BT-Drucksache 17/8049

Verschärfte Abschiebungen von Roma in den Kosovo

Vom 1. Dezember 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8049
17. Wahlperiode 01. 12. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Dr. Lukrezia Jochimsen, Petra Pau, Raju Sharma,
Dr. Petra Sitte, Frank Tempel und der Fraktion DIE LINKE.

Verschärfte Abschiebungen von Roma in den Kosovo

Zum Stand 30. Juni 2010 waren in Deutschland noch etwa 10 000 ausreise-
pflichtige Roma-Minderheitenangehörige aus dem Kosovo (einschließlich
Ashkali und Ägypter) offiziell erfasst, ganz überwiegend lebten sie in Nord-
rhein-Westfalen, Niedersachsen und Baden-Württemberg (vgl. Bundestags-
drucksache 17/3328). Von Rückübernahmeersuchen an den Kosovo sind über-
wiegend Familien und zu 75 Prozent Minderheitenangehörige betroffen. Auch
unter den Abgeschobenen wächst der Anteil von Minderheiten- bzw. Roma-
Angehörigen, die inzwischen bereits mehr als die Hälfte der Betroffenen aus-
machen dürften. Zwar gab und gibt es vereinzelte Abschiebestopps für Roma
aus dem Kosovo, etwa für die Zeit der Wintermonate (zuletzt in Nordrhein-
Westfalen) oder aktuell in Baden-Württemberg in Hinblick auf die aktuelle Ver-
schärfung der Sicherheitslage im Kosovo. Eine generelle Bleiberechtsregelung
insbesondere für die Roma aus dem Kosovo ist trotz zahlreicher Forderungen
der Zivilgesellschaft, der Kirchen, der Opposition im Deutschen Bundestag und
von Verbänden und Vereinen jedoch nicht in Sicht.

Im Mai 2011 stellte die Mission der Organisation für Sicherheit und Zusammen-
arbeit in Europa (OSZE) im Kosovo in einem Bericht fest, dass Strategien und
Aktionspläne für die Integration der Roma bzw. für die Reintegration von Rück-
kehrern bisher nur unzureichend umgesetzt wurden. Bereits in den Haushalten
der Ministerien und Gemeinden 2010 habe es schlicht kein Budget für deren
Umsetzung gegeben, dies sei auch in den Haushalten für 2011 der Fall. Das Pro-
jekt URA II in Prishtina bietet nur kurzfristige Hilfestellungen für Rückkehrer
und Abgeschobene und kann die strukturellen Probleme nicht ausgleichen.

Dies belegen auch Berichte über aus Deutschland abgeschobene Roma, die ein
erschreckendes Bild der Folgen deutscher Abschiebungspolitik zeichnen. So
heißt es in dem Fazit eines Berichts eines Rechercheteams von „alle bleiben!“
vom September 2011:

„Wenn man diesen Teil des Kosovo besucht, in dem die Roma am Stadtrand
leben, auf Müllhalden, in der Nähe von Kraftwerken, die Flüsse und Luft verun-
reinigen, in kleinen feuchten, zugigen Häusern oder in Hütten aus Brettern und
Planen, ohne Zugang zu Wasser und Strom, versteht man, dass man sich im

ärmsten Land Europas befindet. Genauso, wie man versteht, dass die Politik
Deutschlands am Menschen vorbeigeht, dass sie Kinder und Jugendliche und
deren Familien in einer Situation zurücklässt, die ihnen nicht die Chance gibt,
ihre Zukunft eigenständig zu gestalten, die ihnen alles nimmt, was sie bisher hat-
ten und ‚zu Hause‘ nannten. Eiskalt macht man diese Menschen kaputt, die nicht
verstehen, was passiert, denen man den Boden unter den Füssen wegzieht. Trau-
matisiert bleiben sie hier zurück, vollkommen unfähig, sich zu integrieren – als

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gäbe es Strukturen, in die man sich integrieren könnte.“ (www.alle-bleiben.info/
news/info-news70.htm)

Diese Abschiebungspolitik untergräbt aus Sicht der Fragesteller die Glaubwür-
digkeit der offiziellen Beteuerungen der Bundesregierung, sich für die Rechte
und Integration von Roma in Europa einsetzen zu wollen.

Die Angaben der Bundesregierung auf Bundestagsdrucksache 17/5724 zu
Rückübernahmeersuchen und Abschiebungen waren unvollständig, da ledig-
lich von der Zentralen Ausländerbehörde in Bielefeld aktuelle Zahlen vorlagen.
Deshalb ist eine erneute Anfrage erforderlich.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele ausreisepflichtige Personen aus dem Kosovo lebten zum letzten
bekannten Stand in Deutschland (bitte nach Bundesländern und Personen-
gruppen, zusätzlich aber auch nach Alter – unter 18 Jahre, zwischen 18 und
60 Jahre, über 60 Jahre – differenzieren)?

2. Wie viele geduldete Personen weisen nach dem Ausländerzentralregister
(AZR) aktuell eine „kosovarische“ bzw. „serbische“ (inklusive Vorgänger-
staaten) Staatsangehörigkeit auf (bitte auch nach Bundesländern differenzie-
ren), wie hoch schätzt die Bundesregierung ungefähr den Anteil der Roma-
Angehörigen unter diesen Personen ein, und wie viele der Personen mit den
unterschiedlichsten Staatsangehörigkeitsbezeichnungen „Republik Serbien“,
„Serbien und Montenegro (ehemals)“, „Serbien und Kosovo (ehemals)“,
„Jugoslawien (ehemals)“ könnten theoretisch bzw. definitiv nicht aus dem
Kosovo stammen?

3. Sind der Bundesregierung Fälle von in Deutschland geborenen Kindern von
Personen aus dem Kosovo mit dem Eintrag „Staatsangehörigkeit: unbe-
kannt“ im Ausländerzentralregister bekannt?

Welche Konsequenzen hat der Eintrag „Staatsangehörigkeit: unbekannt“ für
das Rückübernahmeverfahren auf Grundlage des Rückübernahmeabkom-
mens mit dem Kosovo?

Sind diese Personen de facto staatenlos und was folgt daraus?

4. Welche staatsangehörigkeitsrechtlichen Regelungen Serbiens bzw. seiner
Teilrepublik Kosovo, die von Deutschland als eigenständiger Staat aner-
kannt wurde, gibt es und wie wirken sich diese bei in Deutschland gebore-
nen Kindern von Personen aus dem Kosovo aus, insbesondere solchen, die
am 1. Januar 1998 nicht mehr im Kosovo lebten: welche Staatsangehörigkeit
haben diese Kinder, welche haben sie, wenn die Staatsangehörigkeit der
Eltern ungeklärt ist, welcher Eintrag erfolgt jeweils im AZR, und welche
ausländerrechtlichen Folgen ergeben sich hieraus?

5. Wie viele Asylanträge von Personen aus dem Kosovo bzw. aus Serbien
(bitte differenzieren) wurden im Jahr 2010 bzw. bislang im Jahr 2011 ge-
stellt, wie hoch war jeweils der Anteil der Roma-Angehörigen (bzw. Ashkali
und Ägypter), wie viele davon waren Folgeanträge, und wie hoch waren die
Gesamtschutzquoten insgesamt bzw. bei Roma-Angehörigen (bzw. Ashkali
und Ägypter) aus dem Kosovo (bitte alle Angaben auch nach Monaten und
gewährten Schutzstatus differenzieren)?

6. Wie viele Asylsuchende aus dem Kosovo mit Roma-Volkszugehörigkeit
(bzw. Ashkali und Ägypter) leben derzeit in der Bundesrepublik Deutsch-
land (bitte nach Bundesländern und Alter – über bzw. unter 18 Jahre alt –
differenzieren)?

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7. Wie viele „Abschiebungsaufträge“ aus den einzelnen Bundesländern wur-
den den Koordinierungsstellen in Karlsruhe und Bielefeld im Jahr 2010
und bislang im Jahr 2011 (bitte getrennt darstellen) übermittelt, und wie
verteilten sich diese Aufträge auf die Personengruppen

a) Straftäter,

b) alleinreisende Erwachsene,

c) Familien/Kinder,

d) alleinerziehende Elternteile,

e) Alte und Pflegebedürftige,

f) langjährig Aufhältige (seit 1. Januar 1998),

g) unbegleitete Minderjährige,

h) Roma-Angehörige,

i) andere Minderheitenangehörige,

j) Empfänger von Sozialleistungen,

k) Personen, gegen die Ausweisungsgründe vorliegen

(bitte in der Form wie zu Frage 4 auf Bundestagsdrucksache 17/5724 dar-
stellen, jedoch zusätzlich noch – wie bereits mehrfach erbeten – die Sum-
men beider Koordinierungsstellen angeben)?

8. Wie viele von wie vielen Ersuchen im Rahmen des Rückübernahmeabkom-
mens wurden bislang im Jahr 2011 aus welchen Gründen abgelehnt?

9. Wie viele von wie vielen Ersuchen im Rahmen des Rückübernahmeabkom-
mens wurden 2010 bzw. bislang im Jahr 2011 (bitte differenzieren) nicht
innerhalb von 30 bzw. 45 Tagen beantwortet, und welche Folgen hatte dies?

10. In welchem Umfang gab es 2010 bzw. bislang im Jahr 2011 (bitte differen-
zieren) Abschiebungen, in denen es zuvor keine ausdrückliche Zustim-
mung zur Rückübernahme gab, wie viele Abschiebungen gab es außerhalb
des Rückübernahmeabkommens, und wie viele Minderheitenangehörige
waren jeweils davon betroffen?

11. Für wie viele Personen erfolgten im Jahr 2010 bzw. bislang im Jahr 2011
(bitte differenzieren) „Fluganmeldungen/Abschiebungsaufträge“, und wie
viele Abschiebungen wurden tatsächlich vollzogen (bitte in der Differen-
zierung und Form wie zu Frage 10 auf Bundestagsdrucksache 17/5724 dar-
stellen)?

12. Wie viele der Abschiebungen in den Kosovo im bisherigen Jahr 2011 wur-
den im Rahmen von Sammelabschiebungen per Charterflug durchgeführt
(bitte die einzelnen Flüge mit Datum, Startflughafen in Deutschland, Flug-
gesellschaft, Zahl der „Buchungen“, Zahl der Abgeschobenen, Anteil von
Minderheiten- bzw. Roma-Angehörigen, Kosten je Flug auflisten und die
jeweiligen Summen nennen)?

13. Welche Abschiebungsaktionen mit dem Ziel Kosovo unter der Leitung
oder Beteiligung von FRONTEX gab es bislang im Jahr 2011, und welche
genaueren Angaben hierzu sind der Bundesregierung bekannt (z. B. Da-
tum, beteiligte Länder, Fluggesellschaft, Zahl der „Buchungen“, Zahl der
Abgeschobenen, Anteil von Minderheiten- bzw. Roma-Angehörigen, Kos-
ten je Flug; Angaben bitte soweit möglich länderspezifisch differenzieren
und jeweilige Summen nennen)?

14. Wie ist die Antwort des Regierungspräsidiums Karlsruhe zu Frage 13 auf
Bundestagsdrucksache 17/5724 (Erklärungen für die Differenz des Anteils
von Roma bei den Abgeschobenen im Vergleich zu ihrem Anteil an den

Rückübernahmeersuchen), bzw. inwieweit entsprechen dessen Erfahrun-
gen der Einschätzung der Zentralen Ausländerbehörde in Bielefeld?

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15. Wie hoch war die Zahl der „freiwilligen“ Rückkehrer bislang im Jahr 2011
(bitte nach Bundesländern differenzieren), und wie hoch war jeweils der
Anteil bzw. die Zahl der Roma?

16. Wie viele Personen welcher Volkszugehörigkeit wurden bislang im Jahr
2011 mit welcher Zielrichtung und in welcher Höhe bzw. mit welchen
Maßnahmen im Rahmen des Projekts URA 2 gefördert, und was hat die
angekündigte Evaluierung von URA 2 und entsprechende schriftliche Be-
fragungen der Rückkehrer insbesondere zur Nachhaltigkeit der Maßnah-
men im Detail erbracht?

17. Wie viele Personen welcher Volkszugehörigkeit wurden bislang im Jahr
2011 und im Jahr 2010 (bitte differenzieren) mit welcher Maßnahme und in
welcher Höhe bei der Rückkehr in den Kosovo durch Hilfen der Internatio-
nal Organization for Migration (IOM) gefördert, und welche Evaluierung
der Wirksamkeit dieser Hilfen gibt es?

18. Welche Erkenntnisse oder Einschätzungen, neben denen von UNICEF und
des Leiters von URA 2 (vgl. Frage 19 der Bundestagsdrucksache 17/5724),
liegen der Bundesregierung inzwischen vor zu der Frage, wie viele abge-
schobene oder zurückgekehrte Roma mangels realistischer Überlebensper-
spektiven den Kosovo bereits nach wenigen Monaten wieder verlassen und/
oder versuchen, (illegal) nach Deutschland oder in ein anderes Land der
Europäischen Union (EU) zurückzukehren?

19. Wie viele Personen aus dem Kosovo bzw. mit „kosovarischer“ bzw. mit
anderer Staatsangehörigkeitsbezeichnung, die auf eine Herkunft aus dem
Kosovo hindeuten könnte, sind im Jahr 2010 und im Jahr 2011 jeweils
beim Versuch des unerlaubten Grenzübertritts angehalten worden, in wie
vielen Fällen wurde der unerlaubte Aufenthalt von zuvor ausgereisten oder
abgeschobenen Personen aus dem Kosovo festgestellt, und wie viele dieser
Personen waren jeweils im Ausländerzentralregister als „ausgereist“ oder
abgeschoben gespeichert?

20. Wie bewertet die Bundesregierung und welche Schlussfolgerungen zieht sie
aus dem Bericht der OSZE-Mission im Kosovo vom Mai 2011 (Implemen-
tation of the Action Plan on the Strategy for the Integration of the Roma,
Ashkali and Egyptian Communities in Kosovo), wonach die Strategien und
Aktionspläne für die Integration der Roma bzw. für die Reintegration von
Rückkehrern bisher nur unzureichend umgesetzt wurden?

21. Inwieweit beurteilt die Bundesregierung angesichts der jüngsten Spannun-
gen im Kosovo mit mehreren Toten und verschärften Auseinandersetzungen
zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen die Frage neu, ob Abschie-
bungen von Minderheitenangehörigen und insbesondere von Roma in diese
unsicheren Verhältnisse in einem politischen Sinne verantwortbar sind?

22. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Folgen der Ab-
schiebungen von Roma in den Kosovo, bzw. was unternimmt die Bundes-
regierung, um diese Folgen zu eruieren, etwa zu den Fragen:

a) Wie viele abgeschobene Personen leben weiterhin im Kosovo bzw. sind
erneut zu Flüchtlingen oder Vertriebenen im Land geworden?

b) Unter welchen Bedingungen leben sie (Unterkunft, Einkommen usw.)?

c) Wie viele Personen konnten sich amtlich registrieren lassen und erhalten
welche öffentlichen Unterstützungsleistungen?

d) Wie viele Personen konnten erfolgreich die Rückgabe ihres Eigentums/
ihrer Wohnung durchsetzen?
e) Wie ist der faktische Zugang Abgeschobener zur Gesundheitsversor-
gung, zur Rechtshilfe, zu Arbeit und Bildung, zu Schulen usw.?

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23. Welche politischen Initiativen für ein Bleiberecht der Roma aus dem
Kosovo sind der Bundesregierung bekannt, welche Institutionen oder Ein-
zelpersonen haben sich an sie wann mit diesem Anliegen gewandt, und in
welchen Bundesländern gibt es derzeit welche Sonderregelungen in Bezug
auf Abschiebungen von Roma oder anderen Minderheitenangehörigen aus
dem Kosovo (z. B.: Winterabschiebestopp, Einzelvorlage im Ministerium,
besondere Verfahrensregelungen)?

24. Inwieweit wird sich die Bundesregierung angesichts der dramatischen Not-
lage abgeschobener Roma und der harten winterlichen Bedingungen im
Kosovo zumindest für einen „Winterabschiebestopp“ in Bezug auf diesen
Personenkreis im Rahmen der nächsten Innenministerkonferenz einsetzen?

Berlin, den 1. Dezember 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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