BT-Drucksache 17/5913

Barrierefreier Tourismus für alle

Vom 25. Mai 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/5913
17. Wahlperiode 25. 05. 2011

Antrag
der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Silvia Schmidt (Eisleben), Elvira
Drobinski-Weiß, Hans-Joachim Hacker, Petra Ernstberger, Iris Gleicke,
Bettina Hagedorn, Hubertus Heil (Peine), Fritz Rudolf Körper, Anette Kramme,
Ute Kumpf, Andrea Nahles, Thomas Oppermann, Heinz Paula, Dr. Frank-Walter
Steinmeier und der Fraktion der SPD

Barrierefreier Tourismus für alle

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Barrierefreies Reisen bildet einen wichtigen Bestandteil der gesellschaftlichen
Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Mit der im März 2009 ratifizierten
Konvention der Vereinten Nationen (UN) über die Rechte von Menschen mit
Behinderungen verpflichtet sich Deutschland, geeignete Maßnahmen für die
Herstellung von Barrierefreiheit und die umfassende Teilhabe von Menschen
mit Behinderungen umzusetzen. Laut Artikel 9 der UN-Konvention – Zugäng-
lichkeit – muss der Zugang für Menschen mit Behinderungen zur physischen
Umwelt, zu Transportmitteln, Information und Kommunikation sowie zu ande-
ren Einrichtungen und Diensten, die der Öffentlichkeit in städtischen und länd-
lichen Gebieten offenstehen oder für sie bereitgestellt werden, gewährleistet
werden. Entsprechend sind Zugangshindernisse und -barrieren zu entfernen.
Die Einhaltung von Mindeststandards und Leitlinien für die Barrierefreiheit
sind zu überwachen. Artikel 30 der UN-Konvention fordert die Teilhabe am
kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport ein.

Die Bundesregierung hat in ihren Tourismuspolitischen Leitlinien im Jahr 2009
festgelegt: „Um die Teilhabe aller an touristischen Angeboten zu ermöglichen,
soll das Ideal des barrierefreien Reisens in der gesamten touristischen Leis-
tungskette verankert werden“. Menschen mit Behinderungen müssen in der ge-
samten touristischen Servicekette Rahmenbedingungen vorfinden, um mög-
lichst selbständig zu reisen, unabhängig davon, ob sie in der Bewegungsfähig-
keit, den Sinneswahrnehmungen, den mentalen Fähigkeiten oder seelischen
Funktionen eingeschränkt sind.

Das wirtschaftliche Potential eines barrierefreien Tourismus ist groß. Die vom
Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi) in Auftrag gege-
bene Studie „Ökonomische Impulse eines barrierefreien Tourismus für alle“

von 2003 zeigt auf, dass durch die umfassende Herstellung von Barrierefreiheit
im Deutschlandtourismus etwa 4,8 Mrd. Euro zusätzlicher Umsatz erzielt und
etwa 90 000 zusätzliche Vollzeitarbeitsplätze geschaffen werden könnten. Die-
ses Potential, von dem die touristischen Anbieter profitieren können, wird
durch den demographischen Wandel weiter zunehmen. Die 2005 veröffent-
lichte Studie „Accessibility Market and Stakeholder Analysis“ des von der

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EU geförderten Projekts One-Stop-Shop for Accessible Tourism in Europe
(OSSATE) geht von einem Umsatzpotential für barrierefreien Tourismus in Eu-
ropa von 166 Mrd. Euro aus.

Die vom BMWi in Auftrag gegebene Folgestudie „Barrierefreier Tourismus für
Alle in Deutschland – Erfolgsfaktoren und Maßnahmen zur Qualitätssteige-
rung“ stellte 2008 fest, dass die Reiseintensität – also mindestens eine Reise pro
Jahr – von mobilitätseingeschränkten Menschen im Jahr 2006 gegenüber dem
Jahr 2002 um etwa 4 Prozent auf mehr als 58 Prozent zunahm, während sie ins-
gesamt bei allen Reisenden bei etwa 75 Prozent stagnierte. Gleichzeitig ver-
weist die Studie darauf, dass „trotz aller positiven Entwicklungstendenzen im
barrierefreien Tourismus in Deutschland […] das Reisen für viele Menschen
aufgrund zahlreicher Barrieren immer noch eine besondere Herausforderung“
darstellt. Zudem gebe es keine einheitliche Kennzeichnung barrierefreier Ange-
bote, keinen strategischen „Know-how-Transfer“ und Defizite im touristischen
Marketing.

Um die Reiseintensität von Menschen mit Behinderungen zu erhöhen und das
Ziel eines barrierefreien Tourismus zu erreichen, muss Barrierefreiheit für
Menschen mit Gehbehinderungen ebenso wie Seh- und Hörbehinderungen und
anderen Einschränkungen bei der Reiseplanung, auf dem Reiseweg, der Unter-
kunft und den touristischen Angeboten durchgängig umgesetzt werden. Inklusi-
ver Ansatz muss ein „Tourismus für alle“ sein, der Barrierefreiheit als Quer-
schnittsaufgabe und Qualitätsmerkmal begreift. Reisende mit amtlich aner-
kannten Behinderungen werden infolge des demografischen Wandels durch
eine stark wachsende Gruppe ergänzt: ältere Menschen mit Mobilitäts-, Seh-
oder Hörproblemen. Sie profitieren von gut erreichbaren Hotels und Gast-
stätten, Museen, Einrichtungen und barrierefreien Verkehrsmitteln genauso wie
ältere Einwohnerinnen und Einwohner und Familien mit kleinen Kindern. Bar-
rierefreiheit ist für 10 Prozent der Bevölkerung zwingend erforderlich, für über
30 Prozent hilfreich und für 100 Prozent komfortabel – diese Erkenntnis muss
zum Maßstab der Förderung von barrierefreiem Tourismus werden.

Die Umsetzung von Barrierefreiheit muss auf allen politischen Ebenen – Bund,
Länder, Landkreise und Kommunen – geleistet werden. Dazu ist eine entspre-
chende bundesweite Koordinierung notwendig. Bei der Festlegung von Anfor-
derungen an Barrierefreiheit ist die Einbindung der Betroffenen bzw. ihrer Ver-
bände unerlässlich. Die Maxime der Betroffenen „Nichts über uns ohne uns“
muss in allen Handlungsfeldern berücksichtigt werden. Nachhaltige Erfolge bei
diesem komplexen Themenfeld können nur durch die Abstimmung – im Ideal-
fall in Form regelmäßiger Runder Tische – zwischen allen Akteuren aus Betrof-
fenengruppen, Politik, Tourismuswirtschaft und Verkehrsunternehmen erreicht
werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

zur besseren Koordinierung

1. einen vom Bund koordinierten Masterplan für barrierefreien Tourismus in
Zusammenarbeit mit den Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden
aufzustellen und konkrete Umsetzungsschritte festzulegen,

2. dafür zu sorgen, dass bei allen Maßnahmen zur Herstellung von Barriere-
freiheit in der gesamten touristischen Servicekette Menschen mit Behinde-
rungen bzw. deren Verbände einbezogen werden und sich auch gegenüber
den Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden sowie der Wirtschaft
dafür einzusetzen,

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/5913

3. die Nationale Koordinationsstelle Tourismus für Alle e. V. (NatKo) zu ei-
ner Kompetenzstelle für barrierefreien Tourismus auszubauen und ihre
finanzielle Förderung auf eine entsprechend dauerhafte Grundlage zu stel-
len, um eine bessere Koordinierung von Maßnahmen für barrierefreien
Tourismus unter Beteiligung der Behindertenverbände und die Schaffung
einer bundesweiten Informationsplattform für Kunden und touristische An-
bieter sicherzustellen,

4. eine Grundlagenuntersuchung in Auftrag zu geben, die ausführlich die An-
gebotsseite des Marktes für barrierefreien Tourismus darstellt;

zur gezielten Förderung

5. Barrierefreiheit verbindlich in die Leistungsbeschreibungen von Aus-
schreibungen und Konzessionsvergaben des Bundes aufzunehmen und auf
die Länder hinzuwirken, ebenso zu verfahren,

6. Barrierefreiheit zu einem Vergabekriterium für Fördermittel des Bundes zu
bestimmen und sich gegenüber der Europäischen Union und den Ländern
dafür einzusetzen, ebenso zu verfahren,

7. für den barrierefreien Umbau von gastronomischen und touristischen Ein-
richtungen ein Zuschussprogramm der KfW Bankengruppe aufzulegen und
finanziell zu untersetzen;

zur besseren baulichen Zugänglichkeit

8. sich gegenüber den Ländern dafür einzusetzen, die DIN-Norm 18040-1 für
barrierefreies Bauen öffentlich zugänglicher Gebäude in alle Landesbau-
ordnungen aufzunehmen,

9. verbindliche Kriterien für Barrierefreiheit bei der Inneneinrichtung in die
DIN-Norm 18040-1 aufzunehmen und damit auch nach Abnahme des Roh-
baus sicherzustellen, dass Barrierefreiheit in öffentlich zugänglichen Ge-
bäuden umgesetzt wird,

10. dafür zu sorgen, dass die Abnahme der Gebäude hinsichtlich der Einhal-
tung von Barrierefreiheit durch unabhängige Stellen gewährleistet wird
und Abweichungen von der vereinbarten Planung, in die Experten für Bar-
rierefreiheit einzubeziehen sind, sowie von gesetzlichen Vorschriften zu
sanktionieren,

11. dafür zu sorgen, dass bestehende öffentlich zugängliche Bauten des Bundes
auf Barrierefreiheit überprüft werden und sich gegenüber den Ländern da-
für einzusetzen, ebenso zu verfahren,

12. die Länder aufzufordern, in den Landesgaststättengesetzen die derzeit be-
stehende Stichtagsregelung in § 4 Absatz 1 des Gaststättengesetzes zuguns-
ten einer Befristung zur Schaffung von Barrierefreiheit bis zum Jahr 2020
zu ersetzen und Außenanlagen ebenfalls in die Regelungen zur barriere-
freien Ausgestaltung von Gaststätten einzubeziehen,

13. die Aufnahme von Barrierefreiheitskriterien in die Denkmalschutzgesetze
der Länder zu prüfen und für die Vereinbarkeit von Barrierefreiheit und
Denkmalschutz durch sinnvolle, individuell einsetzbare Ausgleichsmecha-
nismen sowie die Einbeziehung von Experten bei Planungen und Bau-
bzw. Umbaumaßnahmen und die Veröffentlichung guter Praxisbeispiele zu
sorgen,

14. dafür zu sorgen, dass bei Großveranstaltungen wie Messen und Kongres-
sen Barrierefreiheit baulich und im Servicebereich sichergestellt aber auch

hinsichtlich des Umfeldes (An- und Abreise, Gastronomie und Beherber-
gung) gewährleistet wird;

Drucksache 17/5913 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

zum barrierefreien Reisen

15. gemeinsam mit den Ländern für eine verbindliche Umsetzung von Barrie-
refreiheit sowohl im Schienenpersonenfernverkehr als auch im öffentlichen
Personennahverkehr durch die Verkehrsträger zu sorgen,

16. dafür zu sorgen, dass die Deutsche Bahn AG Bahnhöfe generell für die ge-
nannten Zielgruppen barrierefrei umbaut und sicherstellt, dass in allen Zü-
gen fahrzeuggebundene Ein- und Ausstiegstechnik vorhanden ist,

17. sich gegenüber den Ländern dafür einzusetzen, dass die Kommunen Wege
vom Bahnhofsausgang bis zum Parkplatz, Taxistand oder zur Haltestelle
des öffentlichen Personennahverkehrs barrierefrei gestalten,

18. dafür zu sorgen, dass die Deutsche Bahn AG bei Zügen ohne fahrzeugge-
bundene Ein- und Ausstiegstechnik und auf nicht barrierefreien Bahnhöfen
den Ein-, Umsteige- und Ausstiegsservice für Fahrgäste mit Behinderun-
gen bedarfsgerecht ausbaut,

19. dafür zu sorgen, dass Fahrgastinformationen und Tarife sowie alle Bedien-
vorrichtungen wie z. B. Fahrkartenautomaten leicht zugänglich, verständ-
lich und für alle Fahrgäste nutzbar sind,

20. die Durchsetzung der mit den Verordnungen (EG) Nr. 1107/2006 sowie
(EG) Nr. 1371/2007 geltenden Rechte von mobilitätseingeschränkten und
behinderten Menschen im Flug- und Schienenpersonenverkehr zu kontrol-
lieren und wirksame Sanktionierungsmöglichkeiten bei Verstößen gegen
die Vorschriften zu schaffen,

21. Reisebüros und -veranstalter dazu anzuhalten und zu unterstützen, ihre
Dienstleistungen barrierefrei anzubieten;

zur Fortbildungsförderung und Sensibilisierung

22. sich dafür einzusetzen, dass Vorschriften über barrierefreies Planen und
Bauen als verpflichtender Bestandteil in die Architekturausbildungen auf-
genommen und die Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten auf diesem Ge-
biet verbessert werden,

23. gemeinsam mit Architekten- und Ingenieurskammern, Bauinnungen,
Handwerkskammern und Industrie- und Handelskammern für barriere-
freies Bauen zu sensibilisieren,

24. sich dafür einzusetzen, dass Barrierefreiheit verpflichtend in die akademi-
sche Ausbildung der tourismusrelevanten Studiengänge sowie die Hotel-
fachschulweiterbildungen aufgenommen wird,

25. die touristischen Anbieter im Sinne eines barrierefreien Tourismus für alle
für Barrierefreiheit zu sensibilisieren und anzuregen, dass dazu Menschen
mit Behinderungen bzw. deren Vereine und Verbände sowie Behinderten-
bzw. Seniorenbeauftragte von den Tourismusverbänden, insbesondere dem
Deutschen Hotel- und Gaststättenverband e. V. (DEHOGA Bundesver-
band), gezielt zum Gesprächsaustausch eingeladen werden,

26. die Entwicklung und Vermarktung barrierefreier Angebote und Dienstleis-
tungen im Sinne eines Tourismus für alle zu unterstützen,

27. eine umfassende Fortbildungsförderung zum barrierefreien Tourismus, ins-
besondere durch die finanzielle Förderung des Deutschen Seminars für
Tourismus (DSFT) und der NatKo, sicherzustellen;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/5913

zur Kennzeichnung und Vermarktung

28. sich gegenüber dem DEHOGA und dem Hotelverband Deutschland
(IHA) e. V. dafür einzusetzen, dass im Rahmen der mit den Verbänden der
Menschen mit Behinderungen abgeschlossenen Zielvereinbarung zur Dar-
stellung barrierefreier Angebote in Hotellerie und Gastronomie eine ver-
bindliche Überprüfung der Barrierefreiheit-Piktogramme durch eine unab-
hängige Stelle, wie z. B. die NatKo, die vom Bund entsprechend finanziell
zu unterstützen ist, gewährleistet wird,

29. gemeinsam mit den Verbänden der Menschen mit Behinderungen sowie
dem DEHOGA und dem IHA auf eine bundesweit einheitliche Kennzeich-
nung von barrierefreien Hotels und Gaststätten hinzuwirken und sich für
den Aufbau eines bundesweit qualitätsgeprüften Gütesiegels „Barriere-
freier Tourismus für alle“ einzusetzen und dessen Einführung finanziell zu
unterstützen,

30. wegweisende Modellprojekte für barrierefreien Tourismus zu fördern und
gute Praxisbeispiele für Barrierefreiheit im Tourismus bundesweit bekannt
zu machen,

31. sich dafür einzusetzen, dass Barrierefreiheit stärker in der Arbeit und dem
Budget der Deutschen Zentrale für Tourismus e. V. (DZT) berücksichtigt
wird und sich gegenüber den Ländern dafür einzusetzen, dies auch bei der
Arbeit der Landestourismusorganisationen zu berücksichtigen,

32. die dauerhafte Einrichtung eines „Tag des barrierefreien Reisens“ auf der
Internationalen Tourismus-Börse (ITB) zu unterstützen.

Berlin, den 25. Mai 2011

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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