BT-Drucksache 17/8306

Umgang mit Schutz suchenden Kindersoldaten in der Bundesrepublik Deutschland

Vom 4. Januar 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8306
17. Wahlperiode 04. 01. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Christine Buchholz, Wolfgang Gehrcke,
Annette Groth, Andrej Hunko, Harald Koch, Niema Movassat, Petra Pau,
Paul Schäfer (Köln), Raju Sharma und der Fraktion DIE LINKE.

Umgang mit Schutz suchenden Kindersoldaten in der Bundesrepublik
Deutschland

Nach den Angaben der Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Kleine An-
frage der Fraktion DIE LINKE. auf Bundestagsdrucksache 17/7929 sind in den
vergangenen Jahren in Afghanistan, der Demokratischen Republik Kongo, Irak,
Jemen, Kolumbien, Myanmar, Nepal, den Philippinen, Somalia, Sri Lanka,
Sudan/Südsudan, Tschad, Uganda sowie in der Zentralafrikanischen Republik
Kinder für bewaffnete Konflikte rekrutiert worden. Unter dem Begriff „Kinder-
soldaten“ werden alle Kinder zusammengefasst, die in bewaffneten Verbänden
kämpfen oder in irgendeiner anderen Form von diesen missbraucht werden.
Diese Kinder versuchen, sich teilweise auch mit einer Flucht ins Ausland der
Rekrutierung oder der weiteren Teilnahme an Kampfhandlungen zu entziehen.
Sie kommen als so genannte unbegleitete minderjährige Flüchtlinge auch nach
Deutschland. Im Jahr 2010 wurden 282 unbegleitete Minderjährige bei der Ein-
reise in die Bundesrepublik Deutschland festgestellt, von denen 24 zurückge-
wiesen oder -geschoben wurden (Antwort der Bundesregierung auf die Kleine
Anfrage der Fraktion DIE LINKE. auf Bundestagsdrucksache 17/7433, zu den
Fragen 1 und 4). 17- bis 18-Jährige werden statistisch nicht erfasst, da es sich
nach dem geltenden Asylverfahrensrecht um „verfahrensmündige“ Personen
handelt, die wie Erwachsene behandelt werden. Unter den 282 festgestellten
Kindern befanden sich 155 Kinder aus Afghanistan, unter denen sich auch
solche befanden, die Angst vor einer Rekrutierung durch die Taliban als Grund
ihrer Flucht angaben.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. In Bezug auf welche Staaten besteht nach Ansicht der Bundesregierung ge-
genwärtig die Gefahr der Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflik-
ten, und welche Kräfte (Armee, Milizen etc.) rekrutieren diese Kinder?

2. Wie viele Personen aus diesen Ländern, die bis zum Alter von 18 Jahren nach
Deutschland eingereist sind und aktuell über eine Aufenthaltserlaubnis nach

Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes, eine Duldung oder eine Auf-
enthaltsgestattung verfügen oder ausreisepflichtig sind (bitte jeweils nach
genauer Rechtsgrundlage differenzieren), halten sich laut dem Ausländer-
zentralregister gegenwärtig in Deutschland auf (bitte nach Herkunftsländern
aufschlüsseln), und wie hoch schätzt die Bundesregierung den Anteil der ehe-
maligen Kindersoldaten unter diesem Personenkreis (soweit möglich, bitte
nach Herkunftsländern aufschlüsseln)?

Drucksache 17/8306 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

3. Wie viele unbegleitete Minderjährige bis zum 18. Lebensjahr sind in den
Jahren 2008 bis 2011 jeweils aus diesen Ländern nach Deutschland geflo-
hen, und wie viele von ihnen haben einen Asylantrag gestellt (bitte nach
Jahren und Ländern differenzieren)?

4. Wie oft wurde in den Jahren 2008 bis 2011 im Asylverfahren vorgetragen,
Kindersoldat gewesen zu sein oder Furcht vor einer Rekrutierung als Kin-
dersoldat gehabt zu haben (bitte nach Herkunftsländern und Einreisejahr
aufschlüsseln)?

5. Wie viele volljährige Personen haben in den Jahren 2008 bis 2011 einen
entsprechenden Vortrag im Asylverfahren vorgebracht (bitte nach Her-
kunftsländern und Einreisejahr aufschlüsseln)?

6. Wie viele ehemalige Kindersoldaten wurden in den Jahren 2008 bis 2011
als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt, und
bei wie vielen ehemaligen Kindersoldaten wurde das Vorliegen eines Ab-
schiebungsverbotes festgestellt (bitte aufschlüsseln nach Alter, Herkunfts-
ländern und unterschiedlichem Schutzstatus)?

7. Mit welchen Begründungen, jenseits der Zweifel an der Glaubwürdigkeit
des Sachvortrags, wurden die Asylgesuche der Personen, die vorgetragen
haben, als Kindersoldat zwangsrekrutiert worden zu sein, abgelehnt?

8. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass es sich bei ehemaligen Kin-
dersoldaten um besonders schutzbedürftige Personen im Sinne der EG-
Aufnahmerichtlinie handelt?

a) Sieht die Bundesregierung einen Bedarf für die Identifizierung von ehe-
maligen Kindersoldaten, und wenn ja, wie will sie dies gegebenenfalls
auch außerhalb des Asylverfahrens umsetzen?

b) Wie stellt die Bundesregierung sicher, dass ehemalige Kindersoldaten
im Bedarfsfall die medizinische und/oder psychologische Behandlung
erhalten, die wegen der erlittenen Schäden erforderlich ist?

c) Inwieweit ist eine diskriminierungsfreie, optimale soziale und medizi-
nische Versorgung von Flüchtlingskindern – wie von der UN-Kinder-
rechtskonvention gefordert (vgl. die Artikel 2, 24 und 26) – möglich,
wenn nach den §§ 4 und 6 des Asylbewerberleistungsgesetzes eine medi-
zinische Versorgung nur bei akuten Erkrankungen und Schmerzzustän-
den bzw. wenn dies unerlässlich ist vorgesehen ist?

d) Wie unterstützt die Bundesregierung die spezialisierten Fachberatungs-
stellen, die besonders schutzbedürftige Asylsuchende beraten?

9. Wie beurteilt die Bundesregierung die Bedrohung durch Zwangsrekrutierung
durch die Taliban oder andere Milizen für Minderjährige in Afghanistan,
auch angesichts des Evaluierungsberichts des Hohen Flüchtlingskommissars
der Vereinten Nationen (UNHCR) zur Aufnahmesituation in Hamburg
(www.b-umf.de/images/evaluation_hamburg_2010.pdf, S. 11), nach dem ein
entsprechender Sachvortrag asylsuchender Minderjähriger im Asylverfahren
„nur in Ausnahmefällen“ als glaubhaft angesehen wird?

10. Wann war das Thema Kindersoldaten zuletzt Gegenstand von Schulungen
der Entscheider und Entscheiderinnen des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge, welche Inhalte werden dabei übermittelt, und in welchem Tur-
nus wird dieses Wissen erneuert?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/8306

11. Unter welchen Umständen hält die Bundesregierung eine Unterbringung
von unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden, die ehemalige Kinder-
soldaten sind, in Erstaufnahmeeinrichtungen für Asylsuchende für geeignet
und notwendig?

Teilt sie die Auffassung von Prof. Dr. Dr. h. c. Reinhard Wiesner (Kom-
mentar zur Kinder- und Jugendhilfe, 4. Auflage, S. 650 f.), dass die Unter-
bringung in der Erstaufnahmeeinrichtung den Standards entsprechen soll,
die die Jugendhilfe in ihren Einrichtungen für die Inobhutnahme vorhält?

Wenn nein, warum nicht?

12. Warum werden beispielsweise in der Erstaufnahmeeinrichtung in München
jährlich mehrere Hundert unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, unter de-
nen sich höchstwahrscheinlich auch ehemalige Kindersoldaten befinden, in
ehemaligen Kasernen ohne ausreichende Versorgung und Betreuung unter-
gebracht?

Wie kann hier eine Identifizierung dieser besonders schutzbedürftigen
Flüchtlingsgruppe geleistet werden?

Welchen Einfluss nimmt die Bundesregierung gegebenenfalls auf die baye-
rische Landesregierung oder welche gesetzlichen Vorkehrungen unter-
nimmt sie, um den von der Bundesrepublik Deutschland übernommenen
internationalen Verpflichtungen im Umgang mit unbegleitet minderjähri-
gen Flüchtlingen bzw. ehemaligen Kindersoldaten gerecht zu werden?

13. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über Art, Häufigkeit und Um-
fang von Schulungen des Personals der kommunalen Ausländerbehörden
zu deren Sensibilisierung im Umgang mit ehemaligen Kindersoldaten?

14. Wie will die Bundesregierung ihren Verpflichtungen aus der UN-Kinder-
rechtskonvention, insbesondere zur vorrangigen Beachtung des Kindes-
wohls, in der Praxis wirksam nachkommen, wenn laut der Antwort der
Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. auf Bun-
destagsdrucksache 17/7433 (Antwort zu Frage 2) die Bundespolizei keine
speziellen Anweisungen zum Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen
hat und es überdies zu Inhaftierungen und Zurückschiebungen von unbe-
gleiteten Minderjährigen ohne wirksame Beteiligung der oder zu einer
Übergabe an die Jugendämter kommt?

15. Wie lauten die Daten für das Jahr 2011 in Bezug auf Aufgriffe, Übergaben
an die Jugendämter und Zurückweisungen/Zurückschiebungen von unbe-
gleiteten minderjährigen Flüchtlingen durch die Bundespolizei (bitte nach
Grenzen und wichtigsten Staatsangehörigkeiten differenzieren)?

16. Wie begründet es die Bundesregierung und wie ist es mit der UN-Kinder-
rechtskonvention vereinbar, dass lediglich Aufgriffe, Übergaben an die
Jugendämter und Zurückweisungen/Zurückschiebungen in Bezug auf unter
16-jährige unbegleitete Minderjährige statistisch gesondert erfasst werden,
nicht aber in Bezug auf 16- und 17-jährige unbegleitete Minderjährige?

17. Wie begründet die Bundesregierung ihr Vorgehen auf der EU-Ebene, wo sie,
ausweislich der an den Deutschen Bundestag übermittelten Unterrichtungen,
gegen zahlreiche Vorschläge der EU-Kommission zur besseren Wahrung
des Kindeswohls eingetreten ist, etwa hinsichtlich der Fragen einer unent-
geltlichen Rechtsberatung und -vertretung, der Verfahrensmündigkeit erst
ab 18 Jahren oder der (Un-)Zulässigkeit von Inhaftierungen Minderjähriger
im Abschiebungsverfahren oder nach unerlaubten Einreisen (bitte konkret
ausführen, in Bezug auf welche Richtlinie die Europäische Kommission
zum Themenbereich Umgang mit minderjährigen Schutzsuchenden welche

Drucksache 17/8306 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
konkreten Vorschläge ursprünglich gemacht hat, welche Position die Bun-
desregierung hierzu jeweils eingenommen hat, wie der aktuelle Stand der
Verhandlungen zum jeweiligen Punkt ist und welche Verhandlungsposition
die Bundesregierung hierzu aus welchen Gründen jeweils einnimmt)?

Berlin, den 3. Januar 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.