BT-Drucksache 17/7982

Vorsorgeprinzip anwenden - Zulassung des Pestizidwirkstoffs Glyphosat aussetzen und Neubewertung vornehmen

Vom 30. November 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/7982
17. Wahlperiode 30. 11. 2011

Antrag
der Abgeordneten Harald Ebner, Cornelia Behm, Bärbel Höhn, Undine Kurth
(Quedlinburg), Nicole Maisch, Friedrich Ostendorff, Hans-Josef Fell, Bettina
Herlitzius, Dr. Anton Hofreiter, Sylvia Kotting-Uhl, Oliver Krischer, Stephan
Kühn, Ingrid Nestle, Dr. Hermann E. Ott, Dorothea Steiner, Markus Tressel,
Daniela Wagner, Dr. Valerie Wilms, Kai Gehring und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Vorsorgeprinzip anwenden – Zulassung des Pestizidwirkstoffs Glyphosat
aussetzen und Neubewertung vornehmen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Glyphosat ist der weltweit meistgenutzte Herbizidwirkstoff und wird in ver-
schiedenen Formulierungen (z. B. „Roundup“) vertrieben. Glyphosat wird in
der Praxis nicht als Alleinwirkstoff ausgebracht, sondern in Kombination mit
Zusatzstoffen wie POE-Tallowaminen (POE = polyethoxylated). Durch diese
Netzmittel wird die Toxizität des Herbizids erheblich und gezielt verstärkt.

Wie bereits in den USA und Kanada hat sich auch in Argentinien, Brasilien und
Paraguay infolge des verstärkten Anbaus von gentechnisch veränderter herbi-
zidtoleranter Soja die ausgebrachte Menge an glyphosathaltigen Herbiziden
stark erhöht. Damit steigt die Gefahr von Glyphosatrückständen in Importfutter-
mitteln. In den letzten Jahren sind die ausgebrachten Mengen an Glyphosat und
POE-Tallowaminen auch in Deutschland und anderen EU-Staaten um ein Viel-
faches angestiegen. Glyphosathaltige Herbizide werden in der Land- und Forst-
wirtschaft, in öffentlichen Anlagen und in Kleingärten eingesetzt. Erkenntnisse
aus Untersuchungen zu Glyphosatrückständen in Oberflächengewässern in
Rheinland-Pfalz deuten darauf hin, dass glyphosathaltige Formulierungen in
großem Ausmaß auf Nichtkulturland (Hausgärten, befestigte Wege und Flächen
etc.) ohne ausreichende Sachkunde und vorschriftswidrig bzw. unter Verstoß
gegen beschränkende Vorschriften und Genehmigungspflichten eingesetzt
werden. Für Verbraucher, Beschäftigte in den „grünen Berufen“ und auch für
Nutztiere ergibt sich daraus ein erhebliches Gefahrenpotential, mit glyphosat-
bzw. tallowaminhaltigen Pflanzenschutzmitteln in Kontakt zu kommen. Auch
vor dem Hintergrund, dass nach Deutschland große Mengen an potentiell be-
lasteten Futtermitteln auf Sojabasis aus Lateinamerika eingeführt werden, ist für

beide Stoffe bzw. Stoffgruppen eine besonders konsequente Anwendung des
Vorsorgeprinzips geboten.

Bisher wurde Glyphosat selbst (ohne POE-Tallowamine) von deutschen Be-
hörden und Vertretern der Agro-Industrie als eine Substanz eingeschätzt, die im
Vergleich zu anderen Pestizidwirkstoffen ein relativ günstiges toxikologisches
und ökotoxikologisches Profil aufweist. Inzwischen mehren sich jedoch deut-
liche Hinweise von Wissenschaftlern unterschiedlicher Länder und natur-

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wissenschaftlicher Disziplinen zu Gefahren für Mensch und Umwelt durch
Glyphosat und glyphosathaltige Herbizide. Sowohl die Ergebnisse toxikologi-
scher und embryologischer Laborstudien u. a. aus Frankreich und Argentinien
als auch epidemiologische Untersuchungen zu Missbildungen und Krebs-
erkrankungen in Argentinien und Kanada zeigen unter anderem krebs-
erregende, mutagene und fruchtbarkeitsmindernde Wirkungen von reinem
Glyphosat und glyphosathaltigen Herbizidformulierungen bei verschiedensten
Organismengruppen, darunter auch beim Menschen, auf.

Zudem existieren umfangreiche und wissenschaftlich gesicherte Befunde, dass
Glyphosatanwendungen zu erhöhter Krankheitsanfälligkeit von Kulturpflanzen,
verstärktem Auftreten von Schadpilzen bei Pflanzen und Erntegut sowie zu ver-
minderter Nährstoffaufnahme und Bodenfruchtbarkeit führen.

2012 hätte laut EU-Recht eine Überprüfung der Zulassung von Glyphosat er-
folgen müssen. Die EU-Kommission verlängerte mit Zustimmung Deutschlands
die Zulassung für Glyphosat außerplanmäßig bis 2015, ohne eine aktuelle Über-
prüfung der Risiken vorzunehmen. Zudem besteht die Gefahr, dass die zu erfol-
gende Neubewertung von Glyphosat auf Basis der veralteten Richtlinie 91/414/
EU durchgeführt wird anstatt auf Basis der ab 2012 geltenden strengeren Ver-
ordnung (EG) Nr. 1107/2009.

Umwelt- und Verbraucherverbände und Wissenschaftler fordern angesichts der
aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnislage eine umfassende Neubewertung
der Risiken von Glyphosat und glyphosathaltigen Herbiziden. Dieser Forderung
schließt sich der Deutsche Bundestag an.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. eine umfassende und umgehende Neubewertung der Toxizität und Risiken
von Glyphosat unter Einbeziehung und kritischer Evaluation aller vorliegen-
den Studien durch entsprechende Anweisung an das Bundesamt für Ver-
braucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) vorzunehmen und damit
der Verantwortung Deutschlands in seiner Rolle als EU-Berichterstatter für
Glyphosat gerecht zu werden. Dafür müssen neben toxikologischen Erkennt-
nissen auch Studien zu Glyphosat mit den Schwerpunkten Embryologie,
Onkologie, Agrarökologie, Gewässer- und Bodenökologie ausgewertet und
angemessen in der Beurteilung berücksichtigt werden. Zulassungen für
Pflanzenschutzmittel dürfen zukünftig nur noch erfolgen, wenn durch ent-
sprechende (Multi-)Nachweismethoden für Pestizidrückstände, Abbaupro-
dukte und ggf. Beistoffe überwacht werden können;

2. sich gemäß dem Vorsorgeprinzip auf EU-Ebene für eine Aufhebung der
Wirkstoffzulassung von Glyphosat bis zum Abschluss der Neubewertung
einzusetzen (Streichung aus Anhang I der Richtlinie 91/414/EWG);

3. das BVL anzuweisen, die Zulassung für Pflanzenschutzmittel, die noch
POE-Tallowamine enthalten, auszusetzen;

4. sich auf EU-Ebene dafür einzusetzen, dass eine Zulassungsverlängerung des
Herbizidwirkstoffes Glyphosat ausschließlich auf Basis der Verordnung (EG)
Nr. 1107/2009 erfolgt. Um dies sicherzustellen, muss die Bundesregierung
von der EU-Kommission die rechtzeitige Vorlage (bis spätestens April 2012)
der konkreten Vorgaben aus der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 bezüglich
der von den Herstellern einzureichenden Unterlagen zur Toxizität („data
requirements“) umgehend und aktiv einfordern;

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5. die Anwendungsbestimmungen für Glyphosat dem aktuellen wissenschaft-
lichen Stand zur potentiellen Rückstandsbelastung deutscher Agrarprodukte
und zu Langzeitwirkungen von Glyphosat infolge der Mobilisation aus
abgestorbenen Pflanzenteilen oder Tonmineralien anzupassen und zu ver-
schärfen. Dazu gehören auch das Verbot des Glyphosateinsatzes zur Abreife-
beschleunigung (Sikkation) und Vorgaben für ausreichende Wartefristen
zwischen der Glyphosatanwendung und der Aussaat von Folgekulturen;

6. unabhängig vom Ergebnis einer wissenschaftlichen Neubewertung von
Glyphosat in der Pflanzenschutz-Anwendungsverordnung die erforder-
lichen Schritte einzuleiten, um die Verwendung von glyphosathaltigen
Pflanzenschutzmitteln im privaten Haus- und (Klein-)Gartenbereich und
den Verkauf in Kleinstgebinden u. a. über Bau- und Gartenmärkte
schnellstmöglich zu unterbinden. Zulassung und Handel von glyphosat-
haltigen Formulierungen müssen auf Anwendungszwecke und Anwender-
gruppen beschränkt werden, bei denen von einer ausreichenden Sachkunde
(dokumentiert über den Sachkundenachweis) ausgegangen werden kann;

7. unabhängig vom Ergebnis einer wissenschaftlichen Neubewertung von
Glyphosat bei den Ländern darauf hinzuwirken, dass in Bezug auf die Nut-
zung von glyphosathaltigen Herbiziden insbesondere bei den bislang wenig
erreichten Zielgruppen außerhalb der Landwirtschaft (z. B. Beschäftigte im
Dienst der Kommunen) die Maßnahmen zur Schulung, Aufklärung und
Beratung zu Risiken und erforderlichen Schutzmaßnahmen beim Einsatz
deutlich intensiviert werden;

8. sich durch konkrete Maßnahmen für eine Stärkung industrieunabhängiger
Risikoforschung für Pflanzenschutzmittel einzusetzen. Ergänzend ist eine
Prüfung auf EU-Ebene anzuregen, inwieweit in der Praxis der EU-Zulas-
sungsverfahren die geprüften Substanzen in ihrer Herkunft für die beteilig-
ten Wissenschaftler verblindet und die Identität des betroffenen Herstellers
im Verfahren geheim gehalten werden können, um einer Beeinflussung des
Ergebnisses von außen vorzubeugen;

9. gemäß dem Verursacherprinzip und der Herstellerverantwortung für die
Produktsicherheit eine Pestizidabgabe zu erheben, die zur Finanzierung
einer unabhängigen Risikoforschung bei Pflanzenschutzmitteln und von
Analysen und Monitorings genutzt wird, um Rückstände in Lebens- und
Futtermitteln sowie entsprechende Belastungen der Umwelt in statistisch
ausreichendem Umfang zu erfassen; umgehend bei den Bundesländern
darauf hinzuwirken, dass mittels einer angemessenen Zahl von Proben ak-
tuelle und aussagekräftige Daten zu Rückstandsbelastungen von Glyphosat
und POE-Tallowaminen erhoben und zeitnah veröffentlicht werden. Ein
besonderer Schwerpunkt muss dabei auf Kulturpflanzen und Futtermittel
bzw. Herkunftsregionen gelegt werden, wo verstärkt Glyphosat eingesetzt
wird (Sikkationsanwendung bei Leguminosen und Getreide sowie herbi-
zidtolerante gentechnisch veränderte Organismen, insbesondere gentech-
nisch veränderte Soja);

10. sich im Sinne des Vorsorgeprinzips auf EU-Ebene für eine Senkung der
Rückstandshöchstmengenwerte für Ölsaaten sowie ein strengeres Quali-
tätsziel für Oberflächengewässer in Bezug auf Glyphosat und seine Abbau-
produkte einzusetzen;

11. unabhängig von der Forderung nach einem Verbot für tallowaminhaltige
Formulierungen von den Herstellern solcher Beistoffe wissenschaftlich ab-
gesicherte und für die amtliche Lebens- und Futtermittelüberwachung öko-
nomisch tragbare Nachweisverfahren einzufordern und Rückstandshöchst-
mengenwerte zu etablieren, die dem Vorsorgeprinzip ausreichend Rechnung

tragen;

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12. im Rahmen der Bund-Länder-Kooperation bei der Lebens- und Futtermittel-
überwachung darauf hinzuwirken, dass durch ausreichende Mittel und
Personal für mehr Kontrollen und einheitliche Testvorgaben der Länder eine
angemessene Überwachung von Rückstandsbelastungen bei Futter- und
Lebensmitteln sichergestellt wird;

13. in Kooperation mit den Ländern praxistaugliche Empfehlungen für Alter-
nativmaßnahmen zur Glyphosatanwendung (Fruchtfolgen, mechanische
Beikrautbekämpfung, Mulchverfahren) zu erarbeiten und die Beratungs-
angebote und -qualität zu verbessern hinsichtlich des Ziels, eine Land-
bewirtschaftung weitestgehend ohne den Einsatz von Totalherbiziden wie
glyphosathaltige Formulierungen zu ermöglichen;

14. sich auf EU-Ebene aktiv gegen eine (Neu-)Zulassung von herbizidresisten-
ten gentechnisch veränderten Pflanzen sowie für die Schaffung der Mög-
lichkeit von rechtssicheren nationalen Anbauverboten einzusetzen.

Berlin, den 29. November 2011

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

In Deutschland ist der Anteil von Glyphosat an der Gesamtmenge der aus-
gebrachten Pflanzenschutzmittelwirkstoffe in den letzten Jahren auf 15 Prozent
gestiegen, was auf veränderte Landwirtschaftspraktiken wie pfluglose Boden-
bearbeitung und zunehmende Anwendung zur Abreifebeschleunigung vor der
Ernte z. B. von Getreide und Leguminosen (Sikkation) zurückgeführt wird. Da
nach dieser späten Anwendung nicht ausreichend Zeit für einen chemischen
Abbau von Glyphosat besteht und der Wirkstoff in den Pflanzenteilen ge-
speichert wird, ergeben sich hieraus erhebliche Risiken erhöhter Rückstände im
Erntegut. Glyphosat wird auch im Gartenbau, in der Forstwirtschaft, bei der
Produktion von Weihnachtsbäumen und durch Hobbygärtner zur Unkraut-
bekämpfung eingesetzt.

In Ländern wie Argentinien, Brasilien und Paraguay hat sich infolge des ver-
stärkten Anbaus von gentechnisch veränderter Soja mit Glyphosattoleranz die
ausgebrachte Menge an glyphosathaltigen Herbiziden massiv erhöht. Die wach-
sende Zahl von Beikräuterarten, die resistent gegenüber „Roundup“ sind und
vor allem in den USA, Kanada, Argentinien und Brasilien infolge des groß-
flächigen Einsatzes dieses Totalherbizids beim Anbau gentechnisch veränderter
herbizidtoleranter Kulturpflanzen beobachtet werden, führt wiederum zu höhe-
ren Dosierungen. Allein in Argentinien werden inzwischen jährlich 200 Mio.
Liter Glyphosat (Wirkstoff) ausgebracht. Die dort angebauten Sojabohnen
werden als Futtermittel auch nach Deutschland exportiert. Die große Menge der
ausgebrachten Pflanzenschutzmittel erhöht das Risiko hoher Glyphosat-Rück-
standsbelastungen in diesen Importfuttermitteln. Der entsprechend der Verord-
nung (EG) Nr. 396/2005 festgelegte Rückstandshöchstmengenwert für Glypho-
sat liegt in Ölsaaten wie Soja mit 20 mg/kg bereits um den Faktor 200 über dem
Grenzwert für denselben Wirkstoff in frischem Obst oder Gemüse, ohne dass
ausreichend geklärt ist, inwieweit sich Glyphosatrückstände in Nutztieren und
damit in tierischen Lebensmitteln anreichern. Auch das Qualitätsziel (als maxi-
mal zu akzeptierende Belastung) von 64 µg/Liter Glyphosat bei Oberflächen-

wasser ist angesichts der wissenschaftlich unumstrittenen hohen Toxizität von
Glyphosat für Fische, Amphibien und aquatische Ökosysteme und im Vergleich

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/7982

mit dem Grenzwert von 0,1 µg/Liter für Grund- und Trinkwasser als zu hoch an-
gesetzt – auch in Anbetracht der Tatsache, dass 30 Prozent des Trinkwassers in
Deutschland aus Oberflächenwasservorkommen gewonnen werden.

In ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN (Bundestagsdrucksache 17/7168) bestätigt die Bundesregierung,
dass ihr weder Daten über mögliche Glyphosatrückstandsbelastungen in Import-
futtermitteln noch in tierischen Produkten vorliegen und dass es in Deutschland
bislang kein Labor gibt, das in der Lage wäre, Rückstände von POE-Tallowa-
minen nachzuweisen. Zudem ist die Datenlage bei Glyphosatrückständen in
nach Deutschland importierten Futtermitteln angesichts von nur durchschnitt-
lich zehn genommenen Proben pro Jahr absolut ungenügend. Entsprechende
Daten und Nachweisverfahren sind jedoch notwendige Voraussetzung für eine
wissenschaftlich fundierte Risikobewertung von Glyphosat- bzw. Tallowamin-
rückständen in der Futter- und Lebensmittelkette.

Eine Forschergruppe von Embryologen der Universiät Buenos Aires, darunter
der renommierte Prof. Andrés Carrasco, wies in einer 2010 publizierten Studie
nach, dass Glyphosat bereits in sehr geringen Dosierungen weit unterhalb des
verwendeten Niveaus in der landwirtschaftlichen Praxis Missbildungen bei
Hühner- und Froschembryonen in jungen Entwicklungsstadien auslöst (Paga-
nelli, A. et al, 2010). Ursache ist ein durch Glyphosat bewirktes künstlich er-
höhtes Niveau von Retinsäure, die eine Schlüsselrolle bei der Steuerung der
embryonalen Entwicklungsabläufe innehat. Der in dieser Forschungsarbeit ent-
schlüsselte schädliche Einfluss von Glyphosat ist aufgrund der hohen Ver-
gleichbarkeit der Embryonalentwicklung bei allen Wirbeltieren auch auf den
Menschen übertragbar. Diese Annahme wird epidemiologisch bestätigt durch
eine drastische Zunahme von Fehlgeburten sowie Krebserkrankungen und
Missbildungen bei Kindern, die in den letzten Jahren in Kliniken der wichtigs-
ten Sojaanbauregionen Argentiniens registriert worden sind. In einem Bericht
vom April 2010 im Auftrag der Provinzregierung des argentinischen Bundes-
staates Chaco wurde nach Auswertung von Klinikstatistiken bei Kindern eine
Erhöhung der Fallzahl von Krebserkrankungen und Missbildungen um das
Drei- bzw. Vierfache seit dem Jahr 2000 festgestellt. Praxisberichte von Far-
mern aus den USA geben deutliche Hinweise darauf, dass bei Vieh, welches
mit Glyphosatrückständen belastetes Futter aus GVO-Anbau erhält, vermehrt
Fruchtbarkeitsstörungen und Entzündungen des Magen-Darm-Traktes sowie
drastisch erhöhte Raten an Fehlgeburten und Missbildungen auftreten; zudem
wird eine verminderte Fleischqualität von so gefütterten Tieren beklagt.

Auch in früheren Studien im Auftrag der Hersteller, die der Zulassung von
Glyphosat in der EU zugrunde lagen, wurde nach Angaben der unabhängigen
internationalen Wissenschaftlergruppe Earth Open Source das Auftreten von
Geburtsfehlern auch bei Säugetieren (Ratten und Kaninchen) festgestellt, wie
eine Reevaluation der Ergebnisse in den entsprechenden Originaldokumenten
ergab (Antoniou et al.: „Roundup an birth defects. Is the public being kept in
the dark?“, Juni 2011). In den oben genannten Studien wurde reines Glyphosat
ohne Zusätze verwendet, so dass die Schadbefunde nicht mit der hohen Toxi-
zität der Beistoffe wie POE-Tallowamin erklärbar sind, wie von deutschen
Behörden bislang angenommen. Dänische Forscher wiesen zudem 2008 nach,
dass Glyphosat zu einem bedeutenden Teil die Plazentaschranke zwischen
mütterlichem und embryonalem Blutkreislauf überwinden kann. In Deutsch-
land wurden zudem im Mai 2011 erste Indizien öffentlich, dass Glyphosat mög-
licherweise eine verstärkende negative Rolle bei Botulismusinfektionen zu-
kommt.

Neben diesen konkreten Hinweisen auf durch Glyphosat ausgelöste Gesund-

heitsrisiken gibt es zudem gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse zu einem
negativen Einfluss des Wirkstoffs auf die Bodenfruchtbarkeit (u. a. durch Bin-

Drucksache 17/7982 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

dung wichtiger Mineralien wie Eisen, Kupfer, Magnesium und Mangan) sowie
starke Indizien für eine erhöhte Krankheits- und Pilzanfälligkeit der Kultur-
pflanzen und damit deutliche Reduktionen von Ertragshöhe und -sicherheit
(Johal, G. S. et. al 2009; Tesfamariam 2009 et. al; Bott, S. et. al 2008; Neu-
mann, G. et. al 2006). Neue wissenschaftliche Erkenntnisse legen außerdem
nahe, dass der Wirkstoff wesentlich länger als bisher vermutet in abgestorbenen
Pflanzenteilen oder an Tonmineralien gebunden im Boden persistieren und
seine herbizide Wirkung auch nach mehreren Jahren noch entfalten kann.

Nach konkreten Hinweisen auf eine massive Verstärkung der human- und öko-
toxikologischen Effekte glyphosathaltiger Pflanzenschutzmittel, die POE-Tallo-
wamine als Netzmittel enthalten, ordnete das BVL bei den betroffenen For-
mulierungen für den Einsatz in Deutschland den Austausch des Netzmittels
Tallowamin bis 2010 an. Nicht alle Hersteller haben dieser Aufforderung bis-
lang Folge geleistet. Im Vergleich zum Glyphosat wird von einer rund dreifach
höheren Toxizität der Tallowamine ausgegangen. Vor diesem Hintergrund ist es
hoch problematisch, dass auch zahlreiche im Einzelhandel erhältliche Glypho-
satformulierungen zur Unkrautbekämpfung in privaten Gärten und auf befestig-
ten Privatgeländeflächen nach wie vor Tallowamine enthalten. Umwelt- und
Verbraucherschutzorganisationen fordern seit Langem, dass für die Anwendung
in Haus- und Kleingärten nur Pflanzenschutzmittel mit geringem Risiko zuge-
lassen werden dürfen. Unabhängig davon, ob Tallowamine als Netzmittel ent-
halten sind, ist es im Sinne des Vorsorgeprinzips und der Risikominimierung für
Umwelt und Gesundheit daher notwendig, dass die Verwendung von Glyphosat-
formulierungen durch Privatpersonen ohne Sachkunde durch entsprechende Be-
schränkungen unterbunden wird.

Weiterhin verbot das BVL im Januar 2010 zwischenzeitig die Verwendung von
Futtermitteln, bei deren Anbau in Deutschland Pflanzenschutzmittel eingesetzt
wurden, die POE-Tallowamine enthalten. Inzwischen wurden nach der Ein-
reichung neuer Unterlagen beim BVL durch die Hersteller solche Futtermittel
mit Einschränkungen (z. B. bei Stroh) wieder erlaubt, obwohl ausreichend For-
mulierungen ohne Tallowamine vorhanden sind, in Deutschland keine Nach-
weiskapazitäten für Rückstände dieser Substanzen zur Verfügung stehen und
das potentielle Risiko einer Anreicherung in tierischen Lebensmitteln nicht aus-
reichend geklärt ist. Nicht nachvollziehbar ist zudem, warum für Lebensmittel
überhaupt keine Rückstandsgrenzwerte existieren. Annahmen zur Belastung
mit Tallowaminen und dem daraus folgende Gefahrenpotential, welche allein
auf Basis reiner Analogieschlüsse zu Glyphosatrückständen getroffen wurden,
sind aufgrund der hohen Toxizität dieses Netzmittels in keiner Weise risiko-
adäquat.

Die anstehende Neubewertung von Glyphosat muss nach modernen Standards
und dem neuesten Stand der Wissenschaft erfolgen, um den hohen Anforderun-
gen in Bezug auf den vorsorgenden Schutz von Umwelt und Gesundheit zu ent-
sprechen. Aufgrund der Überlastung der zuständigen EU-Behörden infolge der
Umsetzung der EU-Chemikalienverordnung REACH (insbesondere den Ab-
schluss des Altwirkstoffprogramms) besteht aber die Gefahr, dass die Erarbei-
tung der konkreten Vorgaben bezüglich der von den Herstellern vorzulegenden
Unterlagen zur Toxizität entsprechend der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 sich
erheblich verzögert. Dies hätte zur Folge, dass die zu erfolgende Neubewertung
von Glyphosat auf Basis der wissenschaftlich überholten Richtlinie 91/414/EU
durchgeführt wird, anstatt auf Basis der strengeren Verordnung (EG) Nr. 1107/
2009, die ab 2012 die alte Richtlinie ersetzt. Durch geeignete Maßnahmen muss
sichergestellt werden, dass die neuen EU-Vorgaben zur Toxizitätsbewertung bis
zum Beginn der Neubewertung von Glyphosat durch Deutschland als EU-Be-
richterstatter für diesen Wirkstoff (beginnend nach Einreichung der Hersteller-

dossiers bis Mai 2012) vorliegen.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/7982

Die Zulassungsbehörden auf nationaler und europäischer Ebene greifen häufig
und im Wesentlichen auf Studien zurück, die von der Industrie durchgeführt
oder finanziert wurden. Vor diesem Hintergrund muss in den Zulassungsverfah-
ren ein besonderes Augenmerk auf die Problematik möglicher Fehlinterpreta-
tionen oder einer Schönung von Ergebnissen als zu erwartende Folge von Inte-
ressenskonflikten („industrial bias“) gerichtet werden. Das Verblinden der Her-
kunft der Substanz und der Identität des betroffenen Herstellers im Zulassungs-
verfahren stellt eine praktikable Möglichkeit dar, eine stärkere Unabhängigkeit
und Objektivität im Verfahren zu gewährleisten. Zudem ist anzustreben, die
unabhängige Risikoforschung zu stärken.

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