BT-Drucksache 17/7870

Aufbau von Aufnahmeeinrichtungen zur Durchführung von Flughafenverfahren auf dem Flughafen Berlin Brandenburg International

Vom 22. November 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/7870
17. Wahlperiode 22. 11. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sevim Dag˘delen, Diana Golze,
Dr. Lukrezia Jochimsen, Sabine Stüber, Frank Tempel und der Fraktion
DIE LINKE.

Aufbau von Aufnahmeeinrichtungen zur Durchführung von Flughafenverfahren
auf dem Flughafen Berlin Brandenburg International

Das Flughafenasylverfahren nach § 18a des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG)
ist ein Instrument zur Beschleunigung von Asylverfahren, das im Zuge der
massiven Beschränkung des Grundrechts auf Asyl Anfang der neunziger Jahre
geschaffen wurde. Ziel des Flughafenverfahrens ist, einen Aufenthalt von Per-
sonen, die ohne gültige Papiere einreisen und einen Asylantrag stellen wollen,
im Rechtssinne gar nicht erst einreisen zu lassen. Sie werden im Transitbereich
des Flughafens festgehalten, wenn ihr Antrag innerhalb von zwei Tagen durch
das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als offensichtlich unbegründet
abgelehnt wird. Dagegen können innerhalb von drei, bzw. nach einer Entschei-
dung des Bundesverfassungsgerichts, innerhalb von sieben Tagen begründete
Rechtsmittel im Eilverfahren eingereicht werden, wobei die Betroffenen einen
deutlich erschwerten Zugang zu Rechtsberatung und anwaltliche Unterstützung
haben. Das angerufene Gericht muss innerhalb von 14 Tagen über diese Rechts-
mittel entscheiden. Können die Fristen nicht eingehalten werden, ist die Ein-
reise zuzulassen. Wird die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbe-
gründet gerichtlich bestätigt, dient die Unterkunft für das Flughafenverfahren
faktisch zugleich als Abschiebeeinrichtung. Ein solches Schnellverfahren ist
gesetzlich jedoch nur insoweit vorgeschrieben, wie eine entsprechende Unter-
bringung auf dem Flughafengelände überhaupt möglich ist.

Die mit Abstand größte Einrichtung dieser Art befindet sich am Flughafen
Frankfurt/Main. Dort fanden in den Jahren 1999 bis 2008 2 743 von insgesamt
2 990 Flughafenasylverfahren statt. In den Jahren 2002 bis 2008 wurden aus-
nahmslos alle Asylanträge im Flughafenverfahren durch das Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge abgelehnt, zuvor gab es noch 41 Asylanerkennun-
gen. In diesen zehn Jahren wurde insgesamt knapp 3 000 Asylsuchenden nach
einem negativen Flughafenverfahren die Einreise nach Deutschland verwehrt –
es bleiben erhebliche Zweifel, ob diese relativ geringe Zahl die schwerwiegen-
den Eingriffe in ein rechtsstaatliches Verfahren rechtfertigen können (vgl. zu
den Zahlen die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der

Fraktion DIE LINKE. auf Bundestagsdrucksache 16/12742).

Das Flughafenverfahren ist seit seiner Einführung Gegenstand harscher Kritik
von Flüchtlingshilfs- und Menschenrechtsorganisationen. So warf der Förder-
verein PRO ASYL e. V. dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wieder-
holt vor, Anhörungen im Flughafenasylverfahren nicht mit der gebotenen
Sorgfalt durchzuführen. Besonders scharf kritisiert wurde die Inhaftierung
unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge, die im Transitbereich von Flughäfen

Drucksache 17/7870 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

keine angemessene Unterbringung und Betreuung bekommen können. Die
Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz forderte in ei-
nem Beschluss vom 29. Oktober 2011, Asylsuchende müssten ohne vorherige
Schnellverfahren Zugang zu normalen rechtsstaatlichen Asylverfahren bekom-
men (www.ekbo.de/1058433). Matthias Thieme kritisierte in einem Kommentar
in der „Berliner Zeitung“ vom 5. November 2011, das Flughafenverfahren sei
„gemessen am Ursprungsgedanken des Asylrechts eine Perversion“, es gehe
ohne Sachgrund allein um Abschreckung. Die geplante Errichtung eines „Ab-
schiebegefängnisses“ im Berlin-Brandenburger Willy-Brandt-Flughafen sei auf
Druck der Bundesregierung ohne jeden Bedarf und gegen den Widerstand
Brandenburgs gebaut worden, weil die Bundesregierung das Flughafenverfah-
ren in der EU zum Standard machen wolle. Die betreffenden Richtlinien werden
in den Gremien der EU derzeit beraten.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Personen stellten in den Jahren 2009, 2010 und 2011 (nach der-
zeitigem Stand) noch vor ihrer Einreise (im rechtlichen Sinn) in die Bundes-
republik Deutschland über einen internationalen Flughafen einen Antrag auf
Asyl oder anderweitigen Schutz (bitte nach Jahren und wichtigsten Staats-
angehörigkeiten differenzieren), und welche Erkenntnisse liegen der Bun-
desregierung zur Zahl der unbegleiteten Asylsuchenden unter 16 bzw.
18 Jahren vor?

2. Wie viele Flughafenverfahren wurden im genannten Zeitraum durchgeführt,
und mit welchem Ergebnis (bitte nach Jahren, Geschlecht, unter/über 18 Jahre
alt, Flughäfen differenzieren)?

3. Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung zur weiteren Aufenthalts-
dauer abgelehnter Asylsuchender im Transitbereich der Flughäfen vor?

4. Wie lange kann ohne richterlichen Beschluss die Einreise aus dem Transit-
bereich in die Bundesrepublik Deutschland trotz bestehender tatsächlicher
oder rechtlicher Ausreisehindernisse verweigert werden?

5. In wie vielen Fällen in den Jahren 2009 bis 2011 erfolgte nach Ablehnung
des Asylantrags die Zurückweisung bzw. Zurückschiebung in den Her-
kunftsstaat (bitte nach Jahren und den jeweils zehn häufigsten Herkunfts-
staaten auflisten)?

6. In wie vielen Fällen wurde im genannten Zeitraum die Einreise in die
Bundesrepublik Deutschland gestattet und der weitere Aufenthalt geduldet,
weil eine Zurückweisung aufgrund fehlender Identitätsnachweise oder aus
anderem Grund nicht möglich war (bitte nach Jahren und den wichtigsten
Staatsangehörigkeiten differenzieren)?

7. In wie vielen Fällen im genannten Zeitraum erfolgte die Ablehnung des
Asylantrags aufgrund der festgestellten Zuständigkeit eines anderen Staates
im Rahmen der Dublin-Verordnung (bitte jeweils nach Jahren, den zehn
häufigsten Herkunftsstaaten und den zuständigen Dublin-Staaten auflisten)?

8. Wie ist das Flughafenverfahren bei unbegleiteten minderjährigen Flücht-
lingen ausgestaltet, an welche Einrichtungen werden unbegleitete Minder-
jährige durch die Bundespolizei bzw. das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge an den Flughäfen übergeben, und welche kindgerechten Auf-
nahmeeinrichtungen bestehen für die Dauer des Flughafenverfahrens an den
jeweiligen Flughäfen?

9. An welchen Flughäfen mit internationalem Flugverkehr werden derzeit
keine Flughafenverfahren durchgeführt, und wie begründet sich dies im

Einzelnen?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/7870

10. Ist auf dem neuen Flughafen Berlin Brandenburg International (BBI) die
Einrichtung von Kapazitäten für die Durchführung von Flughafenverfahren
geplant?

a) Mit welchen Fallzahlen pro Jahr rechnet die Bundesregierung, und mit
welchen Fallzahlen wird geplant?

b) Welche Kapazität für die Unterbringung von Asylantragstellern im
Transitbereich des BBI ist vorgesehen (z. B. Schlafplätze, Gemein-
schaftsflächen, sanitäre Anlagen, Räume für vertrauliche Gespräche mit
Rechtsvertretern oder Beratern)?

c) Welche Kapazität ist für die Unterbringung von Familien mit minder-
jährigen Kindern im Transitbereich des BBI vorgesehen (z. B. Schlaf-
plätze, Gemeinschaftsflächen, sanitäre Anlagen, Räume für vertrauliche
Gespräche mit Rechtsvertretern oder Beratern)?

d) Welche Kapazität ist für die Unterbringung von unbegleiteten minder-
jährigen Asylsuchenden im Transitbereich des BBI vorgesehen (z. B.
Schlafplätze, Gemeinschaftsflächen, sanitäre Anlagen, Räume für ver-
trauliche Gespräche mit Rechtsvertretern oder Beratern)?

e) Ist vorgesehen, Räume für die Tätigkeit von karitativen Einrichtungen
und anderen Gruppen, die Beratung und Hilfe anbieten, zu schaffen?

Wie soll der Zugang von solchen Einrichtungen ansonsten sichergestellt
werden, soweit er nach EU-Recht gefordert ist?

f) Welche Möglichkeiten zur Kommunikation mit der Außenwelt sind im
Rahmen eines möglichen Flughafenverfahrens vorgesehen?

g) Wie genau soll die medizinische und psychologische Versorgung und
Betreuung Asylsuchender bzw. Ausreisepflichtiger in der Transitunter-
kunft bzw. im Transitbereich sichergestellt werden?

h) Welche sonstigen Einrichtungen oder Möglichkeiten zur Freizeitgestal-
tung sollen den Schutzsuchenden im Transitbereich zur Verfügung
stehen?

11. Sollen die genannten Kapazitäten auch für die Durchführung von Zurück-
weisungshaft genutzt werden und die geplanten Einrichtungen für die
Durchführung des Flughafenverfahrens damit zugleich als Hafteinrichtung
genutzt werden (bitte ausführen)?

12. Ist in der geplanten Transitunterkunft des BBI auch die Unterbringung bzw.
Inhaftierung von Personen vorgesehen, die bei der Einreise zurückgewie-
sen wurden, aber keinen Antrag auf Schutz gestellt haben?

Wie ist diesbezüglich das geplante Verfahren?

Können von dieser Inhaftierung auch alleinreisende Minderjährige betrof-
fen sein, und für welche Zeiträume kann die Inhaftierung für Erwachsene
und für Minderjährige jeweils andauern?

13. Inwieweit ist die Unterbringung alleinreisender Minderjähriger im Transit-
bereich von Flughäfen mit § 42 Absatz 5 des Achten Buches Sozialgesetz-
buch (SGB VIII) vereinbar (bitte begründen)?

14. Wer ist verwaltungsrechtlich und tatsächlich für den Betrieb der Transit-
unterkunft im BBI zuständig?

15. Welche Dienstleistungen im Zusammenhang mit dem Betrieb der Transit-
unterkunft im BBI sollen nach Kenntnis der Bundesregierung an einen
externen Dienstleister vergeben werden, und welchen Stand haben ggf. die

Vergabeverfahren im Einzelnen?

Drucksache 17/7870 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
16. Wer trägt die Kosten für die Unterbringung, Versorgung und Betreuung
Asylsuchender und Ausreisepflichtiger im Transitbereich von Flughäfen
(bitte nach Flughäfen differenzieren)?

Gibt es für den Betrieb und Kostentragung Verwaltungsvereinbarungen,
und welche Behörden sind an diesen Verwaltungsvereinbarungen wie be-
teiligt?

17. In welcher Form und unter welchen Voraussetzungen haben im Einzelnen

a) Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte,

b) Beratungseinrichtungen,

c) Verwandte und Freunde,

d) Menschenrechtsorganisationen,

e) Dolmetscherinnen und Dolmetscher,

f) Pressevertreter

Zugang zu den Personen, die sich in der Transitunterkunft oder ausreise-
pflichtig im Transitbereich des Flughafens befinden (bitte derzeitige Lage
der verschiedenen Flughäfen und der Planungen für BBI darstellen)?

18. Inwieweit trägt nach Ansicht der Bundesregierung noch die ursprüngliche
Rechtfertigung für das Flughafenverfahren, wonach die damit verbundenen
erheblichen Einschränkungen der Verfahrensrechte und der Bewegungs-
freiheit damit gerechtfertigt werden könnten, dass „Asyl nicht nur massen-
haft beantragt, sondern weithin auch ungerechtfertigt zum asylfremden
Zweck der Einwanderung begehrt wird“ (2 BvR 1516/93, Urteil vom
14. Mai 1996, Rn. 37) – angesichts

a) seit 1993 erheblich gesunkener Antragszahlen,

b) der in Relation zu den Antragszahlen sehr geringen Zahl der im Rahmen
von Flughafenverfahren schließlich verweigerten Einreisen,

c) einer Gesamtschutzquote im Asylverfahren in Höhe von zuletzt deutlich
über 20 Prozent (zuzüglich Anerkennungen aufgrund gerichtlicher
Entscheidungen sowie unter Berücksichtigung aus humanitären oder
anderen rechtlichen Gründen gewährten Aufenthaltserlaubnissen)

(bitte nach Unterpunkten differenziert beantworten)?

19. Inwieweit trifft es zu, dass die Bundesregierung auf die Entscheidung Ein-
fluss genommen hat, Unterbringungsmöglichkeiten für Flughafenverfahren
im Flughafen BBI zu schaffen, um ihre Verhandlungsposition auf EU-
Ebene in Bezug auf Bestrebungen, solche vorgelagerten Schnellverfahren
einzuschränken oder abzuschaffen, nicht zu schwächen, und wie ist dies-
bezüglich der derzeitige Verhandlungsstand auf EU-Ebene (bitte genau
darlegen)?

Berlin, den 22. November 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.