierenden besuchen die Mensen, 41 Prozent sind
sogar Stammgäste, die mindestens dreimal pro Woche dort essen. Insbesondere
jüngere Studierende und Bewohner von Wohnheimen zählen zu den regelmäßi-
gen Gästen der Mensen. Zurzeit kommen nur elf Tischplätze auf 100 Studie-
rende bei rund 820 Einrichtungen.

Ein weiterer Aspekt ist der Themenbereich Studium mit Behinderung. Zwar gab
es in den letzten Jahren eine Vielzahl von Verbesserungen auf diesem Feld, trotz-
dem müssen weiterhin existierende soziale und bauliche Barrieren abgebaut
werden. Das Hochschulstudium muss für Menschen mit Behinderung ohne
bürokratische Hemmnisse ermöglicht werden. Bildungsfinanzierung, Assistenz
und technische Hilfsmittel müssen generell zielgerichtet und ausreichend sein.

Um den Studienerfolg nachhaltig zu sichern, müssen die zusätzlichen Studien-
plätze über die Hochschulpakte von Investitionen in die soziale Infrastruktur
flankiert werden. Eine gute soziale Infrastruktur trägt zum Profil und zur inter-
nationalen Reputation der Hochschulen sowie des Wissenschaftsstandorts
Deutschland bei.

Die Bundesregierung ist nun in der Verantwortung, wie bei den Hochschulpak-
ten zum Studienplatzausbau gemeinsam mit den Ländern auch für einen paral-
lelen bedarfsgerechten Ausbau der sozialen Infrastruktur zu sorgen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die verfassungsrechtlichen Voraus-
setzungen dafür schafft, dass Bund und Länder bei der Sicherung und Wei-
terentwicklung der sozialen Infrastruktur an den Hochschulen einfacher zu-
sammenwirken können, indem das Kooperationsverbot gestrichen wird;

2. gemeinsam mit den Ländern zusätzliche Finanzmittel für Bildungsinvesti-
tionen und für die individuelle Bildungsförderung bereitzustellen und einen
Gesetzentwurf zur Erhöhung der Bedarfssätze nach dem Bundesausbildungs-
förderungsgesetz (BAföG) und insbesondere der Freibeträge vorzulegen;

3. mit den Ländern und ergänzend zum Hochschulpakt zum Ausbau von Stu-
dienplatzkapazitäten einen Pakt zum Ausbau der sozialen Infrastruktur an
Hochschulen zu schließen (Hochschulsozialpakt);

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4. darauf hinzuwirken, dass als Kernbaustein des Hochschulsozialpakts Bund
und Länder vereinbaren, das Angebot an bezahlbaren, campusnahen und bar-
rierefreien Wohnheimplätzen, gemeinsam um 25 000 Plätze auszubauen, um
der bestehenden Unterversorgung an bezahlbarem Wohnraum entgegenzu-
wirken. Hierzu ist neben der Umnutzung leer stehenden Wohnraums insbe-
sondere auch ein Ausbauprogramm mit einem Investitionszuschuss in Höhe
von 25 000 Euro pro neuen Studentenwohnheimplatz zu prüfen. Als Beitrag
des Bundes zum Hochschulsozialpakt beteiligt sich der Bund hälftig an die-
sen Zuschusskosten;

5. darauf hinzuwirken, dass als weiterer Baustein des Hochschulsozialpakts
sich die Länder verpflichten, gemeinsam mit den Studentenwerken folgende
Punkte zu vereinbaren:

– Um die Beratungsangebote zu verbessern, erhalten die Studentenwerke
10 Prozent mehr Finanzmittel für Personalkosten. Damit soll dem stei-
genden Bedarfen nach zusätzlichem Personal in den unterschiedlichen
Beratungsstellen sowie den BAföG-Ämtern Rechnung getragen werden.

– In Anbetracht der Rekordstudierendenzahlen ist der Ausbau der Hoch-
schulgastronomie zu unterstützen, so dass die Kapazitäten der Einrich-
tungen um 10 Prozent gesteigert werden können.

– Zur besseren Vereinbarkeit von Studium und Familie ist der Ausbau der
Kinderbetreuungsangebote zu fördern. Die Versorgungsquote der vom
Deutschen Studentenwerk e. V. unterhaltenen Kinderbetreuungsangebote
ist hierbei auf 1 Prozent der Studierenden zu steigern.

– Die Verbesserung der Lernbedingungen für Menschen mit Behinderung
ist weiter voranzutreiben, so dass die Hochschulen zügig Fortschritte auf
dem Weg zu barrierefreie Einrichtungen erzielen können. Hierzu zählt
u. a. der Ausbau der behindertengerechten Infrastruktur (z. B. rollstuhl-
gerechte Räumlichkeiten, behindertengerechte Sanitäranlagen, Behinder-
tenparkplätze, Ruheräume) sowie die Ergänzung und Finanzierung von
Assistenzleistungen.

– Zur Finanzierung dieses zweiten Bausteins ist eine Erhöhung der Zu-
schüsse an die Studentenwerke unabdingbar. Sie müssen ihre Gestal-
tungsfähigkeit im Sinne der genannten Ziele zurückgewinnen;

6. angesichts der offenkundigen hohen zusätzlichen Bedarfe für die Verbesse-
rung der sozialen Infrastrukturen die anhaltende ineffiziente Mittelverwen-
dung im Bundesministerium für Bildung und Forschung, die bereits mehr-
fach zum ersatzlosen Wegfall von Bildungs- und Forschungsmitteln geführt
haben, umgehend abzustellen. Die Bundesregierung wird aufgefordert, zu
prüfen, welche Möglichkeiten bestehen oder geschaffen werden müssen, um
dennoch anfallende Ausgabenreste im Bundeshaushalt für Bildung und For-
schung künftig zu sichern und für unterfinanzierte oder auch neue sinnvolle
Projekte, wie hier die Verbesserung der sozialen Infrastrukturen, verwenden
zu können.

Berlin, den 7. Februar 2012

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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