BT-Drucksache 17/685

Stand der Entwicklung von Leitlinien für Einsätze der EU-Grenzschutzagentur FRONTEX

Vom 10. Februar 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/685
17. Wahlperiode 10. 02. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Annette Groth, Halina Wawzyniak und der
Fraktion DIE LINKE.

Stand der Entwicklung von Leitlinien für Einsätze der EU-Grenzschutzagentur
FRONTEX

Die EU-Grenzschutzagentur FRONTEX war in den vergangenen Jahren regel-
mäßig Gegenstand von Kleinen Anfragen an die Bundesregierung. Sowohl im
parlamentarischen Rahmen als auch in der Publizistik und der Arbeit von
Nichtregierungsorganisationen geht es um die Rolle von FRONTEX bei der
Abwehr von Flüchtlingen und illegalisierten Migrantinnen und Migranten, die
über Osteuropa und die südlichen Seegrenzen versuchen, in die EU zu ge-
langen. Juristisch umstritten ist vor allem die Frage, inwieweit Grenzschutz-
beamte in von FRONTEX koordinierten Einsätzen in internationalen Ge-
wässern („extraterritorial“) an das Zurückweisungsverbot (Refoulement-Verbot)
der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) bzw. der Europäischen Menschen-
rechtskonvention (EMRK) und anderer Menschenrechtsabkommen gebunden
sind. Während bei der GFK die extraterritoriale Wirkung nach Auffassung der
Bundesregierung umstritten ist (vom Hohen Flüchtlingskommissar der Ver-
einten Nationen wird sie hingegen klar bejaht), ist sie im Rahmen der EMRK
infolge der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-
rechte allgemein anerkannt.

Bereits seit 2007 wird in den zuständigen Gremien der EU um die Formulie-
rung von „Leitlinien“ gerungen, die das Handeln von Grenzschutzbeamtinnen
und -beamten und die Zuständigkeiten in FRONTEX-Einsätzen insbesondere
auf Hoher See regeln und vereinheitlichen sollen. Hierzu gehört die Frage der
Geltung des Zurückweisungsverbots ebenso wie Maßnahmen zur Abwehr,
Rettung und Ausschiffung von Bootsflüchtlingen – von denen Tausende seit
2007 ums Leben gekommen sind oder die ohne Prüfung ihres Asylgesuchs in
unsichere Drittstaaten zurückgewiesen wurden. Seit 2007 liegt auch die Studie
des Deutschen Instituts für Menschenrechte „Grenzschutz und Menschen-
rechte“ vor, mit der eine effektive und umfassende Beachtung des Flüchtlings-
schutzes auch auf Hoher See und die Verbringung von Schutzsuchenden in
einen Mitgliedstaat der EU gefordert wird.

In dem Entwurf eines Beschlusses des Rats zur Ergänzung des Schengener
Grenzkodex vom 21. Januar 2010 (Ausschussdrucksache 17(4)14 A) wird in
den Vorschriften für FRONTEX-Einsätze die Beachtung des „Grundsatzes der
Nichtzurückweisung“ in allgemeiner Form zwar festgeschrieben: Die „aufge-
griffenen oder geretteten Personen“ seien „auf geeignete Weise zu informieren,
so dass sie Gründe vorbringen können, aufgrund derer sie annehmen, dass die
Ausschiffung an dem vorgeschlagenen Ort gegen den Grundsatz der Nicht-
zurückweisung verstößt“. In den Leitlinien zur „Ausschiffung“ wird jedoch
offengelassen, wie ein solches Prüfverfahren auf Hoher See ausgestaltet wer-

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den soll, welche konkreten Folgen ein Schutzgesuch auf Hoher See hat und
welche Mitgliedstaaten gegebenenfalls zur Aufnahme und Durchführung eines
Asylverfahrens zuständig sein sollen.

Der Parlamentarische Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz, Dr. Max
Stadler (FDP), hat auf einer Tagung Ende Januar 2010 den Standpunkt ver-
treten, dass auf Hoher See aufgegriffene schutzsuchende Bootsflüchtlinge zur
Prüfung des Asylbegehrens in einen europäischen Hafen gebracht werden
müssten (Süddeutsche Zeitung vom 1. Februar 2010). Der ehemalige Parlamen-
tarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, Peter Altmaier, be-
zeichnete es auf derselben Tagung als „zutiefst inhuman“, dass sich Flüchtlinge
auf dem Meer in Lebensgefahr bringen müssten, ehe sie in Europa die Chance
auf Asyl erhielten. In seiner damaligen Funktion als Staatssekretär hatte er die
extraterritoriale Wirkung des Zurückweisungsverbots allerdings bestritten und
in einer Sitzung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages am 18. Juni
2008 sogar davon gesprochen, dass sich die Schengen-Außengrenzen in einem
sehr guten Zustand befänden.

Da sich die Bundesregierung nach Selbstauskunft (vgl. Bundestagsdrucksache
17/368, Vorbemerkung der Bundesregierung) für „die Beachtung des Refoule-
ment-Verbots“ in den Grundsätzen der Leitlinien eingesetzt hat, erhoffen sich
die Fragestellerinnen und Fragesteller von ihr nähere Auskunft dazu, wie die
entsprechende Regelung genau zu verstehen ist und was aus ihr folgt.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Überlegungen waren für die Wahl des jetzigen Wortlauts der Leit-
linie bezüglich des Zurückweisungsverbots entscheidend, und wie ist die
Regelung unter Punkt 1.2. exakt zu verstehen?

2. Ist mit dem „Grundsatz der Nichtzurückweisung“ in Punkt 1.2 das Zurück-
weisungsverbot der GFK und/oder der EMRK und/oder anderer menschen-
rechtlicher Abkommen oder noch etwas anderes gemeint (bitte genau aus-
führen)?

3. Wie genau müssen die „Gründe“ bzw. die drohenden Gefahren beschaffen
sein, die Personen auf Hoher See vorbringen müssen, um sich auf den
Grundsatz der Nichtzurückweisung berufen zu können?

4. Wie genau werden aufgegriffene oder gerettete Personen „auf geeignete
Weise“ darüber „informiert“, dass sie „etwaige Gründe vorbringen können“,
die gegen eine Zurückweisung sprechen, insbesondere angesichts zu er-
wartender sprachlicher Verständigungsprobleme (soll es beispielsweise
Dolmetscher oder Informationsblätter geben, und wenn ja, in welchen Spra-
chen)?

5. Müsste angesichts zu erwartender Sprachprobleme und der Unmöglichkeit
sorgsamer Befragungen während Abwehr- bzw. Rettungseinsätzen auf
Hoher See nicht bereits das Wort „Asyl“ oder andere entsprechende einfache
„Gesten“ ausreichen, um davon auszugehen, dass sich die entsprechenden
Personen auf den „Grundsatz der Nichtzurückweisung“ berufen wollen
(bitte ausführen)?

6. Genügt das Vorbringen eines Schutzgesuchs, um entsprechende Folgemaß-
nahmen einzuleiten, oder muss dieses Schutzgesuch „glaubwürdig“ vorge-
tragen oder in irgendeiner Form belegt werden, und wenn ja, welche Krite-
rien sollen hierbei gelten, und wie wird dies in der Praxis auf Hoher See
geschehen?

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7. Wieso gibt es trotz der umfangreichen Detailregelungen zu anderen Fragen
in dem Beschlussvorschlag zu den Vorschriften bzw. zur Leitlinie für
FRONTEX-Einsätze an den Seegrenzen keine konkreten Vorgaben dazu,
wie verfahren werden soll, wenn die Gefahr einer Verletzung des Zurück-
weisungsverbots vorgebracht und/oder glaubhaft gemacht wurde?

8. Wie sollen nach Ansicht der Bundesregierung die vorgebrachten Gründe
geprüft werden, ist dies nach ihrer Auffassung auf Hoher See möglich, und
was soll insbesondere hinsichtlich des Grundsatzes eines effektiven
Rechtsschutzes gelten, d.h. bezüglich der Frage einer gerichtlichen Über-
prüfungsmöglichkeit mit aufschiebender Wirkung (bitte entsprechend der
Frage differenziert beantworten)?

9. Nach welchem Verfahren wird gegebenenfalls ein EU-Land bestimmt, das
dann für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig ist?

10. Was genau ist darunter zu verstehen, dass „die Einzelheiten für die Aus-
schiffung der aufgegriffenen oder geretteten Personen im Einklang mit
dem Völkerrecht und etwaigen bilateralen Abkommen festzulegen“ sind
(Punkt 4.1 der Leitlinien)?

a) Ist mit „im Einklang mit dem Völkerrecht“ insbesondere auch oder aus-
schließlich der „Grundsatz der Nichtzurückweisung“ gemeint, oder
etwas anderes (wenn ja, was konkret)?

b) Hat die Bestimmung in Punkt 4.1, wonach nicht am Einsatz teil-
nehmenden Mitgliedstaaten keine Verpflichtungen auferlegt werden,
nicht zur Konsequenz, dass eine Aufnahme und faire Verteilung von
Schutzsuchenden innerhalb der gesamten EU unmöglich ist (bitte aus-
führen), und wie bewertet die Bundesregierung dies?

11. Wieso wurde die Regelung zur Beachtung des Zurückweisungsverbots
zwar in den allgemeinen Teil aufgenommen, im Punkt 4.2 der Leitlinie
aber, wo es um die konkrete „Ausschiffung“ geht (d. h. im Regelfall um
eine Zurückbringung in das Drittland, von dem aus das Schiff startete),
keine konkrete Umsetzung dieses Grundsatzes vorgegeben (außer der vor-
gesehenen Information der Leitstelle)?

12. Was bedeutet es konkret, dass entsprechend Punkt 4.2 der Leitlinie nach
entsprechenden Schutzgesuchen „im Einsatzplan festgelegt“ werden soll,
„welche Folgemaßnahmen getroffen werden können“?

a) Welche „Folgemaßnahmen“ können dies beispielhaft sein?

b) Wer konkret legt die „Folgemaßnahmen“ im Einsatzplan fest?

c) Welche Regeln und Vorgaben sollen bei der Wahl der getroffenen
„Folgemaßnahmen“ gelten?

d) Was bedeutet es konkret, dass Folgemaßnahmen „im Einsatzplan fest-
gelegt“ werden für die konkrete Situation auf dem Schiff auf Hoher See?

e) Ist nicht bereits vor Beginn eines FRONTEX-Einsatzes davon auszu-
gehen, dass es zu Schutzgesuchen auf Hoher See kommen wird, und
wenn ja, warum werden entsprechende „Folgemaßnahmen“ nicht vorab
festgelegt?

f) Werden mit der gewählten Formulierung in Punkt 4.2 der Leitlinie nicht
alle im Zusammenhang eines effektiven Flüchtlingsschutzes entschei-
denden Fragen offengelassen (wie soll geprüft werden, welches Land ist
zuständig usw., bitte begründen)?

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13. Was folgt daraus, dass die Leitlinien in Teil II in dem Beschlussvorschlag
ausdrücklich als „nicht verbindlich“ bezeichnet werden?

14. Was bedeutet es, dass auf Hoher See der „Asyl-Besitzstand“ der EU, insbe-
sondere die Asyl-Verfahrensrichtlinie (Erwägungsgrund 3 des Beschluss-
vorschlags), offenkundig nicht gelten soll, und welchen weiteren Hand-
lungsbedarf sieht die Bundesregierung hinsichtlich einer Fortentwicklung
des EU-Sekundärrechts, um es mit den Anforderungen eines effektiven
und umfassenden Flüchtlings- und Menschenrechtsschutzes auch auf
Hoher See in Einklang zu bringen (bitte ausführen)?

15. Wo konkret und inwieweit findet sich in dem aktuellen Beschlussvorschlag
wieder, was die Bundesregierung auf Bundestagsdrucksache 17/368 aus-
geführt hat, dass nämlich die Formulierung des Zurückweisungsverbots an
die EMRK „angelehnt“ sei?

16. Hat es innerhalb der Bundesregierung eine Änderung der Rechtsauffassung
bezüglich der extraterritorialen Geltung des Zurückweisungsverbots der
EMRK gegeben, und wenn ja, wann, und aus welchen Gründen, und wenn
nein, wieso hat die Bundesregierung ihre diesbezügliche Auffassung bis-
lang trotz mehrfacher parlamentarischer Anfragen nicht klar und offen be-
kundet (bitte ausführen)?

17. Folgt aus der Feststellung, dass das Zurückweisungsverbot der EMRK
extraterritoriale Wirkung hat und dies allgemein anerkannt sei, nicht zwin-
gend, dass Personen, die auf Hoher See um den entsprechenden Schutz
nachsuchen, in ein Land der EU verbracht werden müssen, um dort in
einem rechtsstaatlichen und sorgfältigen Verfahren die Begründetheit eines
befürchteten Verstoßes gegen die EMRK prüfen zu können – wie dies von
Staatssekretär Dr. Max Stadler auch vorgetragen wurde (siehe Vorbemer-
kung, wenn nein, bitte ausführlich begründen)?

18. Inwieweit stimmt die Bundesregierung der Auffassung zu, dass eine dro-
hende Verfolgung im Sinne der GFK in den meisten Fällen hilfsweise auch
als ein Verstoß gegen die EMRK gewertet werden kann (wenn nein, bitte
ausführlich begründen)?

19. Was genau ist im Sinne des Beschlussentwurfs als „sicherer Ort“ zu ver-
stehen, und gehört zur „Sicherheit“ insbesondere auch, dass an diesem Ort
ein effektiver Schutz vor Zurückweisung oder Abschiebung bei drohender
Verfolgung oder drohendem Verstoß gegen die EMRK gelten muss?

20. Sind nach Auffassung der Bundesregierung Initiativen auf europäischer
Ebene erforderlich, um sicherzustellen, dass Kapitäne und Schiffspersonal,
die sich an Lebensrettungsmaßnahmen auf Hoher See beteiligen, deshalb
strafrechtlich nicht verfolgt werden, und wenn ja, welche, und was unter-
nimmt sie diesbezüglich, und wenn nein, warum nicht?

21. Sind nach Auffassung der Bundesregierung Initiativen auf europäischer
Ebene erforderlich, um eine gerechte Verteilung geretteter Bootsflücht-
linge, die um Schutz nachsuchen, innerhalb der EU zu erreichen, und wenn
ja, welche, und was unternimmt sie diesbezüglich, und wenn nein, warum
nicht?

22. Ist der Bundesregierung bekannt, ob auch im Rahmen von FRONTEX-
Operationen (z. B. Nautilus III in den Gewässern um Malta) Schiffe nach
Libyen zurückgeschifft wurden, und wie bewertet die Bundesregierung
gegebenenfalls solche Zurückschiffungen angesichts des Zurückweisungs-
verbots und den bekannt katastrophalen Zuständen für Flüchtlinge in
Libyen?

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23. Hält die Bundesregierung die Beachtung des Zurückweisungsverbots auch
bei den quantitativ vermutlich weit bedeutsameren Grenzschutzaktivitäten
der EU-Mitgliedstaaten (d. h. ohne FRONTEX-Beteiligung)

a) für erforderlich,

b) für völkerrechtlich geboten,

und welche Maßnahmen ergreift sie gegebenenfalls, um das Völkerrecht
und einen effektiven Menschenrechtsschutz im „Raum der Freiheit, der
Sicherheit und des Rechts“ durchzusetzen?

24. Hält die Bundesregierung Zurückweisungen von auf Hoher See um Schutz
nachsuchenden Personen ohne inhaltliche Prüfung ihres Schutzgesuchs
nach Libyen für völkerrechtswidrig (bitte begründen), und was unternimmt
sie, um entsprechende Zurückweisungen z. B. durch die italienischen Be-
hörden zu stoppen?

25. Inwieweit geht die Strategie bei FRONTEX-Einsätzen dahin, im Rahmen
der internationalen Zusammenarbeit mögliche Flüchtlinge mit ihren Schif-
fen bereits in der 12- bzw. 24-Meilen-Zone der afrikanischen Transitstaaten
abzufangen und zurückzuschicken, um damit das Zurückweisungsverbot
zu umgehen?

26. Inwieweit ist die Erklärung eines FRONTEX-Sprechers (vgl. ap-online
vom 6. Oktober 2009), der Vorwürfe, wonach Tausende Bootsflüchtlinge
von FRONTEX „mitten auf der Überfahrt Richtung Europa“ zur Umkehr
gezwungen worden seien, mit dem Argument zurückwies, die Zurückwei-
sungen hätten noch in den Hoheitsgewässern (22-km-Zone) westafrikani-
scher Staaten (Senegal, Mauretanien) stattgefunden, bzw. inwieweit ist eine
solche Praxis vereinbar mit dem Menschenrecht auf Ausreise und Asylsu-
che bzw. mit dem Zurückweisungsverbot der GFK und EMRK (bitte be-
gründen)?

Berlin, den 10. Februar 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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