BT-Drucksache 17/6391

a) zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Kipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. -17/5174- Sanktionen im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und Leistungseinschränkungen im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch abschaffen b) zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Fritz Kuhn, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN -17/3207- Rechte der Arbeitsuchenden stärken - Sanktionen aussetzen

Vom 30. Juni 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6391
17. Wahlperiode 30. 06. 2011

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)

a) zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Kipping, Diana Golze,
Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE.
– Drucksache 17/5174 –

Sanktionen im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und Leistungseinschränkungen
im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch abschaffen

b) zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Fritz Kuhn, Markus Kurth,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
– Drucksache 17/3207 –

Rechte der Arbeitsuchenden stärken – Sanktionen aussetzen

A. Problem

Die Fraktion DIE LINKE. fordert, alle Sanktionen in der Grundsicherung nach
dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) und alle Leistungseinschränkun-
gen im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) ersatzlos abzuschaffen.
Eine Unterschreitung des Existenzminimums solle gesetzlich ausgeschlossen
werden. Die geltenden Regelungen verstießen gegen die grundgesetzlich ge-
schützte Menschenwürde.

Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordert eine Reform der Grundsi-
cherung für Arbeitsuchende, um deren Mitwirkungsmöglichkeiten zu verbes-
sern und ihre Rechte zu stärken. Unter anderem sollten Arbeitsuchende künftig
zwischen angemessenen Qualifizierungsmaßnahmen wählen und ihren An-
sprechpartner im Konfliktfall wechseln können. Bis diese Änderungen um-
gesetzt seien, sollten Sanktionen nach dem SGB II ausgesetzt werden. Darüber
hinaus dürfe der Grundbedarf für die gesellschaftliche Teilhabe auch künftig
nicht mehr durch Sanktionen angetastet werden.

Drucksache 17/6391 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

B. Lösung

Zu Buchstabe a

Ablehnung des Antrags auf Drucksache 17/5174 mit den Stimmen der
Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Frak-
tion DIE LINKE. bei Stimmenthaltung der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN.

Zu Buchstabe b

Ablehnung des Antrags auf Drucksache 17/3207 mit den Stimmen der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen der Fraktionen
DIE LINKE. und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei Stimmenthaltung der
Fraktion der SPD.

C. Alternativen

Annahme der Anträge.

D. Kosten

Kostenrechnungen wurden nicht angestellt.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/6391

Beschlussempfehlung

Der Bundestag wolle beschließen,

a) den Antrag auf Drucksache 17/5174 abzulehnen,

b) den Antrag auf Drucksache 17/3207 abzulehnen.

Berlin, den 29. Juni 2011

Der Ausschuss für Arbeit und Soziales

Katja Kipping
Vorsitzende und Berichterstatterin

Versagen der Leistungsberechtigungen gemäß den Grund-
● Lara Schwarzlos, Schleswig,
sätzen des Forderns ermöglichten.

Zu Buchstabe b
● Prof. Dr. Stephan Lessenich, Jena.

Die geltende Sanktionspraxis gegenüber Arbeitsuchenden
Drucksache 17/6391 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Bericht der Abgeordneten Katja Kipping

I. Überweisung

1. Überweisung

Zu Buchstabe a

Der Antrag auf Drucksache 17/5174 ist in der 99. Sitzung
des Deutschen Bundestages am 24. März 2011 an den Aus-
schuss für Arbeit und Soziales zur federführenden Beratung
und an den Rechtsausschuss, den Haushaltsausschuss, den
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie
den Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
zur Mitberatung überwiesen worden.

Zu Buchstabe b

Der Antrag auf Drucksache 17/3207 ist in der 65. Sitzung
des Deutschen Bundestages am 7. Oktober 2010 an den Aus-
schuss für Arbeit und Soziales überwiesen worden.

2. Voten der mitberatenden Ausschüsse

Zu Buchstabe a

Der Rechtsausschuss und der Haushaltsausschuss haben
den Antrag auf Drucksache 17/5174 in ihren Sitzungen am
6. April 2011 beraten und gleichlautend mit den Stimmen
der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der Fraktion DIE LINKE.
dem Deutschen Bundestag die Ablehnung empfohlen.

Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
sowie der Ausschuss für Menschenrechte und humani-
täre Hilfe haben den Antrag in ihren Sitzungen am 29. Juni
2011 beraten und gleichlautend mit den Stimmen der Frak-
tionen der CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der
Fraktion DIE LINKE. bei Stimmenthaltung der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dem Deutschen Bundestag
die Ablehnung der Vorlage empfohlen.

II. Wesentlicher Inhalt der Vorlagen
Zu Buchstabe a

Die Antragsteller verweisen auf das Urteil des Bundesver-
fassungsgerichts vom Februar 2010, wonach das Grundrecht
auf ein menschenwürdiges Existenzminimum dem Grunde
nach nicht verfügbar sei. Eine gesetzliche Regelung, die zu
einer Unterschreitung des Existenzminimums führe, sei da-
mit nicht vereinbar. Dies werde aber durch die Sanktions-
regelungen in den Grundsicherungen in Kauf genommen.
Als Konsequenz fordert die Fraktion DIE LINKE., eine
sanktionsfreie Mindestsicherung per Gesetz zu schaffen. Da-
zu sollten in der bestehenden Grundsicherung nach dem
Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) sämtliche Sank-
tionen und im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII)
die Leistungseinschränkungen abgeschafft werden. Außer-
dem sollten alle Regelungen aufgehoben werden, die ein

nach Analyse der Antragsteller der Erhalt der Hilfe aus einer
Hand gewährleistet. Dieser Schritt reiche jedoch für eine er-
folgreiche Integration der Betroffenen nicht aus. Viele Lang-
zeitarbeitslose müssten dazu erhebliche Hürden überwinden.
Lange Zeiten von Arbeitslosigkeit seien häufig verbunden
mit Überschuldung, Gesundheitsproblemen und instabilen
familiären und sozialen Beziehungen. Für deren Überwin-
dung seien die Betroffenen auf partnerschaftliche Unterstüt-
zung angewiesen. Der Weg zurück in Erwerbstätigkeit hänge
zudem wesentlich von ihrer Motivation ab. Motivation und
Selbstbestimmung stünden dabei in engem Wechselverhält-
nis. Deshalb müsse ein Wunsch- und Wahlrecht des Hilfebe-
dürftigen künftig Grundlage des Fallmanagements werden.
Dieser Grundsatz sei in der Kinder- und Jugendhilfe bereits
gesetzlich verankert. Dies müsse auch im SGB II geschehen.
Partnerschaftliche Zusammenarbeit sei darüber hinaus mit
Sanktionsandrohungen und -automatismen nicht vereinbar.
Die geltenden Sanktionsregelungen würden zudem oft als
Mittel zur Einsparung genutzt und müssten abgeschafft wer-
den.

III. Öffentliche Anhörung von Sachverständigen
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat die Beratung der
Anträge auf Drucksachen 17/5174 und 17/3207 in seiner
61. Sitzung am 6. April 2011 aufgenommen und am
13. April 2011 in der 63. Sitzung die Durchführung einer
öffentlichen Anhörung von Sachverständigen beschlossen.
Diese fand in der 67. Sitzung am 6. Juni 2011 statt.

Die Teilnehmer der Anhörung haben schriftliche Stellungnah-
men abgegeben, die in der Ausschussdrucksache 17(11)538
zusammengefasst sind.

Folgende Verbände, Institutionen und Einzelsachverständige
haben an der Anhörung teilgenommen:

● Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB),

● Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände
(BDA),

● Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände,

● Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bun-
desagentur für Arbeit (IAB),

● Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge
e. V.,

● Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutsch-
land e. V.,

● Deutscher Richterbund e. V.,

● Klaus Lauterbach, Halle,

● Dr. Markus Schmitz, Nürnberg,

● Norbert Maul, Duisburg,
Mit der im Jahr 2010 verabschiedeten Weiterentwicklung
der Organisation der Grundsicherung für Arbeitsuchende ist

verstößt nach Auffassung des Deutschen Gewerkschafts-
bundes (DGB) gegen die Vorgaben des Bundesverfassungs-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/6391

gerichts. Kürzungen in das Existenzminimum hinein seien
problematisch, unterhalb des physischen Existenzminimums
verfassungswidrig. Soweit Sanktionen auf eine Verhaltens-
änderung abzielten, müssten sie beendet werden, sobald die
Änderung erreicht sei. Eine Neufassung des Sanktionsrechts
müsse auch den Bereich des SGB III umfassen, damit die
Sperrzeiten nach diesem Sozialgesetzbuch nicht enger als im
SGB II geregelt seien. Insgesamt teile der DGB die in beiden
Anträgen zum Ausdruck gebrachte Kritik an den Sanktionen
sowohl bezüglich der gesetzlichen Ausgestaltung als auch an
der konkreten Umsetzung durch die Hartz-IV-Träger. Sank-
tionen hätten nur dann eine Berechtigung, wenn eine zumut-
bare und sinnvolle Verpflichtung der Arbeitsuchenden durch
eigenes Verschulden ohne wichtigen Grund nicht erbracht
werde. Das Fordern setze aber voraus, dass zunächst ein zu-
mutbares Angebot vorhanden sein müsse. Gerade dies sei
aber oft nicht so.

Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberver-
bände (BDA) lehnt die in beiden Anträgen geforderte Aus-
setzung bzw. Abschaffung der Sanktionen ab. Mit der Mög-
lichkeit sanktionsloser Ablehnungen zumutbarer Arbeits-
angebote oder Eingliederungsmaßnahmen würde das Ziel
der Fürsorgeleistung, den Selbsthilfewillen und die Eigen-
verantwortung erwerbsfähiger Hilfebedürftiger zu stärken,
geschwächt. Dies liege nicht einmal im wohlverstandenen
Interesse der Betroffenen selbst. Statt Fehlanreize zum Ver-
harren im Leistungsbezug zu geben, die zu einer immer
schwerer zu überwindenden Langzeitarbeitslosigkeit beitrü-
gen, müsse es vielmehr darum gehen, Hilfebedürftige in der
Fürsorgeleistung stärker zu aktivieren, besser zu vermitteln
und gezielter zu fördern.

Die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenver-
bände sieht Sanktionen als wichtiges Mittel, um eine Betei-
ligung von Arbeitsuchenden bei der Eingliederung auf den
Arbeitsmarkt zu erreichen. Wünschenswert sei dabei mehr
Flexibilität. So sollte eine Sanktion bei Erreichen des gesetz-
ten Zieles schnell wieder zurückgenommen werden können.
Dies sei derzeit nicht möglich. Eine Existenzbedrohung
durch Kürzungen am Existenzminimum sieht man eher
nicht, da das Gesetz die Möglichkeit von Sachleistungen zur
Unterstützung einräume. Praktisch könne eine Kürzung aber
gerade bei größeren Bedarfsgemeinschaften zu Problemen
führen.

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
(IAB) beurteilt die von der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN geforderte Aktivierung durch Einbeziehung
von Wünschen und Vorstellungen des Betreuten in den
Beratungsprozess als zielkonform. Allerdings sollte ihnen
nicht oberste Priorität eingeräumt werden, da nicht alle Vor-
stellungen von Arbeitsuchenden zielführend seien. Das IAB
verweist auf eine eigene Studie, die deutliche Mängel im
Vermittlungsprozess aufgezeigt hätten. Bürgerschaftliches
Engagement stärker als bisher in den Aktivierungsprozess
einzubeziehen, sei grundsätzlich sinnvoll. Zu den Forderun-
gen nach Abschaffung bzw. Aussetzen der Sanktionen gegen
Arbeitsuchende verweist das IAB ebenfalls auf Forschungs-
befunde. Danach führe allein die Möglichkeit einer Sank-
tionsverhängung bei nahezu allen Arbeitsuchenden zu inten-
siverer Suche und geringeren Anspruchslöhnen als in

sicherung Fehlanreizen entgegenwirkten und intendierte Be-
schäftigungseffekte entfalten könnten. Allerdings ließen sich
negative Nebenwirkungen nicht ausschließen. Man könne
jedoch davon ausgehen, dass sich Grundsicherungsempfän-
ger und -empfängerinnen in einem System ohne Sanktionen
im Vergleich zu einem System mit Sanktionen ex ante anders
verhielten und höhere Anspruchslöhne sowie eine geringere
Suchintensität aufwiesen. Für die für unter 25-Jährige gel-
tenden schärferen Sanktionen in der Grundsicherung des
SGB II allerdings fehle jede wissenschaftlich fundierte Be-
gründung, die belege, dass härtere Sanktionen gegen junge
Arbeitslose tatsächlich zur Verhinderung von Langzeit-
arbeitslosigkeit beitrügen. Diese Sanktionsregeln seien zu
hart und wenig zielführend.

Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge
e. V. kritisiert, dass über die Wirkungen von Sanktionen
keine repräsentativen und zuverlässigen Studien vorlägen.
Insbesondere sei unbekannt, ob und ggf. in welchem Um-
fang und bei welchen Personenkreisen Sanktionen die inten-
dierten Wirkungen hätten. Im Fürsorgesystem, zu dem die
Grundsicherung für Arbeitsuchende zähle, wäre der Einsatz
von Sanktionen als „Bestrafung“ verfehlt. Es müsse viel-
mehr ausgeschlossen werden, dass Sanktionen mit dem Ziel
eingesetzt würden, den Leistungsträger finanziell zu entlas-
ten. Das bestehende Instrumentarium sei weiter zu starr, um
angemessen auf veränderte Situationen, insbesondere auf
Verhaltensänderungen der Leistungsberechtigten und Be-
sonderheiten des Einzelfalls reagieren zu können. Problema-
tisch sei auch, dass die Kürzung von Unterkunftskosten zu
Obdachlosigkeit und langfristiger Ausgliederung vom Ar-
beitsmarkt führen könne. Das Ziel des SGB II, die Hilfe-
bedürftigkeit durch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu
überwinden, könne dann nicht verwirklicht werden.

Das Diakonische Werk der EKD fordert grundlegende
Änderungen an den geltenden Regelungen zu Sanktionen
und Leistungsgewährung im Bereich SGB II. So müssten die
verschärften Sanktionsregelungen für junge Menschen bis
25 Jahre und der Zwang zur Bedarfsgemeinschaft mit den
Eltern abgeschafft werden. Das Wunsch- und Wahlrecht der
Leistungsberechtigten und der Rechtsanspruch auf Einglie-
derungsleistungen seien zu achten. Widersprüche müssten
wieder aufschiebende Wirkung erhalten. Darüber hinaus sei
die Qualifikation der Ansprechpartner in Jobcentern zu ver-
bessern. Zusätzlich würden unabhängige Beratungs- und
Ombudsstellen gebraucht. Die Diakonie hält zudem die Be-
grenzung des Sanktionsumfangs auf maximal 30 Prozent des
Regelsatzes für notwendig, eine Leistungsminderung solle
10 Prozent nicht überschreiten, 20 Prozent könnten ggf. als
Gutschein oder Sachleistung erbracht werden. Insgesamt
solle die Sanktionspraxis evaluiert und die Verschärfung der
Sanktionen zurückgenommen werden. Die Zumutbarkeit
einer Arbeit müsse sich zudem an einem gesetzlichen Min-
destlohn in ausreichender Höhe orientieren. Maßstab für die
Zumutbarkeit sei ein existenzsicherndes Einkommen aus
einer Tätigkeit.

Der Deutsche Richterbund setzt sich vor dem Hintergrund
zunehmender Belastung der Sozialgerichtsbarkeit dafür ein,
dass – neben einer nachhaltigen Personalpolitik und Ände-
rungen im Prozessrecht – alle Möglichkeiten zur Reform des
Systemen ohne Sanktionen. Insgesamt gebe es eine gewisse
empirische Evidenz dafür, dass Sanktionen in der Grund-

materiellen Rechts des SGB II ausgeschöpft werden sollten.
Damit sollten Verbesserungen bei der praktischen Handhab-

Drucksache 17/6391 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

barkeit der gesetzlichen Regelungen erreicht werden. Durch
das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Ände-
rung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch
vom 24. März 2011 (BGBl. I S. 453) seien die gesetzlichen
Vorschriften über Sanktionen im SGB II bereits stark verein-
facht und klarer strukturiert. Die praktischen Erfahrungen
damit blieben abzuwarten. Zu dem Vorschlag, von den Job-
centern unabhängige Ombudsstellen einzurichten, weist der
Richterbund darauf hin, dass mit der Sozialgerichtsbarkeit
bereits eine unabhängige Institution mit mehreren Instanzen
zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes zur Verfügung
stehe. Zunehmend werde auch die Möglichkeit zur Media-
tion genutzt.

Der Sachverständige Klaus Lauterbach plädiert u. a. für
die Abschaffung der verschärften Sanktionen für unter
25-Jährige. Die verschärften Rechtsfolgen seien für eine
Eingliederung der Betroffenen in das Erwerbsleben nicht
erforderlich. Vorrangig wichtig sei dagegen eine zielgerich-
tete und engmaschige Betreuung dieser Personengruppe,
verbunden mit sinnvollen Angeboten. Als Mittel zur not-
falls erforderlichen Durchsetzung der gebotenen Mitarbeit
reichten die gesetzlichen Sanktionen für erwerbsfähige
Leistungsberechtigte über 25 Jahre. Die geltenden Sanktio-
nen für junge erwerbsfähige Leistungsberechtigte wirkten im
Einzelfall eher kontraproduktiv. Der Sachverständige kriti-
siert darüber hinaus die vorgesehenen Sanktionen des
SGB II wegen ihrer konkreten Ausgestaltung etwa mit der
starren Bestimmung der Mindestdauer und der Rechtsfol-
gen als nicht verfassungsgemäß.

Der Sachverständige Dr. Markus Schmitz lehnt die vor-
geschlagenen Änderungen ab. Rund 97 Prozent der Leis-
tungsberechtigten seien nicht von Sanktionen betroffen. Ein
Tolerieren von Pflichtverletzungen würde falsche Anreize
setzen. Auch bei einer Kürzung der Grundsicherung durch
Sanktionen sei zudem nach Einschätzung des Sachverstän-
digen der Bedarf für Ernährung, Gesundheitspflege und
Hygiene gesichert, da ergänzende Leistungen in Form von
Gutscheinen gewährt würden. Die Minderung der Grund-
sicherungsleistung widerspreche nicht den verfassungs-
rechtlichen Vorgaben. Mehrere Forderungen in den Anträ-
gen der beiden Fraktionen sind aus Sicht des Sachverständi-
gen bereits realisiert.

Der Sachverständige Norbert Maul kritisiert das Sanktions-
system im Sozialgesetzbuch als schwer administrierbar. So
sei etwa die Rechtsfolgebelehrung auf der Einladung zur
Beratung kaum verständlich. Was sei der Regelsatz, wie viel
10 Prozent, was die Dauer? Kaum jemand verstehe danach,
was auf ihn bei einem Verstoß zukomme. Auch das Ziel der
Sanktionen, eine Verhaltensänderung zu erzielen, werde so
kaum erreicht. Wenn beispielsweise ein Jugendlicher erst
nach einer zweiten Einladung erscheine, dann aber eine
Maßnahme absolviere, werde trotzdem während der ersten
Monate der Teilnahme weiter sanktioniert. Das verstehe nie-
mand und müsse geändert werden.

Die Sachverständige Lara Schwarzlos kritisiert, dass der
„Sanktionsparagraph“ 31 SGB II bis zu seiner Neufassung
zu den unübersichtlichsten Regelungen im ganzen Gesetz-
buch gehört habe. Aus den Erfahrungen der Gerichtspraxis
fordert die Sachverständige, die Sondersanktionen für Ar-

Die Kosten der Unterkunft dürften bei den Sanktionen
nicht einbezogen werden. Unverzichtbar sei eine vorhe-
rige, schriftliche Rechtsfolgenbelehrung (Ausnahme: § 31
Absatz 2 Nummer 1, 3 und 4 SGB II n. F.) nach definierten
Kriterien, differenziert nach den an den Betroffenen gestell-
ten Anforderungen etwa EGV, Meldetermin, Maßnahme etc.

Der Sachverständige Prof. Dr. Stephan Lessenich unter-
stützt voll und ganz das Ziel, die Sanktionen nach dem
SGB II ersatzlos abzuschaffen. Die gesetzlich verankerte
Sanktionspraxis sei aus normativen, funktionalen und dis-
kurspolitischen Gründen abzulehnen. Beteiligung an Er-
werbsarbeit und Gewährleistung der materiellen Existenz
seien voneinander zu entkoppeln. Es stehe der Arbeitsver-
waltung nicht zu, über die Aberkennung der Grundsiche-
rungsleistungen zu befinden: Materielle Grundsicherung sei
soziales Bürgerrecht – oder müsse zu einem solchen werden.

IV. Beratungsverlauf und Beratungsergebnisse
im federführenden Ausschuss

Zu Buchstabe a

Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat den Antrag auf
Drucksache 17/5174 in seiner 69. Sitzung am 29. Juni 2011
abschließend beraten und dem Deutschen Bundestag mit den
Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP ge-
gen die Stimmen der Fraktion DIE LINKE. bei Stimm-
enthaltung der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die
Ablehnung der Vorlage empfohlen.

Zu Buchstabe b

Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat den Antrag auf
Drucksache 17/3207 in seiner 69. Sitzung am 29. Juni 2011
abschließend beraten. In einer separaten Abstimmung über
die herausgelösten Punkte 3a und 3b des Antrags hat der
Ausschuss dem Deutschen Bundestag mit den Stimmen der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen
der Fraktionen SPD, DIE LINKE. und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN die Ablehnung dieser beiden Punkte emp-
fohlen. In der Abstimmung über den gesamten Antrag hat
der Ausschuss dem Deutschen Bundestag mit den Stim-
men der Fraktionen der CDU/CSU und FDP gegen die
Stimmen der Fraktionen DIE LINKE. und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN bei Stimmenthaltung der Fraktion der SPD
die Ablehnung des Antrags auf Drucksache 17/3207 emp-
fohlen.

Die Fraktion der CDU/CSU lehnte beide Anträge ab. Wer
Hilfe zum Lebensunterhalt benötige, bekomme sie auch.
Solidarität müsse aber auf Gegenseitigkeit beruhen. Damit
aber das Prinzip der Solidarität funktioniert, braucht es
Schranken wie Sanktionen. Auch könne keine Rede davon
sein, dass der Staat die Förderung bei der Arbeitsuche schul-
dig bleibe. Die Zahl von 5,3 Mrd. Euro für Fördermaßnah-
men in diesem Jahr zeige eine andere Wirklichkeit. Dass nur
gegen 2 bis 4 Prozent der Arbeitsuchenden überhaupt Sank-
tionen verhängt würden, belege überdies, dass es sich dabei
nicht um ein Massenphänomen handele. Darüber hinaus ge-
be es Kritik auch an den einzelnen der in den Anträgen vor-
geschlagenen Maßnahmen.

Die Fraktion der SPD forderte eine Abschaffung der ver-

beitsuchende unter 25 Jahren zu streichen oder zu evaluie-
ren. Ebenso sollten die Verschärfungsvorschriften entfallen.

schärften Sanktionen gegen Arbeitsuchende unter 25 Jahren
und Verbesserungen bei den Rechtsfolgebelehrungen in den

stehe aber nicht in Zusammenhang mit Sanktionen. Diese
solle das Gesetz weiterhin vorsehen, um die Mitwirkung der
Arbeitsuchenden sicherzustellen. Dass nur in wenigen Fäl-
len tatsächlich Sanktionen verhängt würden, zeige, dass sie
nicht massenhaft eingesetzt werden müssten. Fördern und
Fordern sei ein richtiges Prinzip bei der Betreuung von
Arbeitsuchenden. Die Anträge würden abgelehnt.

Die Fraktion DIE LINKE. betonte, dass Kürzungen unter-
halb des Existenzminimums durch Sanktionen künftig unter-
bleiben müssten. Sie verstießen gegen das Grundrecht auf

digen über diese Regelung sei einhellig vernichtend. Sie
habe keine positiven Effekte, dränge Jugendliche aber sogar
aus dem Integrationsprozess hinaus. Alle Arbeitsuchenden
müssten ferner ein Wunsch- und Wahlrecht erhalten, statt in
teils unattraktive und wirkungslose Maßnahmen gezwungen
zu werden. Außerdem verletze es offensichtlich das Gerech-
tigkeitsgefühl der Betroffenen, dass Einsprüche in diesem
Bereich keine aufschiebende Wirkung entfalteten. Wenn die
Ausschussmehrheit dem Antrag der Fraktion nicht ins-
gesamt zustimmen könne, biete man an, diese vordring-
lichen Themen herauszulösen.

Berlin, den 29. Juni 2011

Katja Kipping
Berichterstatterin
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/6391

Schreiben an Arbeitsuchende. Es mache keinen Sinn, Jugend-
liche nur aus Altersgründen schärfer zu bestrafen als andere
Arbeitsuchende. Man erreiche die jungen Menschen dann
nicht mehr. Eine Integration in Ausbildung oder Arbeit wür-
de in der Konsequenz im Einzelfall dann ggf. unmöglich ge-
macht. Darüber hinaus müsse eine Mitwirkung bei der Ar-
beitsuche durch einen Stopp von Sanktionen belohnt werden
können. Sanktionen müssten besser als bisher an den jewei-
ligen Einzelfall angepasst werden können. Auch Rechtsfol-
gebelehrungen machten nur Sinn, wenn sie von den Betrof-
fenen in ihren Konsequenzen verstanden werden könnten.
Dafür müssten sie überarbeitet werden und unbedingt in
schriftlicher Form erfolgen. Die in den beiden vorliegenden
Anträgen vorgeschlagenen Lösungen stellten gleichwohl
nicht zufrieden; denn Sanktionen könnten dann, wenn gleich-
zeitig in ausreichendem Umfang gefördert würde, durchaus
sinnvoll sein. Notwendig seien passgerechte Angebote. Der
Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN habe viele
gute Ansätze. Ein Moratorium als Konsequenz sei aber
rechtlich nicht möglich.

Die Fraktion der FDP erläuterte, dass die Qualifizierung
der Arbeitsvermittler wie auch passgenaue Angebote an
Arbeitsuchende – wie sie die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN in ihrem Antrag fordere – sinnvoll seien. Das

ein Existenzminimum. Für diese Position gebe es zwar nicht
im Bundestag, aber in der Zivilgesellschaft bereits eine
breite Unterstützung. Die Sachverständigen hätten sich in
der Anhörung fast einhellig gegen die verschärften Sanktio-
nen für unter 25-Jährige ausgesprochen. Daher könne man
nach der Anhörung nicht alles einfach beim Alten lassen.
Diese Regelung müsse gestrichen werden ebenso wie die
Möglichkeit, bei Verstößen von Arbeitsuchenden sogar den
Zuschuss zu den Kosten der Unterkunft sanktionierend zu
kürzen.

Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kritisierte
Mängel bei der Unterstützung von Arbeitsuchenden. Vom
Prinzip „Fördern und Fordern“ werde das Fördern nicht er-
füllt. Es fehlten attraktive und wirkungsvolle Angebote. Jetzt
solle dieser Bereich sogar weiter eingeschränkt werden. Mit
den Hartz-Reformen sei außerdem das Versprechen verbun-
den worden, Arbeitsuchenden das Verhandeln mit dem Fall-
management auf Augenhöhe zu ermöglichen. Das sei nicht
eingelöst worden. Die Rechtsstellung der Arbeitsuchenden
müsse verbessert werden. Einige Änderungen seien beson-
ders dringend, wie die Anhörung gezeigt habe. So müsse
jetzt unbedingt die verschärfte Sanktionierung der unter
25-Jährigen abgeschafft werden. Das Urteil der Sachverstän-

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