BT-Drucksache 17/8010

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung - Drucksachen 17/6906, 17/7274, 17/8005 - Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Versorgungsstrukturgesetz - GKV-VStG)

Vom 30. November 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8010
17. Wahlperiode 30. 11. 2011

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Dr. Marlies Volkmer, Dr. Karl Lauterbach, Petra Ernstberger,
Iris Gleicke, Elke Ferner, Ute Kumpf, Thomas Oppermann, Dr. Frank-Walter
Steinmeier und der Fraktion der SPD

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung
– Drucksachen 17/6906, 17/7274, 17/8005 –

Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen
in der gesetzlichen Krankenversicherung
(GKV-Versorgungsstrukturgesetz – GKV-VStG)

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Herausforderungen, vor denen unser Gesundheitswesen steht, sind gut be-
kannt und häufig beschrieben. Der Anteil älterer und hochbetagter Menschen in
der Bevölkerung wird erfreulicherweise weiter zunehmen. Damit einher geht
aber eine Zunahme an chronisch-degenerativen Erkrankungen und Behinderun-
gen. Gleichzeitig wird die Zahl der Ein-Personen-Haushalte steigen, was neue
Aufgaben insbesondere im Bereich der professionellen pflegerischen und haus-
ärztlichen Versorgung bedeutet. Der medizinisch-technische Fortschritt wird
die Entwicklung von zum Teil teuren neuen Technologien für Diagnostik und
Therapie ermöglichen. Hinzu kommen der Bevölkerungsrückgang in bestimm-
ten ländlichen Regionen und die Alterung auch bei den Angehörigen der Ge-
sundheitsberufe.

Um diese Herausforderungen meistern zu können, bedarf es einer Reihe von
Weiterentwicklungen im Bereich der gesundheitlichen Versorgung. Die in dem
Gesetzentwurf vorgesehenen Maßnahmen sind jedoch nicht in der Lage, die
Versorgung für die Patientinnen und Patienten umfassend, nachhaltig wirksam
und kosteneffizient zu verbessern. Zudem werden die Bedingungen für die
hausarztzentrierte Versorgung verschlechtert und somit dem Hausärztemangel
weiter Vorschub geleistet.

1. Der Gesetzentwurf orientiert sich vor allem an den Belangen der Leistungs-

erbringer. Die Interessen von Patientinnen und Patienten werden dagegen zu
wenig berücksichtigt.

2. Die Maßnahmen des Gesetzentwurfs sind sehr stark auf die ärztliche Versor-
gung fokussiert. Das Potential der nichtärztlichen Gesundheitsberufe wird
dagegen nicht ausreichend genutzt.

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3. Der Gesetzentwurf sieht keine ausreichenden Maßnahmen zum kosten-
neutralen Abbau von regionaler Überversorgung vor. Damit muss auch der
Versuch scheitern, bestehende Unterversorgung zu bekämpfen und Versor-
gungslücken zu schließen.

4. Es sind keine wirksamen Maßnahmen zur Überwindung der Segmentie-
rung des Versicherungsmarktes und der unterschiedlichen Honorierung
ärztlicher Leistungen enthalten. Probleme, die Patientinnen und Patienten
in der Versorgungsrealität begegnen, wie z. B. zu lange Wartezeiten für
Kassenpatienten auf Termine beim Arzt bzw. in den Wartezimmern von
Arztpraxen, können so nicht gelöst werden.

5. Der Gesetzentwurf enthält Regelungen, die keinen Beitrag zur Verbesse-
rung der Versorgungssituation leisten, aber steigende Kosten nach sich zie-
hen. Diese Mehrkosten sind nicht oder nur in unzureichender Höhe kalku-
liert. Sie müssten über Zusatzbeiträge durch die Versicherten finanziert
werden.

6. Kostensteigerungen sollen bei den Zahlungen des Bundes für den Sozial-
ausgleich mindernd berücksichtigt werden. Die Bundesregierung bricht
damit ihre Zusage, den Sozialausgleich verlässlich aus Steuermitteln zu
finanzieren. Die Versicherten werden hingegen finanziell doppelt belastet,
weil sie die aus dem Gesetzentwurf resultierenden Mehrkosten über Zu-
satzbeiträge zu tragen haben und außerdem die Finanzierung eines Teils
des Sozialausgleichs übernehmen müssen.

7. Die Krankenkassen sollen ihren Versicherten Leistungen von nicht zuge-
lassenen Leistungserbringern anbieten dürfen. Damit werden die Qualität
der Versorgung und die Möglichkeit der Versorgungssteuerung geschwächt
und der Wettbewerb zwischen den Krankenkassen in die falsche Richtung
gelenkt.

8. Bei der spezialärztlichen Versorgung gilt der Grundsatz „wer kann, der
darf“. Dadurch gibt es faktisch keine Beschränkungen des Marktzugangs
und der Mengenentwicklung. Das birgt erhebliche Risiken für die Aus-
gabenentwicklung, die von den Versicherten über Zusatzbeiträge bezahlt
werden müssen. Darüber hinaus wird die Unterversorgung in struktur-
schwachen Regionen weiter verschärft, während in wirtschaftlich starken
Regionen die Überversorgung zunimmt.

9. Bei den Regelungen zu Medizinischen Versorgungszentren werden weit-
reichende Einschränkungen vorgenommen. Damit werden die Wünsche
der Kassenärztlichen Bundesvereinigung erfüllt, gegen die Interessen von
Patientinnen und Patienten und auch gegen die Interessen vieler Ärztinnen
und Ärzte.

10. Der Gemeinsame Bundesausschuss wird durch die geplanten Maßnahmen
unnötig politisiert. In der Folge wird die bisher von niemandem ernsthaft
bezweifelte Unabhängigkeit der Beschlussfassungen der Selbstverwaltung
nachhaltig beschädigt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

umgehend einen neuen Gesetzentwurf vorzulegen. Dabei sind die folgenden
Grundsätze zu beachten:

1. Alle Maßnahmen werden daran gemessen, welchen Nutzen sie für die
Patientinnen und Patienten haben. Es darf nicht um Besitzstände von Kas-
senärztlichen Vereinigungen, niedergelassenen Ärzten oder Krankenhäusern
gehen. Wichtigster Prüfstein für alle vorgeschlagenen Maßnahmen ist die

Frage, ob sie geeignet sind, die Menschen vor Ort umfassend und mit einer

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guten Qualität medizinisch und pflegerisch zu versorgen. Dabei muss sich
die medizinische Versorgung besonders orientieren an den spezifischen Ver-
sorgungsbedarfen

● in den Lebensphasen und den Übergängen z. B. vom Kindes- und Ju-
gendalter zum Erwachsenenalter aber auch vom aktiven Erwerbsleben
ins Rentenalter,

● der Geschlechter,

● in den unterschiedlichen Regionen, z. B. in den Metropolen und Bal-
lungsgebieten ebenso wie in den dünn besiedelten strukturschwachen
Randregionen,

● von Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen,

● von Menschen mit psychischen Erkrankungen,

● besonders schwer zu erreichenden Gruppen, wie z. B. Migrantinnen und
Migranten oder Flüchtlinge, Menschen in sozial prekären Lebenssitua-
tionen.

Überkommene Sektorabgrenzungen, ungeeignete Planungsgrundlagen, his-
torisch gewachsene Zuständigkeiten, Honoraranteile oder Aufgabenzuwei-
sungen müssen dem Primat der Patientenversorgung untergeordnet werden,
damit notwendige Veränderungen im Sinne aller Patientinnen und Patienten
durchgesetzt werden können. Die Fraktion der SPD fordert daher eine sektor-
übergreifende Bedarfsplanung unter Einbeziehung der Länder. Im Sinne einer
besseren Versorgung psychisch kranker Menschen sollen die Bedarfszahlen
für die psychotherapeutische Versorgung neu berechnet werden.

2. Es müssen Regelungen getroffen werden, die die Gesundheitsversorgung
gemäß den Forderungen des Sachverständigenrates zur Begutachtung der
Entwicklung im Gesundheitswesen stärker arbeitsteilig, interdisziplinär und
professionsübergreifend ausrichten. Die vorgesehene Weiterentwicklung der
Delegationsmöglichkeiten ist zwar sinnvoll aber nicht ausreichend und
bleibt überdies hinter den bereits bestehenden Regelungen im Bundesman-
telvertrag zurück. Erforderlich sind weitere Schritte zu einer besseren Ko-
operation der Berufsgruppen im Gesundheitswesen und zu einer multipro-
fessionellen Primärversorgung mit einer neuen Aufgabenverteilung.

3. Zwingend erforderlich ist der Abbau von regionaler Überversorgung, damit
auch bestehende Versorgungslücken geschlossen werden können. Deshalb
müssen die Kassenärztlichen Vereinigungen verpflichtet werden, in überver-
sorgten Regionen frei werdende Arztsitze aufzukaufen, die dann nicht neu
besetzt werden. Freiwillige Regelungen reichen hier nicht aus. Außerdem
müssen die Honorarzuschläge in unterversorgten Regionen durch geeignete
Maßnahmen in überversorgten Regionen begleitet und finanziell kompen-
siert werden.

4. Damit gesetzlich Versicherte bei Wartezeiten und Terminvergabe nicht be-
nachteiligt werden, muss eine einheitliche Honorarordnung für gesetzlich
und privat Versicherte geschaffen werden. Für die Ärzteschaft soll die ein-
heitliche Honorarordnung insgesamt einnahmeneutral und ohne finanzielle
Einbußen eingeführt werden. Daher sollte die ärztliche Vergütung in der pri-
vaten und der gesetzlichen Krankenversicherung angeglichen werden, ohne
das Vergütungsniveau insgesamt abzusenken. Voraussetzung dafür ist, dass
Honorarsteigerungen im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung
durch eine verbesserte Versorgungsqualität für die Patientinnen und Patien-
ten begründet sind. Ziel muss eine Honorarordnung mit mehr Transparenz
und ohne überflüssige Bürokratie sein. Das erfordert eine grundsätzliche

Umstellung der Finanzierungsgrundlagen.

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5. Die im Versorgungsstrukturgesetz vorgesehenen Regelungen, die mit
Mehrausgaben verbunden sind, müssen vollständig und seriös berechnet
werden, damit alle Beteiligten abschätzen können, mit welchen Belastun-
gen sie ggf. zukünftig zu rechnen haben.

6. Pauschale Zusatzbeiträge, die allein von den Versicherten ohne Beteiligung
der Arbeitgeber zu tragen sind, sowie ein bürokratischer Sozialausgleich,
von dessen Lasten sich der Bundesminister der Finanzen befreit, sind zum
Scheitern verurteilt. Die Zusatzbeiträge müssen abgeschafft werden. Statt-
dessen muss zurückgekehrt werden zu paritätisch finanzierten Beiträgen.
Um eine dauerhaft tragfähige und gerechte Finanzierung der gesundheit-
lichen Versorgung zu sichern, muss ein Konzept zur Einführung einer soli-
darischen Bürgerversicherung vorgelegt werden.

7. Die Krankenkassen sollen ihren Versicherten keine Leistungen von nicht
zugelassenen Leistungserbringern anbieten dürfen. Auch Leistungen, deren
Qualität und Wirtschaftlichkeit oder deren Nutzen nicht erwiesen sind, sol-
len ausgenommen sein.

8. Für die spezialärztliche Versorgung muss es Instrumente zur Mengensteue-
rung und zur Bedarfsplanung geben. Andernfalls droht neben erheblichen
Mehrausgaben auch eine weitere Abnahme der Attraktivität der Allge-
meinmedizin im Vergleich zu den übrigen fachärztlichen Professionen, was
eine Schwächung der hausärztlichen Versorgung zur Folge hätte.

9. Einschränkungen bei der Gründung oder dem Betrieb von Medizinischen
Versorgungszentren darf es nicht geben. Stattdessen sollen auch Hausärzte
die Möglichkeit haben, Medizinische Versorgungszentren zu gründen,
ohne den bisherigen Zwang zur fachübergreifenden Ausrichtung. Alle an
der Versorgung der gesetzlichen Krankenversicherung teilnehmenden Leis-
tungserbringer sollen die uneingeschränkte Möglichkeit haben, Träger
eines medizinischen Versorgungszentrums zu sein.

10. Bei den Verträgen zur hausarztzentrierten Versorgung sollen die von der
Bundesregierung eingeführten Hürden zurückgenommen werden. Es muss
zurückgekehrt werden zum Rechtszustand vor dem 22. September 2010.

11. Die geplanten Änderungen für den Gemeinsamen Bundesausschuss müs-
sen gestrichen werden.

Berlin, den 29. November 2011

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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