BT-Drucksache 17/8459

Erosion der Tarifvertragssysteme stoppen - Sicherung der Allgemeinverbindlichkeitsregelung von Tarifverträgen

Vom 24. Januar 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8459
17. Wahlperiode 24. 01. 2012

Antrag
der Abgeordneten Anette Kramme, Ottmar Schreiner, Josip Juratovic,
Anton Schaaf, Petra Ernstberger, Iris Gleicke, Hubertus Heil (Peine),
Gabriele Hiller-Ohm, Petra Hinz (Essen), Angelika Krüger-Leißner, Ute Kumpf,
Gabriele Lösekrug-Möller, Katja Mast, Thomas Oppermann, Stefan Rebmann,
Silvia Schmidt (Eisleben), Dr. Frank-Walter Steinmeier und der Fraktion der SPD

Erosion der Tarifvertragssysteme stoppen – Sicherung der
Allgemeinverbindlichkeitsregelung von Tarifverträgen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) kann Tarifverträge
auf Antrag der Tarifparteien für allgemeinverbindlich erklären, wenn zwei Vor-
aussetzungen erfüllt sind. Erstens stellt das Bundesministerium ein öffentliches
Interesse an dem Tarifvertrag fest. Zweitens beschäftigen die tarifgebundenen
Arbeitgeber mindestens die Hälfte aller unter den Geltungsbereich des Tarifver-
trages fallenden Personen (50-Prozent-Quorum).

Die Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) ist seit langem fester Bestandteil des
europäischen und des deutschen Sozialmodells. Der Vertrag über die Arbeits-
weise der Europäischen Union (AEUV) ermächtigt die Mitgliedstaaten, den Ta-
rifparteien die Durchführung von EU-Richtlinien durch allgemeinverbindliche
Tarifverträge zu übertragen (Artikel 153 Absatz 3 AEUV). Auf nationaler Ebene
ist die AVE ein unabdingliches ordnungs- und strukturpolitisches Instrument, um
in bestimmten (Teil-)Branchen und Regionen für verbindliche einheitliche Min-
destarbeitsbedingungen auf tariflicher Grundlage zu sorgen. Ohne AVE könnten
letztere nicht aufrechterhalten werden, was zu inakzeptablen sozialen Verwer-
fungen führen und der Aushöhlung der Grundwerte der sozialen Marktwirtschaft
Vorschub leisten würde. Zwar könnten verbindliche Arbeitsbedingungen auf
gesetzlichem Wege geschaffen werden, jedoch zählt gerade zum deutschen und
europäischen Verständnis der sozialen Marktwirtschaft, dass die Tarifvertrags-
parteien mit ihrem Sachverstand sowie ihrer ureigenen Legitimationskraft als
zivilgesellschaftliche Vertreter am besten geeignet sind, derartige Standards
eigenständig in Ausübung ihrer Tarifautonomie festzulegen. Dies vorausgesetzt
bedarf es folglich des Instrumentes der AVE.

Mit dem 50-Prozent-Quorum sieht das deutsche Recht eine Voraussetzung vor,

die immer schwerer zu erfüllen ist und in Zukunft kaum noch zu erfüllen sein
wird. Grund hierfür sind langfristige Trends wie die Entwicklung hin zur
Gültigkeit konkurrierender Tarifverträge innerhalb eines Betriebs und die sin-
kende Tarifbindung auf Arbeitgeberseite. Außerdem sinkt die Tarifbindung in
Deutschland seit den 90er-Jahren beständig und im Vergleich zu anderen euro-
päischen Staaten dramatisch. Während in Deutschland mit sinkender Tendenz
noch 63 Prozent aller Arbeitsverhältnisse von einer Tarifbindung erfasst sind,

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verfügen andere europäische Staaten über eine Abdeckung von 70 Prozent in
Portugal bis zu 99 Prozent in Österreich. Nur Großbritannien und Luxemburg
weisen eine niedrigere Tarifbindung auf als Deutschland. Wesentliche Erkennt-
nis eines Vergleichs der nationalen Regelungen ist: Die Stufe der Tarifbindung
hängt nicht vom gewerkschaftlichen Organisationsgrad ab, sondern von den ge-
setzlichen Rahmenbedingungen des nationalen Tarifvertragssystems. Die EU-
Mitgliedstaaten knüpfen die AVE an unterschiedliche Voraussetzungen, wobei
die Anforderungen in Deutschland am strengsten sind. Länder wie Frankreich
und Polen stellen ausschließlich auf die Repräsentativität der Gewerkschaften
ab. Länder wie die Niederlande, Spanien oder Belgien haben zusätzliche An-
forderungen an die Arbeitgeberverbände, wobei einzig die Niederlande mit
einer Quote von 55 Prozent eine ähnliche Hürde angesetzt haben, wie sie das
deutsche Recht vorsieht. Der europäische Vergleich zeigt, wie unverhältnis-
mäßig hoch die deutsche Hürde für die AVE ist.

Die gesetzlichen Rahmenbedingungen müssen so geändert und erweitert wer-
den, dass wieder deutlich mehr Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt
werden können. Nur so lässt sich der Ausbau der Flächentarife verbessern. Die
gegenwärtige Regelung lädt dazu ein, die Einhaltung der Voraussetzungen der
AVE bestehender Tarifverträge gerichtlich überprüfen zu lassen. Um zeitnah
Rechtssicherheit herzustellen, bedarf es zügig einer neuen Rechtsgrundlage.

Besonders relevant ist eine solide Neuregelung für die gemeinsamen Einrich-
tungen der Tarifvertragsparteien. Gemeinsame Einrichtungen – i. d. R. Sozial-
kassen – können ihre sozialstaatsnahen Leistungen branchenbezogen und
flächendeckend nur erbringen, wenn die Tarifverträge, die sie umsetzen, für all-
gemeinverbindlich erklärt werden. Ihre tariflichen Leistungen, wie die Auszah-
lung von Urlaubsgeld oder einer Rentenbeihilfe, finanzieren alle Arbeitgeber
der jeweiligen Branche gleichermaßen mittels Beiträgen. Die Sozialkassen ge-
währleisten die Zahlung der Leistungen an alle Arbeitnehmer der Branche.
Könnten sich einzelne Arbeitgeber und Arbeitnehmer diesem System entzie-
hen, wären die auf dem Grundsatz der Solidarität beruhenden Leistungen nicht
mehr finanzierbar. Zudem entstünden Wettbewerbsverzerrungen auf Arbeitge-
ber- und Arbeitnehmerseite. In der Konsequenz fielen u. a. Rentenbeihilfen
weg und die (Alters-)Armut nähme mittelfristig zu. Allgemein gilt: Nur die
AVE vermeidet, dass der Anreiz für Arbeitgeber geschaffen wird, finanziellen
Vorteil aus dem Fehlen eigener Tarifbindung oder aus der Beschäftigung nicht
tarifgebundener Arbeitnehmer zu ziehen.

Indem das Quorum lediglich auf der Tarifgebundenheit auf Arbeitgeberseite
basiert, verschiebt sich das Kräfteverhältnis zwischen Arbeitgeber- und Arbeit-
nehmerseite nachträglich und kraft Gesetzes zugunsten der Arbeitgeber. Die
Akzeptanz des Tarifvertrages im Arbeitnehmerlager bleibt bei der durch das
Quorum gezwungenermaßen gefragten Beurteilung des BMAS, ob ein Tarif-
vertrag für allgemeinverbindlich zu erklären ist, außen vor. Das heißt, unter
einer Vielzahl denkbarer Indikatoren, die offensichtlich eine validere Bewer-
tung der tatsächlichen Repräsentativität eines Tarifvertrages zuließen, sieht das
deutsche Recht mit dem 50-Prozent-Quorum einen Indikator vor, der zum
einen unverhältnismäßig hohe Hürden für die AVE schafft und zum anderen
das Kräfteverhältnis zugunsten des Arbeitgeberlagers in ungerechtfertigter
Weise verschiebt.

Die Schaffung einer neuen gesetzlichen Regelungsgrundlage der AVE ist un-
umgänglich, da staatliche Einflussmöglichkeiten umso notwendiger werden, je
mehr die Tarifbindung sinkt. In kontraproduktiver Weise schränkt folglich die
sinkende Tarifbindung – insbesondere auf Arbeitgeberseite – die staatlichen
Einflussmöglichkeiten stark ein, sobald die Voraussetzungen einer AVE nicht

mehr gegeben sind.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/8459

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

das Tarifvertragssystem zu reformieren und eine neue Rechtsgrundlage für die
AVE zu schaffen, um die Funktionsgrundlage des Tarifvertragssystems sicher-
zustellen. Dazu bedarf es folgender Maßnahmen:

1. Streichung des 50-Prozent-Quorums

§ 5 Absatz 1 Nummer 1 des Tarifvertragsgesetzes (TVG) wird reformiert:
Das 50-Prozent-Quorum entfällt und wird in Anlehnung an § 7 des Arbeit-
nehmer-Entsendegesetzes (AEntG) durch das Kriterium der Repräsentativi-
tät ersetzt.

2. Reform der Beschlussfassung

a) Der Tarifausschuss aus Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeit-
nehmer- und der Arbeitgeberorganisationen wird zusätzlich mit Vertre-
tern der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände der Branchen, die den
Tarifvertrag abgeschlossen haben, ergänzt.

b) Wenn sich der Tarifausschuss nach dem AEntG und dem Arbeitnehmer-
überlassungsgesetz (AÜG) mit erstmals gestellten Anträgen auf AVE be-
fassen muss, soll er zukünftig nur eine beratende Funktion ausüben (§ 7
Absatz 5 AEntG und § 3a Absatz 3 AÜG sind entsprechend abzuändern).

3. Einführung eines Mindestlohns und Ausdehnung des AEntG

a) Das Tarifvertragssystem wird durch die Einführung eines allgemeinen
gesetzlichen Mindestlohns gestützt und es werden – soweit Mindestlohn-
tarifverträge Lohngitter in Flächentarifverträgen enthalten – auch für
Fachkräfte Mindeststandards abgesichert.

b) Das AEntG wird auf sämtliche Branchen ausgedehnt, damit Branchen-
wechsel nicht zur Flucht aus dem Mindestlohn führt und bundesweite
Mindestlöhne gelten können.

4. Schließung der Gesetzeslücke bei Tarifkollisionen

Die vorhandene Gesetzeslücke bei Tarifkollisionen wird durch eine gesetz-
liche Kollisionsregelung geschlossen, die eine Unterbietung allgemeinver-
bindlicher Tarifverträge im Fall von Regelungsüberschneidungen und die
Flucht aus den Beitragspflichten für gemeinsame Einrichtungen der Tarifver-
tragsparteien ausschließt.

5. Ausschließliche sachliche Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit

Für die gerichtliche Überprüfung der AVE liegt die ausschließliche sachliche
Zuständigkeit bei der – für die aufgeworfenen Tarifrechtsfragen fachkundi-
gen – Arbeitsgerichtsbarkeit. Die auf § 2a Absatz 1 Nummer 4 des Arbeits-
gerichtsgesetzes (ArbGG) bezogene Aussetzungs- und Vorlagepflicht der
Gerichte nach § 97 ArbGG wird angepasst. Dazu wird § 2a Absatz 1 Num-
mer 4 ArbGG in den Sätzen 1 bis 3 wie folgt ergänzt:

„Angelegenheiten der Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 des Tarifver-
tragsgesetzes. Das Gleiche gilt für Verordnungen nach den §§ 7, 11 des
Arbeitnehmer-Entsendegesetzes sowie Rechtsverordnungen nach § 3a des
Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes. Bei Rechtsstreitigkeiten nach den Sät-
zen 1 und 2 hat das Gericht – gleich welchen Rechtszweiges – das Verfahren
bis zur Erledigung des Beschlussverfahrens nach Satz 1 auszusetzen.“

Berlin, den 24. Januar 2012
Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

Drucksache 17/8459 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Begründung

Zu Nummer 1

§ 7 AEntG legt die Voraussetzungen bei mehreren Tarifverträgen zur Aufrecht-
erhaltung von Mindestarbeitsbedingungen fest. Es besteht damit im deutschen
Recht bereits eine Regelung, die in das TVG übernommen werden kann. Die
AVE könnte entsprechend – bei Bestehen eines öffentlichen Interesses – von
dem offeneren Begriff der Repräsentativität des Tarifvertrages abhängig ge-
macht werden. Hierdurch erhält der Gesetzgeber einen ausreichenden Hand-
lungsspielraum bei einer ggf. weiter rückläufigen Tarifbindung. Die Repräsen-
tativität ist bereits in vielen EU-Mitgliedstaaten Voraussetzung der AVE und im
geltenden Europarecht fest verankert (Artikel 153 Absatz 3 AEUV sowie vor-
mals bereits Artikel 137 Absatz 3 des Vertrages über die Europäische Union –
EGV). Die „Repräsentativität“ hebt zusätzlich die Bevorteilung der Arbeitge-
berseite, die durch das Quorum entsteht, auf und lässt aufgrund der flexibleren
Einbeziehung gleichsam relevanter Indikatoren eine validere Bewertung der
tatsächlichen Repräsentativität des Tarifvertrages durch das BMAS zu. Zu-
gleich schafft diese Änderung die Voraussetzung für die Sicherung des Be-
stands und den weiteren Ausbau gemeinsamer Einrichtungen der Tarifvertrags-
parteien (§ 4 Absatz 2 TVG). In Zusammenarbeit von Arbeitgeberverbänden
und Gewerkschaften können so branchenweit Sozialleistungen, Altersvorsorge
und Ausbildungkapazitäten sichergestellt werden. Die Sozialkassen des Bauge-
werbes bieten dafür ein bewährtes Beispiel mit Modellcharakter für andere
Branchen. Angesichts der abnehmenden Tarifbindung ist die Finanzierung der
Beitragslast der Sozialkassen über allgemeinverbindliche Tarifverträge in Ge-
fahr. Hier kann nur die Aufhebung des Quorums eine nachhaltige Perspektive
bieten.

Zu Nummer 2

Die Vetoposition des Tarifausschusses ist faktisch eine Vetoposition der Arbeit-
geberseite und schafft damit eine ungerechtfertigte Überlegenheit. Die geforder-
ten Reformen der Beschlussfassung würden für ein ausgeglichenes Kräftever-
hältnis sorgen.

Zu Nummer 3

Obwohl inzwischen in neun Branchen allgemeinverbindliche Löhne auf Basis
des AEntG gelten, wird gemeinhin nur ein unterster Lohn für ungelernte Be-
schäftigte festgelegt. Nur in Ausnahmefällen werden Löhne für Fachkräfte ver-
einbart. Im Rahmen des AEntG werden künftig nicht nur die untersten Lohn-
gruppen als Mindestlöhne, sondern möglichst die kompletten Lohntabellen für
allgemeinverbindlich erklärt.

Zu Nummer 4

Die Kollisionsregel führt dazu, dass im Falle der Gültigkeit mehrerer Tarifver-
träge innerhalb eines Betriebes einem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag der
Vorrang gewährt wird. Durch gesetzliche Statuierung eines Günstigkeitsprin-
zips in Anlehnung an § 8 Absatz 1 Satz 1 AEntG ist gewährleistet, dass kon-
kurrierende Tarifverträge nicht gänzlich verdrängt werden. Dieser Ansatz ge-
währleistet, auf das jeweilige Interesse des Arbeitnehmers abzustellen, ohne in-
dessen den Grundsatz der Koalitionsfreiheit zu verletzen.

Zu Nummer 5

Mit der Änderung des ArbGG wird gewährleistet, dass die fachlich kompetente
Arbeitsgerichtsbarkeit über die Tariffähigkeit und die Tarifzuständigkeit einer
Vereinigung sowie über die Wirksamkeit einer Allgemeinverbindlicherklärung
von Tarifverträgen oder Rechtsverordnungen nach § 7 AEntG gesetzlich bei

Tarifrechtsfragen entscheidet.

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