BT-Drucksache 17/7717

Praxis der Anhörung von Geduldeten durch Vertreter von mutmaßlichen Herkunftsstaaten

Vom 11. November 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/7717
17. Wahlperiode 11. 11. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sevim Dag˘delen, Petra Pau, Frank
Tempel und der Fraktion DIE LINKE.

Praxis der Anhörung von Geduldeten durch Vertreter von mutmaßlichen
Herkunftsstaaten

Häufiges Hindernis bei der Abschiebung von Menschen, die in Deutschland ver-
geblich um Schutz ersucht haben, sind fehlende Identitätsnachweise oder Pass-
papiere. Ausländerbehörden ergreifen deshalb Maßnahmen, um die Betroffenen
Vertretern ihres mutmaßlichen Herkunftslandes vorzuführen und durch sie iden-
tifizieren zu lassen. Diese Praxis ist mehrmals in den Ruch der Korruption ge-
raten, weil die Vertreter der Herkunftsstaaten für ihre Tätigkeit Tagesgelder und
Spesen von deutscher Seite erhalten – wiewohl sie im Kern hoheitliche Auf-
gaben ihrer Staaten erledigten, nämlich das Ausstellen von Passpapieren (vgl.
u. a. Antworten auf die Kleinen Anfragen der Fraktion DIE LINKE., Bundes-
tagsdrucksachen 16/6528, 16/10515, 17/664). Die Bundespolizei unterstützt die
Ausländerbehörden bei einer Reihe ausgewählter Staaten auf der Basis von § 1
Absatz 2 des Bundespolizeigesetzes in Verbindung mit § 71 Absatz 3 Nummer 7
des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) bei der Beschaffung von Heimreisedoku-
menten auf diesem Wege.

In den „Anwaltsnachrichten Ausländerrecht ANA ZAR“ 4/2011 (http://
auslaender-asyl.dav.de/ANA-ZAR04-11.pdf) wird nochmals ausführlich ein
Fall aus dem Jahr 2008 geschildert, der auch Gegenstand der genannten
Kleinen Anfrage der Fraktion DIE LINKE. war (Antwort auf Bundestags-
drucksache 16/10515). Daraus geht auch hervor, dass die Kosten für die Vor-
führung von 161 (mutmaßlich) sierra-leonischen Staatsangehörigen insgesamt
49 264,48 Euro betrugen, die sich die Bundespolizeidirektion Koblenz zu fast
70 Prozent aus EU-Mitteln finanzieren ließ. Für die Begleitung durch die Bun-
despolizei seien 10 000 Euro an Kosten angefallen. Die Bundesregierung hatte
in der genannten Antwort angegeben, der Bundespolizei seien keine Kosten
entstanden, was nach den nun vorliegenden Fakten jedenfalls als fahrlässige
Täuschung gewertet werden kann.

Wie aus der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Bundestagsdrucksache 17/7440 hervorgeht,
hat das Bundespolizeipräsidium auch in den Jahren 2009 und 2010 Fördermittel
aus dem Europäischen Rückkehrfonds für ein Projekt „Intensivierung und Ver-

besserung der Zusammenarbeit mit ausgewählten westafrikanischen Staaten auf
dem Gebiet der Beschaffung von Heimreisedokumenten sowie der Durchfüh-
rung von Rückführungsmaßnahmen“ bewilligt bekommen. Im Oktober 2011
fanden in Berlin Sammelanhörungen von mutmaßlichen nigerianischen und
sierra-leonischen Staatsangehörigen statt. Die Ausländerbehörden des Landes
Sachsen-Anhalt planten für den 2. November 2011 eine Botschaftsvorführung
von syrischen Staatsangehörigen in Berlin. Das Verwaltungsgericht (VG)

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Magdeburg stoppte mit Beschluss vom 14. Oktober 2011 (5 B 301/11 MD) eine
geplante Vorführung in Berlin, weil es ,nach Kenntnis der Kammer kein […]
„Immigrations Office Sierra Leone“‘ in Berlin gebe – auch nicht in den Räumen
der Berliner Ausländerbehörde, wie in einem behördlichen Vorladungsschreiben
behauptet worden war. Es sei „nicht hinreichend feststellbar, dass es sich bei den
angeblichen Vertretern des Staates Sierra Leone tatsächlich um entsprechend er-
mächtigte Bedienstete dieses Staates handelt“. Bereits im Jahr 2010 hatte die
Kammer „zum Ausdruck gebracht, dass sie gegen derartige Vorführungen Be-
denken hat, weil es Hinweise darauf gibt, dass die Vertreter afrikanischer Staaten
gegen Bezahlung tätig werden und möglicherweise Gefälligkeitsbescheinigun-
gen ausstellen. So haben es das VG Bremen (Beschl. v. 08.01.2010, 4 V 1306/09)
und das VG Lüneburg (Beschl. v. 22.10.2008, 1 B 55/05) gesehen“. Ganz ähn-
lich entschied auch das VG Braunschweig mit Beschluss vom 17. Oktober 2011
(4 B 152/11).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Personen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit wurden 2010 und
2011 nach Kenntnis der Bundesregierung im Rahmen von Verfahren zur
Identitätsfeststellung zur (zwangsweisen) Vorsprache vor Vertretern oder
ermächtigten Bediensteten ihres mutmaßlichen Herkunftsstaates nach § 82
Absatz 4 AufenthG verpflichtet (bitte nach Jahren, beteiligten Bundes-
ländern und mutmaßlichen Herkunftsstaaten auflisten)?

2. Welche Anhörungen im Rahmen von Verfahren zur Identitätsfeststellung
sind 2010 und 2011 in Deutschland durchgeführt worden (bitte nach be-
teiligten Staaten, beteiligten Bundesländern, Ort der Anhörung und Anzahl
der geladenen Personen auflisten)?

3. Wie viele Personen nahmen an diesen Anhörungen teil, und wie viele
konnten im Rahmen dieser Anhörungen identifiziert werden (bitte den
Daten der Frage 2 zuordnen)?

4. In welcher Höhe verlangten bei den oben genannten Anhörungen die aus-
stellenden Staaten bzw. ihre Vertreter Gebühren für die Ausstellung von
Heimreisedokumenten und weitere Dienste?

5. In welcher Höhe verlangen die ausstellenden Staaten bzw. deren Vertreter
Gebühren für die Durchführung der Anhörung unabhängig von einer
erfolgreichen Identifizierung oder der Ausstellung eines Passersatzpapiers
pro angehörter Person (vgl. für den Fall Nigerias http://carava.net/wp-
content/uploads/2008/04/nigerianembassydeportationagency.pdf)?

6. Welche Beträge wurden von der Bundespolizei oder anderen Behörden für
Tagegelder für die Angehörigen von ausländischen Delegationen oder Ver-
tretern 2008 und 2009 aufgewendet (bitte einzeln auflisten)?

7. In welcher Höhe sind weitere Kosten von der Bundespolizei oder anderen
Behörden im Rahmen solcher Anhörungen aufgewendet worden (bitte
nach Kostenpunkten auflisten)?

8. Auf welcher Rechtsgrundlage übernehmen die Bundespolizei bzw. die
kostentragenden Ausländerbehörden die Gebühren für die Ausstellung von
Heimreisedokumenten?

9. Welche Kosten sind durch die ausländischen Staatsangehörigen zu über-
nehmen?

10. Welche deutschen Behörden sind an diesen Sammelanhörungen vor Ver-
tretern ausländischer Staaten beteiligt, und für welche einzelnen Ver-

fahrensschritte bei der Beschaffung von Heimreisedokumenten sind sie
jeweils zuständig?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/7717

11. Wie weit sind Bemühungen gediehen, mit denjenigen Staaten, für die die
Bundespolizei den zuständigen Ausländerbehörden Amtshilfe bei der Be-
schaffung von Heimreisedokumenten leistet, Rückübernahmeabkommen
abzuschließen (bitte einzeln mit derzeitigem Stand auflisten)?

12. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung zur Durchführung von
(zwangsweisen) Vorführungen mutmaßlich aus Syrien stammender, aus-
reisepflichtiger Personen vor Vertretern des Staates Syrien im Jahr 2011,
und sind Abschiebungen nach Syrien aus Sicht der Bundesregierung
derzeit rechtlich und tatsächlich möglich?

13. Wie hoch waren die Ausgaben im Zusammenhang mit dem Projekt „Inten-
sivierung und Verbesserung der Zusammenarbeit mit Nigeria auf dem
Gebiet der Beschaffung von Heimreisedokumenten sowie der Durch-
führung von Rückführungsmaßnahmen“ im Jahr 2008 insgesamt, und
durch wen wurden sie getragen?

14. Welche Ausgaben wurden im Einzelnen (Ausgaben für Begleitung durch die
Bundespolizei, Dolmetscher, Tagegelder, vertrauensbildende Maßnahmen,
Unterkunft von ausländischen Delegationsteilnehmern bzw. Bevollmächtig-
ten, sonstigen Sachkosten) im Rahmen des in Frage 13 genannten Projektes
getätigt?

15. Wie hoch waren die Ausgaben im Zusammenhang mit dem Projekt „Inten-
sivierung und Verbesserung der Zusammenarbeit mit ausgewählten
westafrikanischen Staaten auf dem Gebiet der Beschaffung von Heimreise-
dokumenten sowie der Durchführung von Rückführungsmaßnahmen“ im
Jahr 2009 insgesamt, und durch wen wurden sie getragen?

16. Welche Ausgaben wurden im Einzelnen (Ausgaben für Begleitung durch die
Bundespolizei, Dolmetscher, Tagegelder, vertrauensbildende Maßnahmen,
Unterkunft von ausländischen Delegationsteilnehmern bzw. Bevollmächtig-
ten, sonstigen Sachkosten) im Rahmen des in Frage 15 genannten Projektes
getätigt?

17. Wie hoch waren die Ausgaben im Zusammenhang mit dem Projekt „Inten-
sivierung und Verbesserung der Zusammenarbeit mit ausgewählten
westafrikanischen Staaten auf dem Gebiet der Beschaffung von Heimreise-
dokumenten sowie der Durchführung von Rückführungsmaßnahmen“ im
Jahr 2010 insgesamt, und durch wen wurden sie getragen?

18. Welche Ausgaben wurden im Einzelnen (Ausgaben für Begleitung durch die
Bundespolizei, Dolmetscher, Tagegelder, vertrauensbildende Maßnahmen,
Unterkunft von ausländischen Delegationsteilnehmern bzw. Bevollmächtig-
ten, sonstigen Sachkosten) im Rahmen des in Frage 17 genannten Projektes
getätigt?

19. Gab es auch im Jahr 2011 ein entsprechendes Projekt, welchen Titel hatte
dieses Projekt, und welche Angaben kann die Bundesregierung zum der-
zeitigen Zeitpunkt zu den geplanten und bereits getätigten Ausgaben ins-
gesamt, den einzelnen Ausgabeposten und zu den Kostenträgern und ihren
Anteilen machen?

20. Wie bewertet die Bundesregierung die rechtliche Zulässigkeit solcher Vor-
führungen, nachdem mehrere Verwaltungsgerichte (siehe Vorbemerkung)
Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens geäußert haben und im-
mer wieder von Fällen mutmaßlicher Korruption bzw. von Gefälligkeits-
passausstellungen berichtet wird?

Drucksache 17/7717 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
21. Inwieweit geht die Bundesregierung davon aus, dass durch die gezahlten
Gebühren für die Durchführung der Anhörung und für die Ausstellung
eines Heimreisedokuments für Vertreter der vermeintlichen Herkunfts-
staaten Anreize entstehen, trotz bestehender Zweifel an der Identität (die ja
offenbar von deutschen Behörden nicht zweifelsfrei festgestellt werden
konnte) Papiere auszustellen?

22. Wie bewertet die Bundesregierung die Information (www.fluechtlingsrat-
berlin.de/print_neue_meldungen.php?sid=537), wonach einem Vorgeführ-
ten und seinem Anwalt am 17. Oktober 2011 in der Berliner Ausländer-
behörde gesagt worden sei, sie befänden sich auf exterritorialem (sierra-
leonischem) Gebiet, in dem andere Gesetze als in Deutschland gelten
würden, so dass der Vorgeführte schließlich nicht durch seinen Anwalt
sprechen konnte, in rechtlicher und politischer Hinsicht, und ist ein solches
Vorgehen und die Einschränkung von Anwaltsrechten in einer deutschen
Ausländerbehörde rechtlich zulässig?

Berlin, den 11. November 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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