BT-Drucksache 17/746

Deutsche Positionen zum internationalen Krisenmanagement in Haiti nach dem Erdbeben vom 12. Januar 2010

Vom 17. Februar 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/746
17. Wahlperiode 17. 02. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Christine Buchholz, Dr. Diether Dehm,
Wolfgang Gehrcke, Annette Groth, Heike Hänsel, Andrej Hunko, Harald Koch,
Alexander Ulrich und der Fraktion DIE LINKE.

Deutsche Positionen zum internationalen Krisenmanagement in Haiti nach dem
Erdbeben vom 12. Januar 2010

Haiti ist eines der ärmsten Länder der Welt und das ärmste Land der westlichen
Hemisphäre. Über die Hälfte der Bevölkerung lebt von weniger als 1,25 US-Dollar
am Tag, drei Viertel der Bevölkerung von weniger als 2 US-Dollar täglich, die
wohlhabendsten 10 Prozent der Bevölkerung verfügen über die Hälfte des gesell-
schaftlichen Reichtums des Karibikstaates (http://hdrstats.undp.org/en/countries/
data_sheets/cty_ds_HTI.html). Haiti war in seiner Geschichte seit dem Sklaven-
aufstand 1791 bis 1804 und der anschließenden formalen Unabhängigkeit mehr-
fach das Ziel ausländischer Interventionen, insbesondere durch die USA, die das
Land u. a. von 1915 bis 1934 besetzt hielten und auch danach mehrere offene so-
wie verdeckte Interventionen durchführten. Die letzte Stationierung US-ameri-
kanischer gemeinsam mit französischen, kanadischen und chilenischen Truppen
fand 2004 statt, nachdem mit ausländischer Hilfe gegen den gewählten Präsiden-
ten Jean-Bertrand Aristide geputscht und dieser nach eigenen Angaben von US-
Soldaten verschleppt wurde. Die französischen, kanadischen, chilenischen und
US-amerikanischen Truppen wurden nach wenigen Wochen durch die UN-
Mission MINUSTAH unter brasilianischer Führung abgelöst. Der MINUSTAH-
Einsatz weicht insofern deutlich von traditionellen UN-Missionen ab, als sich
im Einsatzgebiet keine militärisch organisierten Verbände befinden. Die
MINUSTAH unterstützte die haitianische Nationalpolizei (HNP) bei ihrem
Kampf gegen bewaffnete Gruppen in den Armenvierteln der Hauptstadt Port-au-
Prince – teilweise mit stundenlangem Maschinengewehrfeuer aus Helikoptern –
und übergab dieser im Laufe des Einsatzes mehrere tausend Gefangene, die oft
ohne Anklage und Verurteilung monate- und jahrelang unter katastrophalen Be-
dingungen inhaftiert wurden. Die International Association of Democratic
Lawyers (IADL) forderte vor dem Hintergrund der Beteiligung der MINUSTAH
an schweren Menschenrechtsverletzungen im Juni 2009 die Beendigung der
UN-Mission (http://www.iadllaw.org/en/node/379).

Eine Verbesserung der humanitären Lage durch die Stationierung der MINUSTAH
war hingegen nicht erkennbar und die Bevölkerung blieb überaus verwundbar

gegenüber Naturkatastrophen und abhängig von Lebensmittellieferungen. So
starben im September 2004 durch den Hurrikan „Jeanne“ und schwere Regen-
fälle mehr als 3 000 Menschen in Wasser- und Schlammmassen. Im August und
September 2008 machten vier schwere Wirbelstürme etwa 800 000 Einwohner
obdachlos, mindestens 793 Menschen starben. Wenige Monate zuvor wurde
Haiti aufgrund steigender Lebensmittelpreise von einer Hungersnot heimge-
sucht. Angehörige der MINUSTAH feuerten damals in Demonstrationen gegen

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die steigenden Lebensmittelpreise, die letztlich die Regierung zum Rücktritt
zwangen.

Das Erdbeben vom 12. Januar 2010 forderte über 180 000 Opfer und machte
Millionen Menschen obdachlos. Es rief weltweit Mitgefühl und Solidarität her-
vor, zahlreiche Länder schickten Hilfsgüter und Rettungsteams. Das Nachbar-
land Kuba verstärkte sein medizinisches Fachpersonal, das bereits zuvor in Haiti
unter anderem mit der medizinischen Brigade Kubas, die aus mehr als 400 Ärz-
ten und anderem Fachpersonal aus dem Gesundheitsbereich besteht, und zusam-
men mit 247 jungen Haitianern im Einsatz war. Die Regierung des Senegal bot
an, tausende Haitianer aufzunehmen und ihnen fruchtbares Land zur Verfügung
zu stellen. In den Medien, von Seiten zahlreicher Regierungen sowie der UN
wurden jedoch schnell Sicherheitsbedenken in den Fokus gerückt und vor Plün-
derungen gewarnt. Entsprechend positives Echo fand auch die Stationierung von
mittlerweile 15 400 US-Soldaten auf und vor den Küsten Haitis, obwohl diese
den einzigen internationalen Flughafen Haitis für humanitäre Lieferungen
blockierten. Auf Drängen der US-Regierung rief der Präsident Haitis ohne Rück-
sprache mit dem Parlament den Notstand aus und übertrug Hoheitsrechte an die
USA. Die US-Army hat durch die Kontrolle des Flughafens in Port-au-Prince,
der zwischenzeitlich auch zum De-facto-Regierungssitz umfunktioniert wurde,
großen Einfluss auf die Abfertigung und Verteilung der Hilfsgüter.

Auch die UN strebte trotz der massiven US-Stationierung schnell die Entsendung
weiterer Soldaten und Polizisten an und reagierte auf die humanitäre Katastrophe
somit vor allem sicherheitspolitisch. Die Europäische Union beschloss – nach
eigenen Angaben auf eine Anfrage der UN hin – die Entsendung von 300 Polizis-
ten nach Haiti (wobei es sich dabei um Angehörige der European Gendarmerie
Force und damit um keine zivilen Polizeieinheiten handeln wird) sowie die Ein-
richtung einer Koordinationszelle (EUCO Haiti), „um die militärischen und
Sicherheitskapazitäten, welche die Mitgliedstaaten bereitstellen, zu koordinie-
ren, um die von der UN identifizierten Lücken zu füllen“ (Pressemitteilung des
Rates der Europäischen Union [5686/10] zur 2922. Tagung des Rates für Auswär-
tige Angelegenheiten). Erkennbar war in den Verhandlungen auf europäischer
Ebene das Bestreben, die EU als weltpolitischen Akteur zu präsentieren und die
Rolle der neuen Hohen Vertreterin Catherine Ashton zu unterstreichen. Im Be-
richt aus Brüssel 01/2010 des Europa-Referats im Deutschen Bundestag wird die
Erdbebenkatastrophe in Haiti entsprechend als „Testfall für die neuen Zuständig-
keiten in der EU“ bezeichnet.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Inwiefern ist nach Ansicht der Bundesregierung in einer Situation wie in
Haiti, wo sich weder Identitäten noch Eigentumsverhältnisse schnell und ein-
deutig klären lassen, wo Hunderttausende in den Trümmern nach brauchbaren
Gegenständen und Verschütteten suchen und wo die Menschen unter einem
akuten Mangel an Trinkwasser und Nahrungsmitteln leiden, überhaupt von
„Plünderungen“ zu sprechen?

Wie unterscheiden sich solche von zweifellos notwendiger Not- und Selbst-
hilfe?

Welche Priorität sollte nach Ansicht der Bundesregierung in solchen existen-
ziellen Notlagen die Durchsetzung von ohnehin nicht eindeutig zu klärenden
Eigentumsverhältnissen haben?

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2. Hat die Bundesregierung die Zustimmung zur UN-Resolution 1908 (2010)
unterstützt und begrüßt?

Teilt sie die Auffassung, dass auch diese sehr knappe Resolution, die bereits
eine Woche nach dem Erdbeben lediglich eine Erhöhung des Personals der
MINUSTAH vorsah (und zwar um 2 000 Soldaten und 1 500 Polizisten), die
Tendenz befördert haben könnte, dass die Katastrophe in Haiti in der inter-
nationalen Öffentlichkeit vor allemals Sicherheitsproblem wahrgenommen
wird?

3. Wann erhielt die Bundesregierung erste gesicherte Informationen über
Gewalttaten in Haiti nach dem Erdbeben, und um welche Art der Gewalt
handelte es sich?

Woher stammten diese Informationen?

4. Wie viele Soldaten und Polizisten sind nach Kenntnis der Bundesregierung
gegenwärtig im Rahmen der MINUSTAH in Haiti und einsatzbereit?

5. Welchen Mehrwert sieht die Bundesregierung vor diesem Hintergrund und
angesichts der Tatsache, dass zu diesem Zeitpunkt schon etwa 10 000 US-
Soldaten nach Haiti entsandt wurden, in der Aufstockung des UN-Mandates?

Stimmt sie zu, dass dies eher als symbolische Handlung zu verstehen ist?

6. Sieht die Bundesregierung in der Reaktion durch die Resolution 1908
(2010), die unter Kapitel VII UN-Charta verabschiedet wurde, einen Präze-
denzfall dafür gegeben, dass befürchtete Massenmigrationen aufgrund von
Naturkatastrophen als „eine Bedrohung für den internationalen Frieden und
die Sicherheit in der Region“ interpretiert werden, oder worin besteht diese
Bedrohung nach Auffassung der Bundesregierung?

7. Worin sieht die Bundesregierung einen Mehrwert in der Entsendung von
„mindestens 300“ Gendarmen unter der Führung der European Gendarmerie
Force (EGF) nach Haiti?

Worin besteht dabei konkret die Rolle der Europäischen Union angesichts
der Tatsache, dass die EGF lediglich das Projekt einiger Mitgliedstaaten,
basierend auf einem noch nicht ratifizierten Vertrag und institutionell in
keiner Weise in die EU eingebunden, ist und es über deren Entsendung keine
Abstimmungen in den nationalen Parlamenten gibt?

8. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die Entsendung der EGF die
Wahrnehmung der Europäischen Union als außen- und sicherheitspoli-
tischer Akteur in der internationalen Gemeinschaft stärkt?

9. Ist der Bundesregierung die Kritik von Seiten des französischen Außen-
ministeriums, des italienischen Katastrophenschutzexperten Guido Bertolaso,
der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, weiterer Hilfsorganisationen oder
von Seiten mehrerer Flugsicherungen in der Karibik bekannt, wonach die
USA die Landung von Frachtmaschinen mit humanitären Gütern und mobi-
len Lazaretten verhindert und verzögert, die Stationierung von US-Soldaten
und Evakuierung von US-Bürgern den ohnehin überlasteten Flughafen
blockiert hätten und die USA generell „militärisches Eingreifen mit huma-
nitärer Hilfe zu verwechseln“ drohten (http://de.reuters.com/article/
worldNews/ idDEBEE60O0FU20100125)?

10. Hat die Bundesregierung diese Kritik aufgegriffen und gegenüber den USA
zur Sprache gebracht?

11. Begrüßt die Bundesregierung die herausragende Rolle, welche die USA bei
der Koordination der internationalen Hilfe für Haiti für sich beanspruchen?

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12. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass, wie die Stiftung Wissen-
schaft und Politik schreibt, „eine dauerhafte Präsenz dieser militärischen
Hilfsmission [der USA] nicht nur in der Region, sondern auch auf Haiti
selbst bald zu politischen Konflikten führen [dürfte]“?

13. Teilt die Bundesregierung die im „Newsletter Verteidigung“ formulierte
Auffassung, wonach die Truppenverlegungen „nicht zuletzt erfolgten, um
eine nunmehr im Süden der USA (Florida) befürchtete Flüchtlingswelle aus
Haiti zu unterbinden, [...] aber auch die außenpolitischen Probleme der USA
in Südamerika, hier insbesondere mit Venezuela, [...] dazu beigetragen
haben [könnten], dass das Engagement der Amerikaner in Haiti sich so kraft-
voll entfalten konnte.“?

14. Hält die Bundesregierung den Einsatz militärischer Mittel zur Eindämmung
von „Flüchtlingswellen“ für legitim?

15. Wie bewertet die Bundesregierung vor diesem Hintergrund, dass die Nieder-
lande den USA in ihren nahe Venezuela gelegenen autonomen Landesteilen
Aruba und Curaçao militärische Einrichtungen zur Verfügung stellen, von
denen aus es nach Angaben aus Venezuela bereits mehrfach zu Verletzungen
des venezolanischen Luftraumes durch die USA gekommen sein soll?

Wie bewertet die Bundesregierung dies vor dem Hintergrund der wachsen-
den Spannungen zwischen Venezuela und Kolumbien, das ebenfalls der
Stationierung US-amerikanischer Truppen zugestimmt hat?

16. Wie bewertet die Bundesregierung den Umstand, dass mit dem ehemaligen
US-Präsidenten William Clinton ein hoher Repräsentant der USA als UN-
Sondergesandter für Haiti ernannt wurde, vor dem Hintergrund, dass die
von den US-Regierungen der 80er und 90er Jahre in Haiti durchgesetzten
Entwicklungskonzepte wesentlich zur wirtschaftlichen Abhängigkeit des
Landes und damit mittelbar zur katastrophalen Versorgungslage nach dem
Erdbeben beigetragen haben?

Wie beurteilt sie die Delegation der Hilfskoordination durch die US-Regie-
rung an die ehemaligen Präsidenten William Clinton und George W. Bush,
unter deren Präsidentschaft die USA jeweils in Haiti militärisch interve-
nierten?

17. Welche deutschen Einrichtungen, Vereine und Anstalten sind nach Kenntnis
der Bundesregierung in den ersten 14 Tagen nach dem Erdbeben in Haiti
aktiv geworden und auf welche Weise (bitte nach Datum, Organisation, Aus-
rüstung und Personalumfang aufschlüsseln)?

Welche der genannten Organisationen sind auf Initiative der Bundesregie-
rung hin aktiv geworden?

18. Zieht die Bundesregierung hieraus den Schluss, dass diese Organisationen
auch für den Katastrophenschutz in Deutschland zukünftig stärker unter-
stützt werden müssen, und dass Zentralisierungstendenzen im Katastrophen-
schutz, wie sie gegenwärtig in Deutschland zu erkennen sind, nicht unbe-
dingt wünschenswert sind?

19. Welchen Mehrwert verspricht sich die Bundesregierung von der Einrichtung
einer Koordinationszelle (EUCO Haiti)?

Besteht deren Aufgabe auch in der Koordination humanitärer Maßnahmen?

Worin sieht die Bundesregierung den Vorteil, dass in dieser Koordinations-
zelle militärische und zivile Maßnahmen gemeinsam koordiniert werden
sollen?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/746

20. Wie bewertet die Bundesregierung die Kompetenzstreitigkeiten zwischen
den EU-Einrichtungen u. a. aufgrund des Vertrages von Lissabon im Vorfeld
der Sitzung des Rates für Auswärtige Angelegenheiten am 25. Januar 2010?

Hält sie den Ausdruck „Testfall“ für die Katastrophe in Haiti für angemessen
(s. Bericht aus Brüssel 01/2010 des Europa-Referats im Bundestag)?

21. Hat die Bundesregierung im März 2008 auf den außerordentlichen Aufruf
des World Food Programme (WFP) reagiert, in dem die Regierungen auf-
gerufen wurden, Geld bereitzustellen, um die Folgen der erhöhten Lebens-
mittelpreise abzumildern (http://documents.wfp.org/stellent/groups/public/
documents/newsroom/wfp174162.pdf), und wenn ja, wie?

22. Hat die Bundesregierung im September 2008 auf den Aufruf des WFP rea-
giert, das infolge der vier Wirbelstürme die Geberländer aufforderte, 34 Mio.
US-Dollar bereitzustellen, um die 800 000 Betroffenen in Haiti notdürftig zu
versorgen (http://one.wfp.org/english/?ModuleID=137&Key=2931), und
wenn ja, wie?

23. Beteiligte oder beteiligt sich die Bundesregierung an der Initiative von
Soaring Food Prices (ISFP), die im Dezember 2007 ins Leben gerufen
wurde, um die Folgen der steigenden Lebensmittelpreise u. a. durch die Ver-
teilung von Saatgut abzumildern und bei der Haiti ein Schwerpunktland war
(http://www.fao.org/newsroom/common/ecg/1000826/en/ISFP.pdf)?

Wenn ja, in welcher Form, und wenn nein, warum nicht?

Wurden in diesem Rahmen auch Projekte in Haiti unterstützt?

Zu welchem Anteil wurden die zugesagten Summen bislang bereitgestellt?

24. Wie viele Menschen mit haitianischer Staatsbürgerschaft studieren nach
Kenntnis der Bundesregierung in Deutschland?

Welche Programme und Stiftungen, die den Bildungsaustausch mit Haiti
und Stipendien für haitianische Staatsbürger bereitstellen, unterstützt die
Bundesregierung und in welchem Umfang?

25. Stimmt die Bundesregierung der Empfehlung der Stiftung Wissenschaft und
Politik zu, wonach im Rahmen der zukünftigen Maßnahmen der internatio-
nalen Gemeinschaft in Haiti „die Verteilung von Nahrungsmitteln und
Geldern für den Lebensunterhalt an Arbeitsleistungen im Rahmen des
Wiederaufbaus gebunden sein [sollte]“ (http://swp-berlin.org/common/
get_document.php?asset_id=6765)?

Berlin, den 10. Februar 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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