BT-Drucksache 17/8502

Haltung der Bundesregierung zur Berufsverbotspraxis

Vom 25. Januar 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8502
17. Wahlperiode 25. 01. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Herbert Behrens, Wolfgang Gehrcke,
Dr. Rosemarie Hein, Dr. Lukrezia Jochimsen, Petra Pau, Raju Sharma,
Halina Wawzyniak, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Haltung der Bundesregierung zur Berufsverbotspraxis

Vor 40 Jahren, am 28. Januar 1972, beschloss die Ministerpräsidentenkonferenz
von Bund und Ländern unter dem Vorsitz von Bundeskanzler Willy Brandt
(SPD) den sogenannten Radikalenerlass. „Personen, die nicht die Gewähr bie-
ten, jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten“,
sollten aus dem öffentlichen Dienst ferngehalten bzw. entlassen werden. Mit
einer „Regelanfrage“ wurden Bewerberinnen und Bewerber zum öffentlichen
Dienst vom Verfassungsschutz auf politische Zuverlässigkeit überprüft. Formell
war der Erlass gegen „Links- und Rechtsextremisten“ gerichtet, doch in der
Praxis waren vor allem Mitglieder der Deutschen Kommunistischen Partei
(DKP) und anderer linker Gruppierungen bis hin zu SPD-nahen Studierenden-
verbänden, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes VVN-BdA und von
Teilen der Friedensbewegung betroffen.

Per Regelanfrage wurden etwa 3,5 Millionen Bewerberinnen und Bewerber
bzw. Anwärterinnen und Anwärter des öffentlichen Dienstes vom Verfassungs-
schutz auf ihre politische Zuverlässigkeit durchleuchtet. Betroffen waren Lehr-
kräfte und Lehramtsanwärterinnen und -anwärter, Sozialarbeiterinnen und -arbei-
ter, Juristinnen und Juristen, Post- und Bahnbedienstete. Es kam zu 11 000 offi-
ziellen Berufsverbotsverfahren, 2 200 Disziplinarverfahren, 1 250 Ablehnungen
von Bewerbern und 265 Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst. Diese
Angaben machte die Bundesregierung gegenüber der Internationalen Arbeits-
organisation (ILO), die 1987 die Berufsverbotspraxis verurteilt hatte. Andere
Zahlen liegen nicht vor, von einer hohen Dunkelziffer ist auszugehen.

Die existentielle Bedrohung der Verweigerung des erlernten oder bereits aus-
geübten Berufs durch den Radikalenerlass bewirkte nach Meinung von Kriti-
kern dieser Praxis zudem die Einschüchterung systemkritisch eingestellter Per-
sonen.

Aufgrund massiver in- und ausländischer Kritik an der innerhalb der Europäi-
schen Gemeinschaft einmaligen Berufsverbotspraxis stellte der Bund im Jahr
1979 die Regelanfrage beim Verfassungsschutz über Bewerberinnen und Be-

werber zum öffentlichen Dienst ein. Die Länder folgten nach, zuletzt Bayern
1991. Die Möglichkeit von Berufsverboten wurde mit dem Ende der Regel-
anfrage nicht vollständig abgeschafft. Bis heute kann eine Bedarfsanfrage beim
Verfassungsschutz erfolgen, wenn Zweifel bestehen, ob ein Bewerber oder eine
Bewerberin für den öffentlichen Dienst jederzeit für die freiheitlich-demokra-
tische Grundordnung eintreten wird. In Bayern wird seit 1991 jeder Bewerber
zum Staatsdienst in einem Fragebogen zur möglichen Mitgliedschaft in einer

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verfassungsfeindlichen Organisation oder früheren Funktionärstätigkeit in einer
Massenorganisation der DDR befragt. 2004 wurde der Heidelberger Realschul-
lehrer Michael C. in Baden-Württemberg und Hessen mit einem Berufsverbot
belegt, weil er sich in antifaschistischen Gruppen engagierte. Erst 2007 wurde
seine Ablehnung für den Schuldienst endgültig gerichtlich für unrechtmäßig er-
klärt.

Alt-Bundeskanzler Willy Brandt bezeichnete den Radikalenerlass im Nach-
hinein als „Irrtum“. Im Jahr 1995 entschied der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte (EGMR) in Straßburg, dass der Radikalenerlass gegen die
Menschenrechte der Meinungsfreiheit und Koalitionsfreiheit sowie gegen das
Prinzip der Verhältnismäßigkeit verstoßen habe (Urteil des EGMR im Fall
D. Vogt vom 26. September 1995). Seit 2006 gilt das Allgemeine Gleichbehand-
lungsgesetz (AGG), das eine Diskriminierung wegen politischer Überzeugun-
gen verbietet. Dagegen erklärte die Bundesregierung im Jahr 2007 in ihrer Ant-
wort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE., dass sie Berufsverbote
für politisch unliebsame Bewerber im öffentlichen Dienst weiterhin für gerecht-
fertigt hält (Bundestagsdrucksache16/6210).

„Der ‚Radikalenerlass‘ und die ihn stützende Rechtsprechung bleiben ein juris-
tisches, politisches und menschliches Unrecht“, heißt es in einem von 130 Be-
troffenen (Stand 9. Januar 2012) unterzeichneten Aufruf an die Verantwort-
lichen in Verwaltung und Justiz, in Bund und Ländern zur vollständigen Reha-
bilitierung der Berufsverbotsopfer. „Die Bespitzelung kritischer politischer
Opposition muss ein Ende haben. Wir fordern die Herausgabe und Vernichtung
der ‚Verfassungsschutz‘-Akten, wir verlangen die Aufhebung der diskriminie-
renden Urteile und eine materielle Entschädigung der Betroffenen.“ (www.
berufsverbote.de)

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Verfügt die Bundesregierung über genaue Zahlen des Ausmaßes der Über-
prüfungen aufgrund des Radikalenerlasses und der daraus erfolgten Berufs-
verbote?

a) Wie viele Bewerberinnen und Bewerber für den öffentlichen Dienst wur-
den zwischen dem Beschluss zur Einführung des Radikalenerlasses 1972
und der Einstellung der Regelanfrage durch den Bund 1979 durch eine
Regelanfrage beim Verfassungsschutz überprüft?

b) Wie viele Bewerberinnen und Bewerber für den öffentlichen Dienst wur-
den nach der Einstellung der Regelanfrage durch den Bund 1979 durch
eine Bedarfsanfrage beim Verfassungsschutz überprüft?

c) Wie viele Berufsverbotsverfahren wurden seit der Einführung des Radi-
kalenerlasses auf Bundes- und Länderebene durchgeführt (bitte nach Jah-
ren, Bund und Ländern sowie Teilbereichen des öffentlichen Dienstes auf-
gliedern)?

d) Wie viele Berufsverbote gegen Bewerberinnen und Bewerber im öffent-
lichen Dienst erfolgten seit der Einführung des Radikalenerlasses auf
Bundes- und Länderebene (bitte nach Jahren, Bund und Ländern sowie
Teilbereichen des öffentlichen Dienstes aufgliedern und angeben, ob die
Ablehnung aufgrund einer rechts- oder linksgerichteten politischen Orien-
tierung der Bewerberinnen und Bewerber erfolgte)?

e) Wie viele Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst erfolgten seit der Ein-
führung des Radikalenerlasses auf Bundes- und Länderebene aufgrund
politischer Unzuverlässigkeit (bitte nach Jahren, Bund und Ländern sowie
Teilbereichen des öffentlichen Dienstes aufgliedern und angeben, ob die

Ablehnung aufgrund einer rechts- oder linksgerichteten politischen Orien-
tierung der Bewerberinnen und Bewerber erfolgte)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/8502

f) In wie vielen Fällen wurden früher abgewiesene Anwärterinnen und An-
wärter und aus dem Beamtenverhältnis Entlassene nach der Abschaffung
der Radikalenerlasse auf Bundes- und Länderebene doch noch oder wie-
der in den öffentlichen Dienst übernommen (bitte nach Jahren, Bund und
Ländern sowie Teilbereichen des öffentlichen Dienstes aufgliedern)?

2. Inwieweit teilt die Bundesregierung heute die Auffassung des früheren Bun-
deskanzlers Willy Brandt, wonach der 1972 unter seiner Kanzlerschaft erlas-
sene Radikalenerlass ein „Irrtum“ gewesen sei (bitte begründen)?

3. Wie bewertet die Bundesregierung das Urteil des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte vom 26. September 1995 bezüglich des Falls von
D. Vogt, wonach der Radikalenerlass gegen elementare Menschenrechte
verstoßen habe?

a) Inwieweit ist die Bundesregierung bereit, den Radikalenerlass als Un-
recht zu bezeichnen?

b) Welche politischen Konsequenzen hat die Bundesregierung aus diesem
Urteil im Hinblick auf andere von Berufsverboten betroffene Personen
gezogen?

c) Wie bewertet die Bundesregierung diese Maßnahmen?

d) Welche Maßnahmen wurden aufgrund dieses Urteils von den Bundes-
ländern getroffen?

e) Warum hält die Bundesregierung es bislang nicht für erforderlich, nach
diesem Urteil eine Initiative zur ersatzlosen Streichung der am 17. Januar
1979 neugefassten Grundsätze für die Prüfung der Verfassungstreue zu
ergreifen und den Ländern Entsprechendes für deren Verantwortungs-
bereich zu empfehlen?

f) Inwieweit plant die Bundesregierung, in der laufenden Legislaturperiode
eine entsprechende Initiative zur ersatzlosen Streichung der am 17. Ja-
nuar 1979 neugefassten Grundsätze für die Prüfung der Verfassungstreue
zu ergreifen?

4. Inwieweit sieht die Bundesregierung die am 17. Januar 1979 neugefassten
Grundsätze für die Prüfung der Verfassungstreue im Einklang mit dem seit
2006 gültigen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das eine Dis-
kriminierung wegen politischer Überzeugung verbietet?

5. Welche Regelungen, die zu einer Verweigerung der Übernahme in den Schul-
dienst bzw. öffentlichen Dienst führen können, bestehen nach Kenntnis der
Bundesregierung in den einzelnen Bundesländern (bitte für die Länder ein-
zeln aufschlüsseln)?

6. Ist die Bundesregierung bereit, die Initiative zu einem Wiedergutmachungs-
und Rehabilitierungsgesetz zu ergreifen oder eine solche Initiative zu unter-
stützen, um alle von der Berufsverbotspraxis Betroffenen juristisch, poli-
tisch und persönlich zu rehabilitieren und materiell zu entschädigen?

Wenn ja, wann, und in welcher Form?

Wenn nein, warum nicht, und auf welche Weise sollen die Betroffenen an-
sonsten eine Entschädigung erhalten?

7. Inwieweit sind den von der Berufsverbotspraxis Betroffenen bislang Scha-
denersatz und weitergehende Ausgleichsleistungen für berufliche Benachtei-
ligungen (z. B. bei der Rentenversicherung) gewährt worden?

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8. Inwieweit sind die in Verbindung mit dem Berufungsverfahren angelegten
Dossiers nach Kenntnis der Bundesregierung weiterhin in Verfassungs-
schutz- und Personalakten enthalten?

a) Welche Nachteile können den Betroffenen daraus entstehen?

b) Inwieweit ist die Bundesregierung bereit, die Initiative für eine Lösung
bzw. Entfernung der entsprechenden Dossiers zu ergreifen?

c) Inwieweit hält es die Bundesregierung für wünschenswert, die auf dem
Radikalenerlass beruhenden Akten im Bundesarchiv zu erschließen und
den Betroffenen und der Wissenschaft zugänglich zu machen?

9. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über eine Verweigerung der
Aufnahme in den öffentlichen Dienst von Bund und Ländern oder die Ent-
fernung aus selbigem aufgrund früherer Aktivitäten des Bewerbers/der Be-
werberin in Massenorganisationen oder Organen der DDR?

Berlin, den 25. Januar 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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