BT-Drucksache 17/596

Betrieb des Forschungsreaktors AVR Jülich außerhalb sicherheitstechnischer Grenzen

Vom 29. Januar 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/596
17. Wahlperiode 29. 01. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Oliver Krischer, Sylvia Kotting-Uhl, Cornelia Behm,
Hans-Josef Fell, Bettina Herlitzius, Winfried Hermann, Ulrike Höfken, Bärbel Höhn,
Dr. Anton Hofreiter, Undine Kurth (Quedlinburg), Nicole Maisch, Ingrid Nestle,
Friedrich Ostendorff, Dr. Hermann Ott, Dorothea Steiner, Markus Tressel,
Daniela Wagner, Dr. Valerie Wilms und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Betrieb des Forschungsreaktors AVR Jülich außerhalb sicherheitstechnischer
Grenzen

Im Jahr 1966 wurde in der damaligen Kernforschungsanlage Jülich ein Hoch-
temperaturreaktor (HTR), auch Kugelhaufenreaktor genannt, mit einer elek-
trischen Leistung von 15 Megawatt (MW) in Betrieb genommen. Mit Hilfe die-
ses Versuchsreaktors sollte die Technologie zur Serienreife gebracht werden, was
jedoch vollständig scheiterte, so dass, mit der kurzen Ausnahme des Technik-
Hochtemperaturreaktors (THTR 300) in Hamm-Uentrop, bis heute kein kom-
merzieller Reaktor dieses Typs in Betrieb gegangen ist. So erfolgte 1988 auch die
Stilllegung des AVR Jülich (AVR: Arbeitsgemeinschaft Versuchsreaktor).

Durch ein Leck am Dampferzeuger gelangten im Jahr 1978 30 Tonnen Wasser in
den Reaktorkern. Dadurch befand sich der Reaktor zeitweise in einem Zustand
ähnlich dem des Tschernobyl-Reaktors, und es bestand außerdem die akute Ge-
fahr einer chemischen Explosion mit Zerstörung des Reaktors. Der Glaube an
den „inhärent sicheren“ Reaktor führte während des Störfalls zu einem grund-
legenden Fehlverhalten der Wachmannschaft, das nur durch Zufälle nicht in die
Katastrophe geführt hat.

Beim Störfall gelangten auch größere Mengen radioaktiven Materials in den
Boden unter dem Reaktor. Diese Kontamination wurde erst 1999 entdeckt. Trotz-
dem wurde dieses Ereignis in den Meldelisten des Bundesamtes für Strahlen-
schutz (BfS) 1999 nur der mit der untersten Klasse N (untergeordnete sicher-
heitstechnische Bedeutung) bzw. mit niedrigster IAEA-Klassifikation 0 (IAEA:
Internationale Atomenergie-Organisation) aufgeführt. Das Erdreich kann – wenn
überhaupt – in einem aufwändigen Verfahren erst, nachdem der 26 Meter hohe
und 2 000 Tonnen schwere Reaktorkern als Ganzes von dort vollständig entfernt
wurde, dekontaminiert werden. Dabei liegen nicht einmal genaue Erkenntnisse
über Art und Umfang der radioaktiven Kontamination vor.

Bis heute – über 20 Jahre nach der Stilllegung – ist die Reaktorruine nicht zurück-

gebaut. Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen (NRW-Drucksache 14/2400)
führt aus, dass die Kosten des so genannten Sicheren Einschlusses und des voll-
ständigen Rückbaus sich auf 400 Mio. Euro belaufen werden, Endlagerkosten
nicht eingerechnet. Es gibt inzwischen erhebliche Zweifel, dass dieser Kosten-
rahmen eingehalten werden kann. Bund und Land NRW teilen sich die Kosten im
Verhältnis 70 : 30.

Drucksache 17/596 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Der AVR-Reaktor in Jülich dient als Vorbild für südafrikanische Kugelhaufen-
reaktorprojekte (PBMR) und das chinesische Kugelhaufenreaktorprojekt HTR-
PM. Sein angeblich erfolgreicher und durchgehend sicherer Betrieb ist ein
wesentliches Argument für die intensive Verfolgung dieses Reaktorkonzeptes in
Südafrika und China. Ein AVR-/EWN-Mitarbeiter erklärte noch im Juni 2008 im
südafrikanischen Fernsehen: „Was wir erreicht haben hinsichtlich Zuverlässig-
keit, Abbrand, Temperaturen war geradezu fantastisch“.

Bei Atomkraftbefürwortern gilt der Kugelhaufenreaktor als „inhärent sicherer
Reaktor“. Doch daran gibt es erhebliche Zweifel. Eine 2008 publizierte Studie
aus dem Forschungszentrum Jülich bestätigt das. Hauptproblem beim Betrieb
des AVR Jülich waren stark überhöhte Temperaturen des Kugelhaufens inner-
halb des Reaktorkerns. Es ist davon auszugehen, dass das Phänomen der stark
überhöhten Temperaturen den damals Verantwortlichen beim Betrieb des AVR
bekannt war und dass demnach der AVR vor 1988 mit Wissen der Verantwort-
lichen weit außerhalb sicherheitstechnisch zulässiger Grenzen betrieben wurde –
einschließlich aller damit verbundenen Risiken.

Die bisher durch die NRW-Landesregierung vorgelegten Untersuchungen dazu
erscheinen unzureichend. Sie berücksichtigen zum einen offenbar nur die 1999
noch gefundenen Nuklide (Strontium), zum anderen beschränken sie sich hin-
sichtlich radiologischer Folgen auf Wasserentnahme aus der Rur außerhalb des
Forschungszentrums Jülich (FZJ). Daten zur Aktivitätskonzentration des konta-
minierten Wassers, welches in das Grundwasser gelangte (s. AVR-Abschluss-
bericht Jül-3448 (1997)), weisen aber aus, dass der Tritiumgehalt bis zu 70-fach
höher als der Strontiumgehalt war.

Vor diesem Hintergrund bitten wir die Bundesregierung um Beantwortung fol-
gender Fragen:

1. Liegen der Bundesregierung Informationen vor, ob in einer AVR-Genehmi-
gung eine maximal zulässige Brennstofftemperatur festgeschrieben war?

Sind sicherheitstechnisch wichtige Auslegungsgrenzen überschritten worden?

Wenn ja, wann und in welchem Umfang?

2. Liegen der Bundesregierung Informationen vor, warum es keine Messungen
der AVR-Kugelhaufentemperatur in den problematischen Jahren 1974 bis
1985 gab, obwohl die komplexe und langwierige Messtechnik in den Jahren
1970 bis 1973 entwickelt und bei niedrigeren Reaktortemperaturen getestet
worden war und diese Tests bereits teilweise zu hohe Temperaturen ergeben
hatten und obwohl viele andere Ergebnisse des Reaktorbetriebs ab 1974 gra-
vierende Hinweise auf zu hohe Kugelhaufentemperaturen zeigten (z. B. die
überheißen Gassträhnen)?

Falls nein, wo können solche Informationen nach Meinung der Bundesregie-
rung angefordert werden?

3. Liegen der Bundesregierung Erkenntnisse vor, dass die Temperaturmessung
unterblieb, um Betriebseinschränkungen oder ein Betriebsende des AVR und
damit das Ende der Kugelhaufentechnologie zu verhindern, und falls nein,
wie begründet sie dies?

4. Weshalb wurde der Reaktorbetrieb unter den extremen Bedingungen fortge-
setzt, obwohl sogar die Temperaturmesseinrichtungen außerhalb des Kugel-
haufens nach und nach ausfielen und unter anderem wegen der extremen
Kontamination des Primärkreislaufs nicht repariert werden konnten?

5. Gab es einen Zusammenhang zwischen dem Tschernobyl-Schock und der

unmittelbar danach durchgeführten Temperaturmessung?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/596

6. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass die südafrikanische Firma
PBMR, die einen Kugelhaufenreaktor errichten möchte, eine ganz andere
Interpretation für die überhöhten AVR-Temperaturen verbreitet als die in der
NRW-Landtagsvorlage 14/2689 genannte, nämlich unzureichende Reaktor-
kühlung durch Bypässe mit der Folge gleichmäßiger Temperaturerhöhung
im Core (und keine hot spots wie in der NRW-Landtagsvorlage 14/2689 be-
hauptet), und falls nein, auf welcher Grundlage teilt sie diese Einschätzung
nicht?

7. Wie verträgt sich die Untätigkeit der NRW-Atomaufsicht und des Gutachters
nach Entdeckung der im Vergleich zu konventionellen Reaktoren unstrittig
riesigen AVR-Primärkreislaufkontamination mit dem Minimierungsgebot
der Strahlenschutzverordnung?

8. Kann die Bundesregierung das in der NRW-Landtagsvorlage 14/2689 ge-
nannte Argument der hinreichenden Sicherung gegen Freisetzungen in die
Umgebung durch Doppelbehälter und Containment mit der potentiell gege-
benen Unwirksamkeit dieser Barrieren beim AVR-Wassereinbruchstörfall
teilen, und falls nein, auf welcher Grundlage nicht?

9. Weshalb wird die im Vergleich zu konventionellen Reaktoren leistungsge-
wichtet um mehr als den Faktor 100 000 größere Primärkreislaufkontamina-
tion mit hochtoxischem Cs-137 und Sr-90 in den BfS-Meldelisten nicht auf-
geführt?

10. Ist die Temperaturabsenkung des AVR vom 23. Februar 1988 auf die nicht
gegebene Beherrschbarkeit des Auslegungsstörfalls Wassereinbruch im
langjährigen AVR-Dauerbetrieb bei hohen Temperaturen zurückzuführen?

Wenn nein, worauf ist die Temperaturabsenkung dann zurückzuführen?

11. Weshalb enthalten die BfS-Meldelisten keinerlei Hinweis auf die erhöhten
AVR-Temperaturen, auf deren potentielle Konsequenzen im Auslegungs-
störfall und auf die dadurch gegebenen Risiken beim Wassereinbruchstörfall
1978?

12. Wie beurteilt die Bundesregierung die Gefährdung der Bevölkerung durch
den AVR angesichts

a) der bei den hohen Temperaturen gemäß den AVR-Unterlagen nicht gege-
benen Beherrschbarkeit des Wassereinbruchstörfalls (Explosionen im
Schutzbehälter);

b) der erhöhten Leckwahrscheinlichkeit des Dampferzeugers wegen Schä-
digung durch die gemessenen überheißen Gassträhnen (z. B. 1 120 Grad
Celsius am 6. Februar 1985 um 9.50 Uhr), welche vermutlich die Ursa-
che des Wassereinbruchstörfalls von 1978 war;

c) der enorm großen Kontamination des Primärkreises mit hochtoxischen
metallischen Spaltprodukten, die bei einer Explosion im Schutzbehälter
in die Umgebung gelangt wären, mit katastrophalen Folgen;

d) des real erfolgten Wassereinbruchs im Mai 1978 über eine Leckstelle im
Bereich der höchsten Temperaturen (Endüberhitzer), der offenbar nur
deshalb ohne sehr schwerwiegende Folgen blieb, weil das Wasser, anders
als für den Auslegungsstörfall angenommen, langsam einbrach und der
Reaktor deshalb gekühlt werden konnte, bevor in großem Maße explo-
sionsfähige Gase entstanden waren?

13. Weshalb gibt es keinen Hinweis auf potentielle nukleare Instabilitäten im
AVR-Betrieb 1978 in den BfS-Meldelisten?

Drucksache 17/596 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
14. Weshalb sind diesbezügliche Analysen nur für nie gebaute Kugelhaufen-
reaktorkonzepte (HTR-Modul), nicht aber für das reale Geschehen im AVR
veröffentlicht worden?

15. Wie bewertet die Bundesregierung Darstellungen, der Kugelhaufen-Hoch-
temperaturreaktortyp sei „katastrophenfrei“ und „inhärent sicher“?

16. Weshalb wird dieses Ereignis in den BfS-Meldelisten 1999 nur mit der
untersten Klasse N (untergeordnete sicherheitstechnische Bedeutung) bzw.
mit niedrigster IAEA-Klassifikation 0 aufgeführt, obwohl es sich um einen
klaren Fall von Kontaminationsverschleppung handelt, welche nach IAEA-
Regeln mindestens in Klasse 2 (Störfall) hätte eingestuft werden müssen?

17. Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung zum Verbleib des Tritiums
vor, bzw. ist auszuschließen, dass Grenzwerte außerhalb des Reaktorgelän-
des überschritten worden sind oder sogar radiologische Schäden verursacht
worden sind?

18. Kann eine Beeinträchtigung durch die Kontamination innerhalb von AVR
und FZJ in der Phase bis 1999 zweifelsfrei ausgeschlossen werden (z. B. Ge-
wässernutzung durch Angler)?

19. Wie bewertet die Bundesregierung die Tatsache, dass der AVR-Betreiber
(Sicherheitsverantwortlicher und Sicherheitsbeauftragter) trotz gegenteili-
ger Verpflichtung aus der Atomrechtlichen Sicherheitsbeauftragten- und
Meldeverordnung (AtSMV) eine Untersuchung der AVR-Vorkommnisse
ablehnte, als er 2007 darauf und auf seine diesbezügliche Verantwortung im
Rahmen des Südafrika-Kugelhaufenreaktorprojektes schriftlich aufmerk-
sam gemacht wurde?

20. Wie wird die Äußerung eines Mitarbeiters der mittlerweile bundeseigenen
AVR GmbH im südafrikanischen Fernsehen im Juni 2008, die den AVR als
uneingeschränkt erfolgreich darstellt, in diesem Zusammenhang von der
Bundesregierung bewertet?

21. Wie bewertet die Bundesregierung als FZJ-Mitgesellschafter den Umstand,
dass das Institut für Sicherheitsforschung und Reaktortechnik des FZJ, in
dem der Kugelhaufenreaktor entwickelt wurde, eine Untersuchung der
AVR-Probleme und ihre Veröffentlichung seit Anfang 2007 zu verhindern
versucht und dass eine breitere Diskussion bzw. Veröffentlichung nur durch
Eingreifen des FZJ-Vorstandsvorsitzenden möglich wurde?

22. Sieht wegen dieses unbefriedigenden Umgangs mit sicherheitsrelevanten
Informationen auch die Bundesregierung die Notwendigkeit zur Aufarbei-
tung der AVR- und der noch weniger bekannten THTR-Erfahrungen durch
eine unabhängige Stelle?

23. Liegen der Bundesregierung Erkenntnisse vor, wie viele Mitarbeiter der
AVR GmbH aus dem Zeitraum 1967 bis 1988 noch heute dort angestellt
sind?

Berlin, den 29. Januar 2010

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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