BT-Drucksache 17/5620

Auswirkungen der Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug zum Stand 31. Dezember 2010

Vom 18. April 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/5620
17. Wahlperiode 18. 04. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Ulla Jelpke, Frank Tempel und der Fraktion
DIE LINKE.

Auswirkungen der Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug
zum Stand 31. Dezember 2010

Die Bundesregierung hatte zur Legitimierung der Neuregelung von Deutsch-
Nachweisen als Voraussetzung für den Ehegattennachzug im Jahr 2007 vorge-
bracht, dass sich die geforderten Sprachkenntnisse in einem überschaubaren
Zeitraum erlernen ließen, etwa innerhalb von drei Monaten. Inzwischen erklärt
die Bundesregierung, dass auch ein Spracherwerb in einem „Zeitraum von
zwei bis drei Jahren … in aller Regel zumutbar“ sei (vgl. Bundestagsdrucksache
17/3393, Antwort zu Frage 5a) und beruft sich dabei auf ein Grundsatzurteil des
Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 30. März 2010 (Az. 1 C 8.09).

Dieses Urteil steht jedoch in der Kritik, insbesondere weil das Gericht seiner
Pflicht nicht nachgekommen sei, offene europarechtliche Fragen dem Europäi-
schen Gerichtshof (EuGH) zur Klärung vorzulegen (vgl. jüngst Reinhard Marx,
„Sprachnachweis und Ehegattennachzug“, in: ZAR 1/2011, S. 15 ff.). Reinhard
Marx zufolge hat das BVerwG mit seiner „fragwürdigen Argumentation zur feh-
lenden Vorlagepflicht“ einen Konflikt verschärft, „statt ihn zu befrieden“, und
dabei „aus verfassungs- und unionsrechtlicher Sicht wesentliche Rechtsfragen
nicht einmal angesprochen, geschweige denn diskutiert“ (ebd., S. 20). Die un-
terbliebene Vorlage beim EuGH kritisiert auch Richter Andreas Pfersich (in:
ZAR 1/2011, S. 35).

Der EuGH hatte am 4. März 2010 (Chakroun/Niederlande, C-578/08) unter an-
derem entschieden, dass bei der Umsetzung der EU-Richtlinie zur Familien-
zusammenführung durch die Mitgliedstaaten das Richtlinienziel einer Begüns-
tigung des Familiennachzugs nicht beeinträchtigt werden dürfe. Hiermit ist
jedoch völlig unvereinbar, selbst einem fest integrierten Ehegatten mit Dauer-
aufenthaltsrecht sei es zuzumuten, die gesamte soziale und wirtschaftliche Exis-
tenz und alle erworbenen Rechtsansprüche in Deutschland aufzugeben, um „die
familiäre Einheit im Ausland herzustellen“, wenn es dem nachzugswilligen Ehe-
gatten aus nicht selbst zu vertretenden Gründen nur schwer oder gar nicht mög-
lich ist, die geforderten Sprachkenntnisse zu erwerben, wie es das BVerwG ent-
schieden hat (Urteil vom 30. März 2010, Az. 1 C 8.09, Rn. 45).

Der Bundesverwaltungsrichter Harald Dörig erklärte im Rahmen der Hohen-
heimer Tage zum Ausländerrecht 2011, das „I-Tüpfelchen“ bei der Entschei-

dung, den EuGH nicht anzurufen, sei ein Bericht der EU-Kommission gewesen,
in dem Regelungen einiger Mitgliedstaaten zu Sprachanforderungen beim
Ehegattennachzug grundsätzlich gebilligt worden seien. Auf diesen Bericht zur
Anwendung der Familienzusammenführungsrichtlinie vom 8. Oktober 2008
(KOM(2008) 610) wird auch in der Urteilsbegründung in dem Verfahren 1 C
8.09 Bezug genommen (Rn. 25 und 28). Ein Bericht der Kommission zur An-

Drucksache 17/5620 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

wendungspraxis in den Mitgliedstaaten kann jedoch grundsätzlich kein Beleg
dafür sein, dass der EuGH eine konkrete Rechtsfrage bereits klar und abschlie-
ßend entschieden hat („acte claire“). Es gibt vielmehr zahlreiche juristische
Stellungnahmen, die vom genauen Gegenteil ausgehen (vgl. Nachweise bei
Reinhard Marx, a. a. O., S. 20 Fn. 44). In dem vom BVerwG herangezogenen
Kommissionsbericht heißt es zudem, dass Sprachanforderungen nur dann zuläs-
sig seien, wenn sie dem Zweck der erleichterten Integration von Familienange-
hörigen dienen „und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung tragen“
(a. a. O., S. 9), was z. B. davon abhängig sei, „inwieweit der Zugang zu solchen
Kursen oder Tests gewährleistet ist, wie sie konzipiert und/oder organisiert sind
(Kursunterlagen, Gebühren, Veranstaltungsort usw.)“. Genau diese Gesichts-
punkte spielen in der deutschen Regelung und Praxis und in der Entscheidung
des BVerwG jedoch keinerlei Rolle. Auch der Hinweis des BVerwG auf eine im
Einzelfall möglicherweise verfassungsrechtlich gebotene Erteilung eines Visums
zum Zwecke des Spracherwerbs nach § 16 Absatz 5 des Aufenthaltsgesetzes
(AufenthG) heilt diesen Mangel nicht, denn dies soll nur gelten, wenn ein Ver-
weis auf die Möglichkeit eines Zusammenlebens im Ausland ausnahmsweise
nicht möglich sei – dieser Verweis auf das Ausland widerspricht jedoch grund-
sätzlich dem Ansatz subjektiver Rechte nach der Familienzusammenführungs-
richtlinie.

Auch das Verschlechterungsverbot im Rahmen des Assoziierungsrechts der EU
mit der Türkei steht der Einführung von Sprachnachweisen im Rahmen des Ehe-
gattennachzugs entgegen. Dies wird angesichts der sich fortentwickelnden
Rechtsprechung des EuGH immer deutlicher und wurde z. B. von Rechtsanwalt
Jan Tobias Behnke bereits Anfang 2008 festgestellt (in: ANA-ZAR 1/2008,
S. 2).

Eine ministerielle „Evaluierung“ der Auswirkungen der Neuregelung des Ehe-
gattennachzugs wurde mit erheblicher Verzögerung im September 2010 vorge-
legt (Bundestagsdrucksache 17/3090). Zu den umstrittenen Fragen ihrer Ver-
hältnismäßigkeit und rechtlichen Zulässigkeit und ob die vorgegebenen Ziele
durch die Regelung überhaupt erreicht werden können, enthält der Evaluie-
rungsbericht jedoch keine Angaben. Lediglich das Grundsatzurteil des BVerwG
wird kurz benannt und in einer „Zusammenfassung“ findet sich ein Hinweis, der
im Bericht selbst jedoch gar nicht enthalten ist, wonach Lehrer von Goethe-Ins-
tituten in der Türkei „von Einzelfällen“ berichtet hätten, „in denen Frauen offen-
sichtlich absichtlich durch die Prüfung fallen, um eine ungewollte Ehe in
Deutschland zu vermeiden“. Der Abgeordnete Reinhard Grindel (Fraktion der
CDU/CSU) deutete dies so (Plenarprotokoll 17/65, S. 6812 C): „Durch eine
Evaluierung dieser Vorschrift ist nachgewiesen, dass wir damit in Einzelfällen
Zwangsehen bekämpfen“. Die Bundesregierung erklärte auf Nachfrage jedoch,
sie verfüge „nicht über Erkenntnisse darüber, ob es sich bei diesen Fällen um
Zwangsehen handelt“ (Bundestagsdrucksache 17/3393, Antwort zu Frage 7a),
und auch zu dem weiteren Schicksal der genannten Frauen habe sie „keine Er-
kenntnisse“ (ebd., Frage 7e).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Visa zum Ehegattennachzug wurden im Jahr 2010 erteilt (bitte den
Vergleichswert für 2009 und den prozentualen Rückgang oder Anstieg nen-
nen)?

a) Wie lauten die entsprechenden Angaben zu den 15 stärksten Herkunftslän-
dern, differenziert nach Ländern (bitte auch die Summe aller 15 Länder
nennen)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/5620

b) Wie lauten die entsprechenden Angaben zu den 15 stärksten Herkunftslän-
dern, differenziert nach Zuzug zu Deutschen/Nichtdeutschen/Ehefrauen/
Ehemännern?

2. Wie lautet die gesonderte Statistik des Auswärtigen Amts zum Sprachnach-
weis beim Ehegattennachzug für die zehn Hauptherkunftsländer (vgl. Anlage 2
zu Bundestagsdrucksache 16/12979) für das Jahr 2010 (bitte auch die jewei-
ligen Vergleichswerte für 2009 benennen)?

3. Wie hoch war der Anteil der externen Prüfungsteilnehmenden bei Sprachprü-
fungen der Goethe-Institute „Start Deutsch 1“ bzw. bei anderen Anbietern im
Jahr 2010 (bzw. soweit vorliegend) gemessen an der Gesamtzahl der Prüf-
linge weltweit (bitte zusätzlich die jeweiligen Quoten der 15 wichtigsten Her-
kunftsländer und der jeweils zehn Länder mit den höchsten und niedrigsten
Externenquoten mit einer Teilnehmendenzahl über 100 angeben)?

4. Wie hoch waren die Bestehensquoten bei Sprachprüfungen „Start Deutsch 1“
der Goethe-Institute im Ausland im Jahr 2010 (bzw. soweit vorliegend; bitte
nach externen und internen Prüfungsteilnehmenden und der Gesamtzahl dif-
ferenziert angeben sowie absolute und relative Zahlen nennen, und diese
Quoten bitte zusätzlich noch einmal für die 15 Hauptherkunftsländer und die
jeweils zehn Länder mit höchsten und niedrigsten Quoten mit einer Teilneh-
mendenzahl von über 100 angeben)?

5. Welche 20 Herkunftsländer verzeichneten den prozentual stärksten Rück-
gang erteilter Visa zum Ehegattennachzug (bitte diese Daten jeweils nennen),
wenn die Werte des Jahres 2006 (d. h. dem Jahr vor Inkrafttreten der Neu-
regelung) mit den Werten des Jahres 2010 verglichen werden (bitte nur Län-
der berücksichtigen mit mindestens dreistelliger Visazahl im Jahr 2006), und
wie erklärt bzw. bewertet die Bundesregierung diesen Rückgang in den ein-
zelnen Ländern jeweils?

6. Wie viele Aufenthaltskarten an drittstaatsangehörige Familienangehörige
von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern wurden 2010 erteilt (bitte die
Zahlen bezüglich der zehn wichtigsten Herkunftsländer gesondert ausweisen
und jeweils die Vergleichswerte des Vorjahres nennen)?

7. Ist die Aussage in dem Evaluierungsbericht (Erhebung von Alev Yazici an
der Universität Ankara, Bundestagsdrucksache 17/3090, S. 21), wonach
59 Prozent der Teilnehmer zum ersten Mal, 18 Prozent zum zweiten Mal an
der Prüfung teilgenommen hätten, so zu verstehen, dass die übrigen 23 Pro-
zent mehr als zwei Mal an der Prüfung teilgenommen haben, oder wie sonst
ist die Differenz der Angaben zu 100 Prozent zu erklären, und wie bewertet
es die Bundesregierung, dass nach dieser Untersuchung weit weniger als
59 Prozent den Sprachtest beim ersten Mal bestanden haben (denn natürlich
bestehen bei Weitem nicht alle Teilnehmenden die Prüfung)?

8. In welchen Ländern gibt es keine Goethe-Institute oder lizensierte Partner-
institute, an denen der notwendige Sprachtest im Rahmen des Ehegatten-
nachzugs oder auch vorbereitende Sprachkurse absolviert werden können,
wie wird in diesen Ländern jeweils die Sprachprüfung vorgenommen, bzw.
wie müssen Betroffene aus diesen Ländern den geforderten Sprachnachweis
erbringen, und inwieweit bzw. bezüglich welcher Länder wird diese Praxis
von der Bundesregierung mit welcher Begründung als kritisch angesehen?

9. Da im Evaluierungsbericht auf Bundestagsdrucksache 17/3090 auf Seite 15
ausgeführt wird, dass „auf vielen Teilnehmern … ein hoher Druck lastet“ und
deshalb „an einigen Instituten psychologische und sozialpädagogische Bera-
tungs- und Betreuungsangebote mit zusätzlichem, fachlich qualifiziertem
Personal eingerichtet“ worden seien, stellen sich folgende Fragen:

Drucksache 17/5620 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

a) Ist dies nicht ein Indiz dafür, dass die Kritik berechtigt ist, wonach der
Zwang zum Nachweis eines bestimmten Sprachniveaus als Vorausset-
zung dafür, mit dem Ehepartner im Wunschland zusammenleben zu kön-
nen, für viele Betroffene eine erhebliche psychische Belastung darstellt,
während die Bundesregierung zur Legitimierung der Neuregelung eher
den Eindruck zu erwecken versuchte, die Betroffenen würden „mit
großer Freude“ an etwa dreimonatigen Sprachkursen teilnehmen (so
z. B. die Beauftragte der Bundesregierung für Integration, Plenarproto-
koll 16/144, S. 15188; bitte ausführen)?

b) Wie beurteilt die Bundesregierung die Lage von Betroffenen in Ländern
und/oder Regionen, in denen kein psychologisches Beratungs- und Be-
treuungsangebot mit fachlich qualifiziertem Personal im Zusammenhang
des Deutsch-Spracherwerbs im Ausland zur Verfügung steht, da ein sol-
ches Angebot grundsätzlich doch offenkundig für erforderlich gehalten
wird (bitte ausführen)?

c) Wie viele psychologische und sozialpädagogische Beratungsangebote
der Goethe-Institute mit wie vielen angestellten Personen gibt es in wie
welchen Ländern, wie viele Beratungsstunden in wie vielen Fällen wur-
den im letzten Jahr erbracht (oder welche anderen Angaben können zum
Umfang dieses Angebots gemacht werden), und wie wird dieses Angebot
finanziert?

10. Inwieweit ist mit den Grundsätzen des Chakroun-Urteils vom 4. März 2010
(C-578/08) vereinbar, Ehegatten mit einem unbefristeten Aufenthaltsrecht
und festem Einkommen aufzuerlegen, ihre gesamte soziale und wirtschaft-
liche Existenz in Deutschland und alle erworbenen Rechtsansprüche aufzu-
geben, um die familiäre Einheit im Ausland herzustellen, wenn es dem
nachzugswilligen Ehegatten aus nicht zu vertretenden Gründen nur schwer
oder gar nicht möglich ist, die geforderten Sprachkenntnisse zu erwerben,
ansonsten aber alle Nachzugsbedingungen der Familienzusammenführungs-
richtlinie erfüllt sind (bitte ausführlich begründen; Wiederholung der
insoweit unbeantwortet gebliebenen Frage 19 auf Bundestagsdrucksache
17/3393 – die Antwort der Bundesregierung enthielt nicht die erbetene Be-
gründung, warum die geschilderte Einzelfallkonstellation damit vereinbar
sein soll, dass nach dem EuGH das Ziel der Begünstigung des Familien-
nachzugs nicht unterlaufen werden darf und die Verhältnismäßigkeit in
jedem Fall gewahrt sein muss; vorsorglich wird an dieser Stelle darauf hin-
gewiesen, dass sich nachfolgende Fragen ausschließlich auf die vom Bun-
desverfassungsgericht im Beschluss 2 BvR 1413/10 vom 25. März 2011
nicht behandelten europarechtlichen Aspekte beziehen oder politische Be-
wertungsfragen an die Bundesregierung darstellen, so dass ein Verweis auf
den genannten Beschluss als unzureichende und dem parlamentarischen In-
formationsrecht widersprechende Beantwortung angesehen würde)?

11. Wenn die Bundesregierung keine Zweifel daran hat, dass das Bundesver-
waltungsgericht bei seinem Urteil vom 30. März 2010 das Chakroun-Urteil
des EuGH berücksichtigt hat, warum enthält dann die Begründung des Bun-
desverwaltungsgerichtsurteils ihrer Auffassung nach keinerlei Auseinan-
dersetzung mit dem besagten Urteil (Wiederholung der insoweit unbeant-
worteten Frage 21 auf Bundestagsdrucksache 17/3393)?

12. Ist nach Auffassung der Bundesregierung in Kenntnis des Chakroun-Urteils
des EuGH vom 4. März 2010 und des EuGH-Urteils vom 29. April 2010
(C- 92/07) die Frage, ob die deutsche Regelung der Sprachnachweise im
Ausland im Rahmen des Ehegattennachzugs mit EU-Recht und insbeson-
dere mit der Familienzusammenführungsrichtlinie vereinbar ist, durch den

EuGH bereits entschieden oder ist ihrer Auffassung nach offenkundig, dass
der EuGH diese Frage bejahen wird, obwohl es auch in der Kommentar-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/5620

literatur (Nachweise z. B. bei Reinhard Marx, a. a. O., S. 20 Fn. 44) und bei
der Anhörung zum EU-Richtlinienumsetzungsgesetz zahlreiche Stimmen
gegeben hat, die von einer Unvereinbarkeit der Sprachanforderungen mit
EU-Recht ausgehen bzw. diese Frage zumindest als offen ansehen (vgl.
Stellungnahmen vom Deutschen Menschenrechtsinstitut, von Dr. Reinhard
Marx, des Caritasverbands/Diakonischen Werks, des Deutschen Juristin-
nenbunds und von Dr. Klaus Dienelt: Ausschussdrucksache 16(4)209 mit
den Buchstaben J, S. 6 ff., D, S. 4 ff., B, S. 14 ff., K, S. 2 ff., H, S. 5 ff.; bitte
ausführlich begründen; Wiederholung der insoweit nur unklar beantworte-
ten Frage 23 auf Bundestagsdrucksache 17/3393, denn gefragt worden war
nach der „Auffassung der Bundesregierung“ und nicht nach der Auffassung
des Bundesverwaltungsgerichts)?

13. Welche Bedingungen müssen nach Auffassung der Bundesregierung erfüllt
sein, um von einem „acte claire“ sprechen zu können, der eine Vorlage strit-
tiger europarechtlicher Fragen beim EuGH entbehrlich macht, und ist die
Annahme eines „acte claire“ insbesondere zulässig, wenn noch keine klä-
rende Entscheidung des EuGH zur strittigen Rechtsfrage vorliegt, dafür
aber verschiedene Auffassungen in der Rechtsprechung und/oder der Fach-
literatur vertreten werden, und welche Vorgaben macht z. B. das Bundesver-
fassungsgericht hierzu?

14. Stimmt die Bundesregierung der Auffassung zu, dass von einem „acte
claire“ jedenfalls nicht bereits deshalb gesprochen werden kann, weil ein-
zelne Mitgliedstaaten eine bestimmte (aber dennoch rechtlich umstrittene)
Auslegung einer Richtlinie für zulässig halten und die Kommission in
einem Bericht über die Umsetzung dieser Richtlinie zwar keine grundsätz-
lichen Bedenken hiergegen erhebt, die konkrete Auslegung und Umsetzung
jedoch an bestimmte Bedingungen knüpft, von denen aber offengelassen
wird, ob sie von den Mitgliedstaaten erfüllt wurden oder nicht (wenn nein,
bitte begründen)?

15. Wie ist die Auffassung der Beauftragten der Bundesregierung für Migra-
tion, Flüchtlinge und Integration und des Bundesministeriums der Justiz zu
den Fragen 10 bis 14?

16. Wie bewertet die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flücht-
linge und Integration, Dr. Maria Böhmer, im Nachhinein ihren Versuch der
Entkräftung von Kritik an der Neuregelung im Plenum des Deutschen Bun-
destages, wonach ihrer Einschätzung nach die Sprachkursteilnehmenden in
der Türkei „mit großer Freude die deutsche Sprache erlernt haben. Sie wa-
ren sicher, dass sie relativ schnell nach Deutschland kommen. Der Sprach-
kurs dauert circa drei Monate. Das heißt, es wird niemand gehindert, zum
Ehegatten zu ziehen“ (Plenarprotokoll 16/144, S. 15188 C), nachdem nun-
mehr feststeht, dass

a) sowohl das Bundesverwaltungsgericht als auch die Bundesregierung den
Spracherwerb in einem „Zeitraum von zwei bis drei Jahren … in aller
Regel“ für „zumutbar“ halten (vgl. Bundestagsdrucksache 17/3393, Ant-
wort zu Frage 5a) – und ist das auch ihre Auffassung,

b) angesichts einer Bestehensquote bei Sprachprüfungen im Ausland von
unter zwei Dritteln (inklusive Wiederholungen) und einem Anteil der ex-
ternen Prüfungsteilnehmenden ohne vorherigen Sprachkurs bei einem
Goethe-Institut in Höhe von etwa drei Vierteln davon ausgegangen wer-
den muss, dass der Zeitraum des Spracherwerbs in weit über der Hälfte
aller Fälle als deutlich länger als drei Monate einzuschätzen ist (weil der
Spracherwerb ohne Sprachkurs länger dauert bzw. weil Kurse und Prü-
fungen wiederholt werden müssen), oder welche Einschätzung hat sie

hierzu,

Drucksache 17/5620 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

c) sehr wohl Menschen daran gehindert werden, „zum Ehegatten zu zie-
hen“, wenn nämlich in den Fällen, in denen ein Spracherwerb aus nicht
selbst zu vertretenden Gründen unmöglich oder unzumutbar ist, die Her-
stellung der Ehegemeinschaft und ein eheliches Zusammenleben im
Ausland als zumutbar erachtet werden, was nach Ansicht des Bundesver-
waltungsgerichts (s. Vorbemerkung) selbst dann der Fall sein kann, wenn
dies bedeutet, dass der in Deutschland lebende Ehepartner sein dauerhaf-
tes Aufenthaltsrecht, seine Arbeit und seine gesamte soziale Existenz
aufgeben muss, und wie bewertet sie diese Rechtsprechung des Bundes-
verwaltungsgerichts (bitte – wie stets – alle Unterfragen getrennt und be-
gründet beantworten)?

17. Wie begründet die Bundesregierung ihre in der Antwort zu Frage 22 auf
Bundestagsdrucksache 17/3393 geäußerte Auffassung, der EuGH habe sich
angeblich nicht von seiner früheren Rechtsprechung („Demirel“-Urteil)
distanziert, wonach für den Bereich des Familiennachzugs ein den Allge-
meinen Rechtsschutzversicherungsbedingungen (ARB) 1/80 entsprechen-
des Verschlechterungsverbot fehle, obwohl

a) der EuGH beispielsweise in seinem Abatay-Urteil vom 21. Oktober 2003
ausdrücklich klargestellt hat, dass das Verschlechterungsverbot nach Ar-
tikel 13 ARB 1/80 „nicht nur für die türkischen Arbeitnehmer, sondern
auch für deren Familienangehörige gilt“ (Rn. 82) und es den innerstaat-
lichen Stellen verbietet, jedwede „neue(n) Hindernisse“ bei der schritt-
weisen Verwirklichung der Freizügigkeit einzuführen (Rn. 72), so dass
zwar „die erstmalige Zulassung der Einreise eines türkischen Staatsange-
hörigen in einen Mitgliedstaat … im Grundsatz ausschließlich dem
Recht dieses Staates“ unterliegt (Rn. 65), das Verschlechterungsverbot
aber zugleich zur Folge hat, dass keine strengeren Zulassungsbedingun-
gen als zum Inkrafttreten des Beschlusses ARB 1/80 (Rn. 66 ff.) bzw. zu
irgendeinem Zeitpunkt danach (vgl. Toprak-Urteil) bezüglich der materi-
ellen und/oder verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für die erstmalige
Aufnahme türkischer Staatsangehöriger gelten dürfen (vgl. auch Urteil
C-92/07 vom 29. April 2010), wobei der Einbezug von Familienangehö-
rigen „nicht von der Ausübung einer Beschäftigung abhängt“ (Sahin-
Urteil, Rn. 51) und der „Begriff ‚ordnungsgemäß‘ im Sinne von Artikel 13
des Beschlusses Nr. 1/80“ nach der Rechtsprechung des EuGH lediglich
bedeutet, „dass der türkische Arbeitnehmer oder sein Familienangehöri-
ger die Vorschriften des Aufnahmemitgliedstaats auf dem Gebiet der
Einreise, des Aufenthalts und gegebenenfalls der Beschäftigung beachtet
haben muss“ (Sahin-Urteil vom 17. Juli 2009, Rn. 53, Abatay-Urteil,
Rn. 84) – d. h. dass für die Anwendung des Verschlechterungsverbots
nach Artikel 13 ARB 1/80 auf Familienangehörige nicht deren Beschäf-
tigung erforderlich ist, sondern lediglich, dass die Aufenthalts- und Be-
schäftigungsbedingungen des Aufnahmestaates eingehalten wurden,

b) auch die Bundesregierung auf Bundestagsdrucksache 17/4623 zu Frage 1
explizit anerkannt hat, dass das Verschlechterungsverbot nach Artikel 13
ARB 1/80 nach der Rechtsprechung des EuGH Auswirkungen auf Rege-
lungen im Bereich des Familiennachzugs hat (z. B. die Dauer der Min-
destehebestandszeit als Voraussetzung eines eigenständigen Aufenthalts-
rechts von Ehegatten),

c) der EuGH im Sahin-Urteil vom 17. September 2009 ausdrücklich festge-
stellt hat, dass das Verschlechterungsverbot nach Artikel 13 ARB 1/80
„neuen Beschränkungen … entgegensteht, die die materiell- und/oder
verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für die erstmalige Aufnahme tür-

kischer Staatsangehöriger … betreffen“ (Rn. 64 und 65); wobei die Wör-
ter „erstmalige Aufnahme“ klarstellen, dass die Bedingungen für die

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/5620

erstmalige Einreise, d. h. auch den Familiennachzug, gemeint sind, und
die Wörter „türkischer Staatsangehöriger“ klarstellen, dass nicht nur
„Arbeitnehmer“, sondern – dem Wortlaut des Artikels 13 ARB 1/80 ent-
sprechend – auch deren Familienangehörigen gemeint sind,

d) selbst Kay Hailbronner, der die EuGH-Rechtsprechung im Allgemeinen
kritisch beurteilt, in seinem Kommentar zum Ausländerrecht feststellt,
„dass das Verschlechterungsverbot sich auf alle Rechtsvorschriften be-
zieht, die die Einreise, den Aufenthalt und den Zugang türkischer Staats-
angehöriger zum Arbeitsmarkt regeln“ (D 5.2 zu Artikel 13 ARB 1/80,
Rn. 7) und Artikel 13 ARB 1/80, insbesondere auch für Familienangehö-
rige gelte, die auch nicht als Arbeitnehmer beschäftigt sein müssen (ebd.,
Rn. 3) (bitte – wie stets – die Unterfragen getrennt und nachvollziehbar
begründet beantworten)?

18. Welche Bedeutung kann das Demirel-Urteil des EuGH aus dem Jahre 1987 für
die Frage der Reichweite der Standstill-Klausel nach Artikel 13 ARB 1/80
beim Familiennachzug aktuell überhaupt noch haben, da das Demirel-Urteil

a) an keiner Stelle eine explizite Aussage zu Artikel 13 ARB 1/80 enthält
(was damit erklärt werden muss, dass auch die Vorlagefragen sich nicht
auf Artikel 13 ARB 1/80 bezogen), sondern sich insbesondere mit den
Auswirkungen des Artikels 7 (i. V. m. Artikel 12) des Assoziationsab-
kommens beschäftigte;

b) dort, wo es sich in allgemeiner Form auf das Verbot neuer Beschränkun-
gen für den Zugang zum Arbeitsmarkt nach dem ARB 1/80 bezieht
(Rn. 22), nur von ordnungsgemäß beschäftigten „Arbeitnehmern“
spricht, während das Verschlechterungsverbot nach Artikel 13 ARB 1/80
seinem eindeutigen Wortlaut nach ausdrücklich für „Arbeitnehmer und
ihre Familienangehörigen“ gilt, so dass der EuGH die Auswirkungen des
Verschlechterungsverbots nach Artikel 13 ARB 1/80 auf Familien-
angehörige in diesem Zusammenhang offenkundig nicht im Blick hatte?

19. Welche konkreten Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus dem
Chakroun-Urteil des EuGH und dem hierauf reagierenden Urteil des Bun-
desverwaltungsgerichts vom 16. November 2010 (1C 20 und 21.09) in Be-
zug auf die (Nicht-)Berücksichtigung der sozialrechtlichen Freibeträge nach
§ 11 Absatz 2 Satz 1 Nummer 6 i. V. m. § 30 des Zweiten Buches Sozial-
gesetzbuch (SGB II) bzw. nach § 11 Absatz 2 Satz 2 SGB II bei der Berech-
nung des Lebensunterhalts im Aufenthaltsrecht, nachdem die Begründung
des Urteils des BVerwG nunmehr vorliegt, welche Gesetzes- oder Verord-
nungsänderungen sind geplant, und welche Vereinbarungen wurden auf der
Ausländerreferentenbesprechung hierzu getroffen (vgl. Antwort der Bun-
desregierung zu Frage 18 auf Bundestagsdrucksache 17/4623 und auf eine
Schriftliche Frage der Fragestellerin auf Bundestagsdrucksache 17/4326,
S. 3)?

20. Inwieweit wird die Bundesregierung hierbei die von Bundesverwaltungs-
richter Harald Dörig im Rahmen der Hohenheimer Tage zum Ausländer-
recht 2011 geäußerte Auffassung berücksichtigen, wonach es integrations-
politisch kontraproduktiv sei, die sozialrechtlichen Freibeträge bei der
Berechnung des notwendigen Lebensunterhalts im Aufenthaltsrecht negativ
zu berücksichtigen, und inwieweit wird sie seine Hoffnung berücksichtigen,
dass es zu entsprechenden Änderungen nicht nur im Bereich der Fami-
lienzusammenführungsrichtlinie, sondern generell kommt, wie von einer
Bundesratsinitiative des Landes Berlin vorgesehen (vgl. aber z. B. auch den
– mittlerweile abgelehnten – Vorschlag der Fraktion DIE LINKE. auf Bun-
destagsdrucksache 17/1557, Artikel 1 Nummer 2)?

Drucksache 17/5620 – 8 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
21. Müsste nicht wenigstens auch bei langfristig Aufenthaltsberechtigten nach
den §§ 9a bis 9c AufenthG die Berechnung des Lebensunterhalts unter an-
spruchswahrender Berücksichtigung der genannten sozialrechtlichen Frei-
beträge entsprechend den Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts
vom 16. November 2010 bzw. des Chakroun-Urteils des EuGH erfolgen, da
die Formulierungen zu notwendigen Einkünften in Artikel 5 Absatz 1 Buch-
stabe a der Richtlinie zu langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsange-
hörigen wortgleich sind zu denen in Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe c der
Familienzusammenführungsrichtlinie (wenn nein, bitte begründen)?

22. Was sind die zwischenzeitlichen Ergebnisse der länderoffenen Arbeits-
gruppe „Erfolg der Integrationskurse sichern – Informationsstand aller Be-
teiligten verbessern und Integrationsmanagement optimieren“, zu welchen
konkreten Punkten oder Fragestellungen sollen innerhalb dieser Arbeits-
gruppe in welchem Zeitraum Ergebnisse erzielt werden, und wer konkret ar-
beitet derzeit in dieser Arbeitsgruppe mit?

23. Welche Regelungen genau enthält die Aktualisierung des Visumhandbuchs
zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Absatz 5 AufenthG in-
folge der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur verfassungs-
konformen Umsetzung der Sprachanforderungen im Ausland als Vorausset-
zung für den Ehegattennachzug, welche Bedingungen müssen erfüllt sein,
damit Ehegatten im Ausnahmefall mit einem solchen Sprachvisum einrei-
sen können, und ist in diesen Fällen eine Aus- und Wiedereinreise erforder-
lich, wenn der Nachweis von Sprachkenntnissen des Niveaus A1 in
Deutschland dann erbracht wurde?

24. Welche praktischen Erfahrungen liegen mit der Erteilung einer Aufenthalts-
erlaubnis nach § 16 Absatz 5 AufenthG zur Sicherstellung einer verfas-
sungskonformen Umsetzung der Sprachanforderungen im Ausland beim
Ehegattennachzug vor?

25. Inwieweit sieht die Bundesregierung die vom niederländischen Bezirksge-
richt in Haag am 31. März 2011 dem EuGH vorgelegten allgemeinen und
konkreten Fragen zur Anwendung von Artikel 7 Absatz 2 der EU-Familien-
zusammenführungsrichtlinie als auf die deutsche Regelung übertragbar an
(vgl. www.migrationsrecht.net/nachrichten-auslaenderrecht-europa-und-eu/
1764-eugh-sprachanforderung-integrationstest-familiennachzug-familien-
zusammenfuehrungsrichtlinie.html),

bitte differenzieren nach den Aspekten

a) generelle Zulässigkeit der Versagung des Nachzugs wegen Nichtbeste-
hens eines Tests,

b) Erreichbarkeit von Fortbildungsmöglichkeiten im Herkunftsstaat,

c) Berücksichtigung des Kindeswohls und familiärer Bindungen,

d) Ungleichbehandlung aufgrund von Ausnahmeregelungen für bestimmte
Drittstaatsangehörige?

Berlin, den 14. April 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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