BT-Drucksache 17/7611

Flugzeugbesatzungen und Reisende vor kontaminierter Kabinenluft schützen

Vom 8. November 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/7611
17. Wahlperiode 08. 11. 2011

Antrag
der Abgeordneten Hans-Joachim Hacker, Ulrike Gottschalck, Heinz Paula, Elvira
Drobinski-Weiß, Petra Ernstberger, Iris Gleicke, Bettina Hagedorn, Hubertus Heil
(Peine), Gabriele Hiller-Ohm, Fritz Rudolf Körper, Ute Kumpf, Andrea Nahles,
Thomas Oppermann, Dr. Frank-Walter Steinmeier und der Fraktion der SPD

Flugzeugbesatzungen und Reisende vor kontaminierter Kabinenluft schützen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Seit Jahren berichten Flugzeugbesatzungen und Passagiere über chemische Ge-
rüche und gesundheitliche Beeinträchtigungen, die durch kontaminierte Kabi-
nenluft ausgelöst wurden. Derartige Vorfälle, wie sie während des Expertenge-
spräches in der 38. Sitzung des Ausschusses für Tourismus des Deutschen
Bundestages am 21. September 2011 geschildert wurden, bergen neben den ge-
sundheitlichen Gefährdungen für die Betroffenen auch ein enormes Risiko für
die Flugsicherheit in sich.

Dieses Expertengespräch im Tourismusausschuss befasste sich mit Ereignissen
auf Grund von kontaminierter Kabinenluft, die als sog. smoke/fume-events be-
zeichnet werden. Dies sind u. a. Vorkommnisse, bei denen durch das Zapfluft-
system der Verkehrsflugzeuge Rückstände von verdampftem Triebwerksöl
angesaugt werden und danach in die Kabinenluft gelangen. Im Triebwerksöl
enthalten sind verschiedene Additive, u. a. das hochgiftige Tri-Kresyl-Phosphat
(TKP, englisch TCP). Gelangen diese Rückstände in die Kabinenluft, kann nicht
ausgeschlossen werden, dass sie ernste gesundheitliche Beeinträchtigungen (ste-
chende Schmerzen in Armen, Händen, Füßen, Schwindel, Taubheitsgefühle,
Muskelschwäche, chronische Müdigkeit, Asthma, Schädigungen des Nerven-
systems, Krebs etc.) hervorrufen (vgl. Ausschussdrucksache 17(20)28a, S. 3 und
Ausschussdrucksache 17(20)28d, ab S. 21 ff.) können. Diese Beeinträchtigun-
gen können zu sicherheitsgefährdenden Folgen für das Flugpersonal und die
Passagiere führen. Einwirkungen auf das Servicepersonal für die Reinigung der
Flugzeuge am Boden sind nicht ausgeschlossen.

Für das betroffene Flugpersonal ist es bislang schwer, zu beweisen, dass lang-
fristige gesundheitliche Schäden durch das Einatmen bzw. anderweitige Auf-
nahme von Giftstoffen während der Tätigkeit an Bord verursacht wurden, denn
bislang fehlt der wissenschaftliche Beweis einer Kausalkette für die Auswirkun-

gen von kontaminierter Kabinenluft auf die menschliche Gesundheit. Eine Er-
krankung mit den beschriebenen Symptomen, das sog. Aerotoxische Syndrom,
wurde bislang von den Berufsgenossenschaften nicht als Berufskrankheit des
fliegenden Personals klassifiziert.

Vorfälle infolge kontaminierter Kabinenluft treten unvorhergesehen auf. Häufig
besteht keine Klarheit darüber, wann es sich um eine Störung bzw. schwere Stö-

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rung nach § 5 der Luftverkehrs-Ordnung (LuftVO) handelt. Stellungnahmen des
Flugpersonals und aktuelle Medienberichte lassen darauf schließen, dass das
Personal im Hinblick auf diese Vorfälle bislang nur ungenügend aufgeklärt und
geschult wurde.

Gemäß § 5 LuftVO sind sog. smoke/fume-events dem Luftfahrt-Bundesamt
(LBA) bzw. der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchungen (BFU) anzuzeigen.
In 2010 wurden bei der BFU zwar von einer deutschen Airline 60 Öldampf-Stör-
fälle gemeldet (vgl. DER SPIEGEL Ausgabe 9/2011). Dennoch besteht offen-
sichtlich eine Diskrepanz zwischen den in den Medien berichteten Vorfällen, bei
denen kontaminierte Kabinenluft vermutet wurde, und den tatsächlich bei der
BFU angezeigten Störfällen. Auch hier besteht dringender Aufklärungsbedarf.

Ein generelles Problem besteht darin, wie auch die Expertenanhörung im Tou-
rismusausschuss am 21. September 2011 gezeigt hat, dass eine gründliche unab-
hängige Untersuchung und Forschung nach den Ursachen und Wirkungen von
kontaminierter Kabinenluft bislang nicht ausreichend betrieben wurde. Daher
fehlen Handlungsanweisungen zur Beseitigung der Ursachen dieser Erschei-
nung auf der Basis gesicherter Erkenntnisse und wissenschaftlich-technischer
Forschungsergebnisse. Nur so können die Stellungnahmen der Experten in der
Tourismusausschusssitzung am 21. September 2011 beurteilt werden, wonach
einvernehmlich festgestellt wurde, dass „ein Problem existiert“, das hinsichtlich
der Ursachen und seiner Wirkung jedoch unterschiedlich bewertet wurde.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

● umfassend Langzeitmessungen zur Belastung der Kabinenluft mit Organo-
phosphaten und anderen Schadstoffen zu veranlassen;

● im Rahmen einer unabhängigen wissenschaftlichen Studie den kausalen Zu-
sammenhang zwischen kontaminierter Kabinenluft und den gesundheitlichen
Auswirkungen weiter erforschen zu lassen und die Entwicklung von geeig-
neten Bluttests zum Nachweis von Organophosphaten im menschlichen Or-
ganismus zu fördern;

● im Rahmen einer Studie unter Einbeziehung der zuständigen Bundesbehör-
den, wie z. B. des LBA, der Luftfahrtunternehmen und Flugzeug- sowie
Triebwerkshersteller die Entwicklung geeigneter Mess-, Kontroll- und Warn-
systeme für gesundheitsgefährdende Stoffe im Bereich des Zapfsystems für
die Kabinenluft aus den Triebwerken zu fördern, damit der Einbau entspre-
chender Technik, wie z. B. Sensoren, in allen Verkehrsflugzeugen mit
Zapfluftsystem erfolgen kann;

● darauf einzuwirken, dass die Flugzeugindustrie Alternativen zu den gegen-
wärtig verwendeten Zapfsystemen für künftig zu entwickelnde Flugzeug-
typen untersucht;

● die Schaffung innovativer Lösungen für geeignete Systeme für die Nutzung
von Zapfluft aus Triebwerken zu fördern, die nicht nur Gerüche, sondern
auch Organophosphate filtern;

● Wartungsstandards im Hinblick auf die Zapfluftsysteme zu überprüfen und
ggf. weiterzuentwickeln sowie deren Einhaltung verstärkt zu kontrollieren;

● darauf einzuwirken, dass vorhandene Messtechniken genutzt werden;

● die Entwicklung von nichttoxischen Schmierölen für Triebwerke voranzu-
treiben;

● Untersuchungen staatlicher Stellen zum Aerotoxischen Syndrom zu veran-
lassen und im Ergebnis prüfen zu lassen, inwieweit das Aerotoxische Syn-

drom die Voraussetzungen für die Anerkennung als Berufskrankheit erfüllt;

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● die zuständige Bundesbehörde aufzufordern, das Kriterium „Kabinenluft“ in
die Gefährdungsanalyse für Cockpit- und Kabinenarbeitsplätze verpflichtend
einzubeziehen;

● durch rechtliche Vorgaben sicherzustellen, dass im Rahmen von Schulungen
für das fliegende Personal die Vorkommnisse mit kontaminierter Luft ausge-
wertet und somit sichergestellt wird, dass die EU-Verordnung 996/2010 um-
gesetzt wird. Hierbei ist auch vorzugeben, dass die Checklisten für Havarie-
fälle sowie die darin verwendeten „smoke & fumes“-Terminologien überar-
beitet werden;

● bestehende Meldevorschriften dahingehend zu überarbeiten, dass nicht nur
„schwere Störungen“ nach § 5 LuftVO den zuständigen Behörden gemeldet
werden müssen, sondern bereits Störungen geringeren Ausmaßes;

● Untersuchungen zu veranlassen, die Aufschluss über mögliche gesundheit-
liche Belastungen des Reinigungspersonals durch Anhaftung von Schadstof-
fen auf Sitzen und Innenverkleidung geben können;

● über ein kontinuierliches Forum den fachlichen Informationsaustausch über
Kabinenluftbelastungen zwischen den betroffenen Bundesministerien und
Bundesbehörden, Gewerkschaften, Verbänden, Berufsgenossenschaften, der
Luftfahrtindustrie und den Luftfahrtunternehmen zu intensivieren;

● sich auf EU-Ebene und international dafür einzusetzen, dass Untersuchungen
zum Thema kontaminierte Kabinenluft durchgeführt und daraus abgeleitete
einheitliche Standards für die Qualitätssicherung der Kabinenluft und ent-
sprechende Prüfverfahren vereinbart werden.

Berlin, den 8. November 2011

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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