BT-Drucksache 17/5570

Vermeintliche Integrationsverweigerung als Begründung für Gesetzesverschärfung

Vom 13. April 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/5570
17. Wahlperiode 13. 04. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Jan Korte, Ulla Jelpke, Frank Tempel und
der Fraktion DIE LINKE.

Vermeintliche Integrationsverweigerung als Begründung für
Gesetzesverschärfung

Der Deutsche Bundestag beschloss am 17. März 2011 mit Mehrheit der Koali-
tionsfraktionen der CDU/CSU und FDP verschärfte Sanktionen und Kontrollen
im Zusammenhang verpflichtender Integrationskurse (Plenarprotokoll 17/96,
S. 10980 ff.). Die vorherige Bundesregierung hatte noch im Oktober 2009 – vor
der „Sarrazin- Debatte“ – erklärt, sie sehe „bei den Sanktionsmöglichkeiten bei
Verletzung der Teilnahmepflicht an einem Integrationskurs … keine Notwen-
digkeit für gesetzliche Änderungen“ (Bundestagsdrucksache 16/14157, S. 4 ff.).

Empirische Belege dafür, dass verschärfte Sanktionen im Zusammenhang der
Integrationskursteilnahme notwendig sein könnten, gibt es nicht, auch die Bun-
desregierung verfügt über „keine Erkenntnisse“ zu entsprechenden Pflichtver-
letzungen (vgl. Bundestagsdrucksache 17/3339). Auch eine vom Bundesminis-
terium des Innern initiierte Umfrage unter den Bundesländern erbrachte hierfür
keinerlei Anhaltspunkte, im Gegenteil: Mehrere Bundesländer erklärten, dass
von aufenthaltsrechtlichen Sanktionen deshalb kaum Gebrauch gemacht werde,
weil es keine vorwerfbare Integrationskursverweigerung in nennenswertem
Umfang gebe (vgl. Bundestagsdrucksache 17/4798). Dennoch wurden nun ent-
sprechende Gesetzesverschärfungen beschlossen, der Parlamentarische Staats-
sekretär Dr. Ole Schröder hatte bereits bei der ersten Lesung des Gesetzes im
Deutschen Bundestag erklärt: „Integrationsverweigerer müssen damit rechnen,
dass sie Sanktionen spüren“ (Plenarprotokoll 17/84, S. 9425).

Nach der Änderung des § 8 Absatz 3 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) müs-
sen die Ausländerbehörden künftig bei jeder Verlängerung einer Aufenthalts-
erlaubnis prüfen, ob einer Verpflichtung zur Integrationskursteilnahme nachge-
kommen wurde – dies war allerdings bereits nach bisheriger Rechtslage so, wie
die Bundesregierung auf Nachfrage bestätigte (Bundestagsdrucksache 17/4798,
zu Frage 13b). Neben dieser eher symbolischen Verschärfung gibt es aber auch
eine materielle Verschlechterung: Aufenthaltserlaubnisse von zur Integrations-
kursteilnahme verpflichteten Personen dürfen solange nur für längstens ein Jahr
verlängert werden, bis ausreichende schriftliche und mündliche deutsche
Sprachkenntnisse auf dem Niveau B1 nachgewiesen werden (oder ein anderer
„Nachweis“ einer erfolgten Integration erbracht wird).
Kein anderes europäisches Land errichtet derart hohe Sprachhürden im Aufent-
haltsrecht, wie eine Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deut-
schen Bundestages im Auftrag der Fragestellerin zeigt. Diese hohen Sprach-
anforderungen sind umso bedenklicher, als weniger als die Hälfte aller Prü-
fungsteilnehmenden in Deutschland nach einem 600-stündigen Sprachkurs das
Sprachniveau B1 erreicht. Hierfür können Qualitätsmängel des angebotenen

Drucksache 17/5570 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Sprachunterrichts, aber auch unterschiedliche Bildungsvoraussetzungen, Lern-
und Sprachbegabungen, das Lebensalter der Betroffenen sowie besondere Le-
benslagen (Krankheit, Schwangerschaft, Pflege von Angehörigen, Erziehung
von Kindern usw.) verantwortlich sein. Die Gewährung einer längerfristigen
Aufenthaltserlaubnis wird durch die Neuregelung abhängig von sozial selekti-
ven Faktoren.

In der politischen Debatte wird das Nichterreichen des Sprachniveaus B1 mitun-
ter gleichgesetzt mit einer angeblichen Integrationsverweigerung. So erklärte
etwa Hartfrid Wolff (FDP) bei der abschließenden Beratung des Gesetzentwurfs
im Deutschen Bundestag (Plenarprotokoll 17/96, S. 10984): „Aber diejenigen,
die sich nicht integrieren wollen, erhalten in Zukunft nur eine vorübergehende
Aufenthaltserlaubnis“.

Und der Abgeordnete Reinhard Grindel (CDU) behauptete (ebd., S. 10989),
dass „wir“ durch die Neuregelung „erstmals das bekommen, was Sie immer an-
mahnen: belastbare Zahlen über Integrationsverweigerer. … Wir werden zum
ersten Mal flächendeckend für ganz Deutschland sehr genau wissen, wie viele
Personen dieser Pflicht [zur Integrationskursteilnahme] nicht nachgekommen
sind“.

Dabei ist mit der Gesetzesänderung keine erweiterte Datenerfassung in diesem
Bereich verbunden, wie die Bundesregierung auf Anfrage bestätigte (vgl. Bun-
destagsdrucksache 17/4798, zu den Fragen 2a und 2b: „Die … Informations-
pflicht der Verwaltung hinsichtlich der Weitergabe teilnehmerbezogener Daten
… besteht für die Verwaltung bereits mit § 8 der Integrationskursverordnung ….
Die Informationspflicht wird insoweit nur in einen neuen gesetzlichen Rahmen
überführt“. Und: Die gesetzliche Neuregelung wird „keine … Änderungen be-
wirken“. Somit gilt auch künftig die Auskunft der Bundesregierung, wonach
eine Aussage, ob es sich bei denjenigen, die einer Verpflichtung zum Sprachkurs
nicht nachkommen oder diesen abbrechen „um ‚Verweigerer‘ handelt, … nicht
getroffen werden“ kann, weil die vielfältigen Gründe für eine Nichtteilnahme
statistisch nicht erfasst werden…“ (vgl. Bundestagsdrucksachen 16/14157, S. 5
und 17/4798, zu Frage 7).

Obwohl die Bundesregierung nach eigenen Angaben über keinerlei valide Daten
oder Informationen zu der Frage verfügt, wie viele Personen einer Sprachkurs-
verpflichtung aus vorwerfbaren Gründen nicht nachkommen, behauptet sie auf
Nachfrage, dass „schon der hohe Anteil an Verpflichteten, die den Statistiken
des BAMF zufolge den Integrationskurs gar nicht erst antreten“, die Schluss-
folgerung zuließe, dass von einer „vorwerfbaren Integrationskursverweigerung
in nennenswertem Umfang“ gesprochen werden könne (Bundestagsdrucksache
17/4798, zu den Fragen 7a und 9a). Bezeichnenderweise bekundete die Bun-
desregierung bereits im August 2010 auf Bundestagsdrucksache 17/2816 (zu
Frage 12), dass sie auch gar nicht „beabsichtigt“, wissenschaftliche oder empi-
rische Untersuchungen oder Forschungen zu der Frage vorzunehmen oder in
Auftrag zu geben, „wie hoch der Anteil derjenigen neu eingereisten Ehegatten
ist, die einer Verpflichtung zur Sprachkursteilnahme in Deutschland aus ihnen
vorwerfbaren Gründen nicht nachgekommen sind“. Die Fragestellerin geht da-
von aus, dass solche nachvollziehbaren empirischen Daten belegen würden,
dass es keine „Integrationskursverweigerung“ in nennenswertem Umfang gibt.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Ist auch der jetzige Bundesminister des Innern, wie sein Vorgänger, der Auf-
fassung, dass es „vielleicht 10 bis 15 Prozent wirkliche Integrationsverwei-
gerer“ unter den Muslimen in Deutschland gibt (bitte begründen)?
2. Für wie sinnvoll hält es der jetzige Bundesminister des Innern, über die (ver-
meintliche) Zahl von „Integrationsverweigerern“ nur unter den Muslimen in

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/5570

Deutschland zu spekulieren und zu debattieren, weil über entsprechende An-
teile von „Integrationsverweigerern“ bei nichtmuslimischen oder anderen
Migrantengruppen nach Auskunft der Bundesregierung „keine spezifischen
Erkenntnisse“ vorliegen (Bundestagsdrucksache 17/4798, zu Frage 4, bitte
begründen)?

3. Wieso hatte sich der vormalige Bundesminister des Innern nach seiner eige-
nen Aussage bei der Behauptung, es gebe vielleicht 10 bis 15 Prozent wirk-
liche Integrationsverweigerer, nur auf Muslime bezogen, obwohl es in der
Sendung „Bericht aus Berlin“ vom 5. September 2010, wo diese Äußerung
erstmalig fiel, um die (Nicht-)Teilnahme an Integrationskursen ging und
nicht nachvollziehbar ist, weshalb es diesbezüglich relevante Unterschiede
zwischen muslimischen und nichtmuslimischen Teilnehmenden geben sollte
(Nachfrage zur insofern, womöglich wegen eines Missverständnisses, unbe-
antwortet gebliebenen Frage 1c auf Bundestagsdrucksache 17/4798)?

4. Inwieweit wird die Bundesregierung künftig versuchen oder davon absehen,
eine „Bezifferung der Integrationsbereitschaft der Migranten“ vorzunehmen,
wenn sie eine „entsprechende Bewertung der Bereitschaft der Aufnahme-
gesellschaft“ „nicht für sinnvoll“ hält (vgl. Bundestagsdrucksache 17/4798,
Antwort zu Frage 21, bitte begründen)?

5. Stimmt der Bundesminister des Innern der Einschätzung des jetzigen wie
auch des vorherigen Präsidenten des Bundesamtes für Migration und Flücht-
linge zu, wonach nur etwa 1 Prozent der Migrantinnen und Migranten mit
dem Etikett „Integrationsverweigerer“ belegt werden könne (epd-Gespräch
mit Manfred Schmidt vom 9. Januar 2011, bitte begründen)?

a) Wenn nein, was ist seine Einschätzung hierzu, und auf welche empirischen
oder sonstigen Erkenntnisse stützt sich diese?

b) Wenn ja, wie lassen sich dann öffentlichkeitswirksame Debatten und Ge-
setzesverschärfungen mit Blick auf diese eher vernachlässigbare Gruppe
rechtfertigen, zumal hierdurch der falsche Eindruck erweckt wird, es liege
ein relevantes gesellschaftliches Problem „Integrationsverweigerung“ und
eine entsprechende subjektive Verweigerungshaltung in nennenswertem
Umfang vor und dadurch bereits bestehende Ressentiments weiter ver-
stärkt werden?

6. Wie begründet die Bundesregierung ihre Auffassung, dass „schon der hohe
Anteil an Verpflichteten, die den Statistiken des BAMF zufolge den Integra-
tionskurs gar nicht erst antreten“, die Schlussfolgerung zuließe, dass von
einer „vorwerfbaren Integrationskursverweigerung in nennenswertem Um-
fang“ gesprochen werden könne (Bundestagsdrucksache 17/4798, zu Frage 9a,
obwohl nach ihren eigenen Angaben keinerlei Daten dazu vorliegen, wie
viele der Betroffenen einen Kurs aus vorwerfbaren Gründen nicht begonnen
oder abgebrochen haben und es zahlreiche Gründe gibt, die gerade nicht auf
eine Verweigerungshaltung hindeuten (Krankheit, Schwangerschaft, Arbeits-
aufnahme, Fortzug usw.)?

7. Hat die Bundesregierung in Betracht gezogen, dass es vor allem deshalb
kaum zu aufenthaltsrechtlichen Sanktionen kommt, weil es keine vorwerf-
bare Integrationkursverweigerung in nennenswertem Umfang gibt (bitte dar-
legen, Wiederholung der insoweit unbeantwortet gebliebenen Frage 3c auf
Bundestagsdrucksache 17/4798)?

8. Bleibt die Bundesregierung bei ihrer Haltung, keine wissenschaftliche oder
empirische Untersuchung oder Forschung zu der Frage vorzunehmen oder in
Auftrag zu geben, wie hoch der Anteil derjenigen Personen ist, die einer Ver-
pflichtung zur Sprachkursteilnahme aus ihnen vorwerfbaren Gründen nicht

nachkommen (vgl. Bundestagsdrucksache 17/2816, zu Frage 12)?

Drucksache 17/5570 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

a) Wenn ja, wie begründet sie dies angesichts des massiven öffentlichen In-
teresses für dieses Thema und entsprechender politischer Debatten?

b) Wenn nein, welche konkreten Untersuchungen sind geplant oder inzwi-
schen bereits veranlasst worden?

9. Welche neuen Erkenntnisse haben sich aus der zum 1. Juli 2010 eingeführ-
ten neuen Integrationsgeschäftsdatei ergeben oder sind zu erwarten, etwa
dazu, wie viele zur Integrationskursteilnahme zugelassene oder verpflich-
tete Personen in welchem Zeitraum einen Kurs begonnen oder abgebrochen
haben und welche Gründe hierbei jeweils entscheidend waren (bitte Anga-
ben differenziert nach den zehn bedeutendsten Staatsangehörigkeiten ma-
chen)?

10. Wie bewertet und begründet es die Bundesregierung, dass eine Gesetzesän-
derung zur verstärkten Integrationskurskontrolle und entsprechenden Sank-
tionen vorgenommen wird, obwohl es nach ihren eigenen Angaben „noch
einer eingehenden Analyse“ bedurft hätte, aus welchen Gründen von aus-
länderrechtlichen Sanktionen „vielfach nur in geringem Umfang Gebrauch
gemacht wird“ und ob dieser Umstand überhaupt als „Indiz für ausländer-
behördliche Vollzugsdefizite anzusehen ist“ oder nicht (vgl. Parlamentari-
schen Staatssekretär Dr. Christoph Bergner, Plenarprotokoll 17/67, S. 7122
und Bundestagsdrucksache 17/4798, zu Frage 3), oder über welche neuen
diesbezüglichen Erkenntnisse verfügt die Bundesregierung womöglich?

11. Wie ist die gesetzliche Verschärfung, die eine längerfristige Aufenthaltser-
laubnis vom Nachweis des Sprachniveaus B1 abhängig macht, damit zu ver-
einbaren, dass die Bundesregierung auf Bundestagsdrucksache 17/2993 zu
Frage 8 noch erklärte, dass es „ein Erfolg der Integrationskurse“ sei, dass
der Anteil derjenigen, die das B1-Niveau erreichen, gestiegen sei – wobei
die Bundesregierung die unter 50-prozentige Erfolgsquote nicht negativ be-
wertete (bitte darlegen)?

12. Wann ist nach Auffassung der Bundesregierung der „Nachweis erbracht“,
dass eine „Integration in das gesellschaftliche und soziale Leben anderwei-
tig erfolgt ist“ (§ 8 Absatz 3 AufenthG), und welche Kriterien sollen die
Ausländerbehörden hierbei berücksichtigen?

a) Gilt insbesondere eine (Vollzeit-)Erwerbstätigkeit als ein solcher „Nach-
weis“, zumal eine Verpflichtung zur Integrationskursteilnahme wider-
rufen werden muss, wenn die Teilnahme auch an einem Teilzeitkurs
wegen einer Erwerbstätigkeit nicht zuzumuten ist (§ 44a Absatz 1 Satz 6
AufenthG)?

b) Wenn eine (Vollzeit-)Erwerbstätigkeit als Nachweis für eine „Integration
in das gesellschaftliche und soziale Leben“ gilt, inwieweit ist es dann
überhaupt noch zulässig, im Einbürgerungsverfahren zusätzliche Nach-
weise über das Sprachniveau B1 zu verlangen?

13. Ist es zutreffend, dass durch die Änderungen zu den §§ 88a und 8 Absatz 3
AufenthG keine neuen Daten erhoben oder gesammelt oder übermittelt wer-
den, insbesondere keine, die einen Rückschluss darauf zulassen würden, aus
welchen Gründen einer Verpflichtung zur Integrationskursteilnahme nicht
nachgekommen wurde, bzw. ob ein vorwerfbares „Verweigerungsverhal-
ten“ vorliegt (bitte darlegen)?

a) Wenn nein, wie verhält es sich?

b) Wenn ja, wie ist es dann zu erklären und zu bewerten, dass in der Öffent-
lichkeit und in der politischen Debatte zum Teil der Eindruck erweckt
wird, mit der gesetzlichen Neuregelung würden belastbare Zahlen über

„Integrationsverweigerer“ zur Verfügung stehen?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/5570

c) Sind entsprechende gesetzliche Änderungen geplant, um zu solchen
Daten über angebliche „Integrationsverweigerer“ zu kommen, und wenn
ja, welche, wenn nein, warum nicht?

14. Inwieweit stimmt die Bundesregierung vor dem Hintergrund, dass laut
BAMF-Statistik in den ersten drei Quartalen des Jahres 2010 bei bereits län-
ger hier lebenden Migrantinnen und Migranten nur weniger als 8 Prozent
aller Integrationskursverpflichtungen durch die Ausländerbehörden aus-
gesprochen wurden, über 92 Prozent hingegen durch die Träger der Grund-
sicherung für Arbeitsuchende, von denen die Bundesregierung (auf Bun-
destagsdrucksache 17/3339 zu den Fragen 4, 5 und 6) wiederum erklärte,
dass keine Erkenntnisse und auch kein Grund für die Annahme vorlägen,
die Träger würden ihrer gesetzlichen Verpflichtung zur Sanktionierung von
Verstößen gegen die Teilnahmepflicht nicht nachkommen (die Quote der
Teilnehmenden nach solchen Verpflichtungen bei „Altzuwanderern“ lag im
Jahr 2009 im Übrigen bei 99 Prozent; ebd., Frage 7), der Aussage zu, dass
bezüglich dieser Personengruppe der bereits länger hier lebenden Migran-
tinnen und Migranten, die im Zentrum der Debatte um angebliche „Inte-
grationsverweigerer“ steht, überhaupt kein Anlass besteht, über Verschär-
fungen des Sanktionsinstrumentariums zu diskutieren (bitte ausführlich
begründen)?

15. Stimmt die Bundesregierung der Auffassung zu, dass die Frage, ob eine Per-
son ein bestimmtes Sprachniveau nach einer bestimmten Sprachkursstun-
denzahl erreichen konnte oder nicht, grundsätzlich nichts darüber aussagt,
ob diese Person lern- oder „integrationswillig“ ist oder nicht (wenn nein,
bitte ausführlich begründen)?

a) Wenn ja, wie erklärt und bewertet sie anders lautende Äußerungen in
Politik und Öffentlichkeit, und wie wird sie solchen falschen Eindrücken
entgegenwirken?

b) Wenn ja, wie ist die Verschärfung des § 8 Absatz 3 AufenthG zu begrün-
den, weil damit auch all diejenigen mit einer aufenthaltsrechtlichen Ver-
schlechterung sanktioniert werden, die sich mühevoll um den Erwerb
deutscher Sprachkenntnisse bemüht haben und weiter bemühen, und
welche Wirkung hat die Neuregelung nach Einschätzung der Bundes-
regierung auf diese Personen?

16. Warum hält es die Bundesregierung für legitim und sinnvoll, den aufent-
haltsrechtlichen Druck auch auf solche lernwilligen Personen zu erhöhen,
die ihrer Verpflichtung zur Integrationskursteilnahme stets nachgekommen
sind und denen keinerlei Vorwürfe gemacht werden können?

17. Wie bewertet es die Bundesregierung, dass künftig die auch nach Ansicht
der Beauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration der Bundesre-
gierung, verbesserungsbedürftige Qualität der Integrationskurse (z. B. durch
eine bessere Bezahlung der Lehrkräfte) – und damit auch der Haushaltsetat,
den der Bund für Integrationskurse zur Verfügung stellt – mit dafür verant-
wortlich ist, ob Betroffene nur maximal einjährige oder längere Aufenthalts-
erlaubnisse erhalten, weil, und solange sie das Sprachniveau B1 nicht errei-
chen konnten?

18. Wie beurteilt die Bundesregierung die Gefahr, dass zeitlich maximal einjäh-
rige Aufenthaltserlaubnisse die Integration der Betroffenen noch erschwe-
ren, weil dies z. B. die Wohnungs- und Arbeitssuche behindert oder weil bei
Betroffenen das Gefühl ausgelöst werden könnte, nicht „gewollt“ zu sein
(bitte erläutern)?

19. Wie beurteilt die Bundesregierung die Gefahr, dass Betroffene aus finan-

ziellen oder zeitlichen Gründen oder weil sie entmutigt sind, sich dauerhaft

Drucksache 17/5570 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

mit einer maximal einjährigen Aufenthaltserlaubnis „abfinden“, wenn sie
z. B. auch im zweiten Versuch kein Sprachzertifikat über das Niveau B1 er-
werben konnten, und welche integrationspolitischen Auswirkungen wird
das haben (bitte ausführen)?

20. Werden bei hilfebedürftigen Personen künftig über einen einmaligen Wie-
derholungskurs hinaus die Kosten des weitergehenden Spracherwerbs über-
nommen, wenn diese ordnungsgemäß am Integrationskurs teilgenommen
haben, aber dennoch das Niveau B1 (noch) nicht erreichen konnten, und
wenn ja, auf welcher Rechtsgrundlage, und wenn nein, warum nicht, und
wie sollen die Betroffenen die geforderten Sprachkenntnisse erwerben,
wenn sie hierzu finanziell nicht in der Lage sind?

21. Wird vor dem Hintergrund der Neuregelung nach § 8 Absatz 3 Satz 5
AufenthG künftig auch wieder solchen Personen ein Wiederholungskurs
uneingeschränkt ermöglicht, die beim Abschlusstest das Niveau A2 nicht
erreichen konnten, und wenn nein, wie sollen diese Personen jemals eine
längerfristige Aufenthaltserlaubnis erhalten können?

22. Wenn in der Begründung zur Neuregelung des § 8 Absatz 3 Satz 5
AufenthG (Ausschussdrucksache 17(4)205, S. 7) ausgeführt wird, dass
hierdurch „den Betroffenen verdeutlicht“ würde, „dass zwischen Aufent-
haltsstatus und Integrationsfähigkeit ein Zusammenhang besteht“, was ist
nach Auffassung der Bundesregierung unter „Integrationsfähigkeit“ zu ver-
stehen, und bedeutet dies im Umkehrschluss, dass nicht „integrationsfähig“
ist, wer das Sprachniveau B1 nicht erreicht (bitte darlegen)?

23. Wieso wird im Zusammenhang der Neuregelung nach § 8 Absatz 3 Satz 5
AufenthG nicht auch ein Sprachzertifikat über das Niveau A2 als ausrei-
chend angesehen, zumal das geforderte Niveau B1 europaweit einmalig
hoch ist (bitte begründen)?

24. Wieso wird bei der Forderung nach bestimmten Sprachniveaus im Aufent-
haltsrecht, etwa im Zusammenhang der Neuregelung nach § 8 Absatz 3
Satz 5 AufenthG, aber auch an anderer Stelle, nicht nach den Vorerfahrun-
gen und dem Bildungsstand der Betroffenen differenziert, wie es etwa in
Dänemark der Fall ist (bitte begründen)?

25. Inwiefern und mit welcher Begründung hält es die Bundesregierung für in
sich schlüssig und begründbar, dass künftig für den Erhalt einer mehr als
einjährigen Aufenthaltserlaubnis in den Fällen des § 8 Absatz 3 AufenthG
genauso das Sprachniveau B1 nachgewiesen werden muss wie für den Er-
halt der deutschen Staatsangehörigkeit?

26. Inwieweit ist die Verschärfung des § 8 Absatz 3 neuer Satz 5 AufenthG in
Bezug auf türkische Staatsangehörige mit dem Verschlechterungsverbot im
Assoziationsrecht (Artikel 13 ARB 1/80) vereinbar sowohl was das neue
Erfordernis eines Sprachnachweises für eine längerfristige Aufenthaltser-
laubnis betrifft als auch die neuen Beschränkungen infolge vermehrter Vor-
sprachen und damit verbundener erhöhter Kosten für häufigere Verlänge-
rungen der Aufenthaltserlaubnis (bitte nach beiden Aspekten differenziert
beantworten)?

a) Wie ist die Antwort der Bundesregierung auf die Mündliche Frage 74
(vgl. Plenarprotokoll 17/98, S. 11244, diese entspricht der obigen Frage),
„die Frage der Vereinbarkeit einer gesetzlichen Festlegung der Geltungs-
dauer von Aufenthaltstiteln mit Art. 13 Assoziationsratsbeschluss 1/80 ist
in der Rechtsprechung des Europäische Gerichtshof noch nicht ent-
schieden“, damit vereinbar, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) in
mindestens zwei Urteilen bereits ausgeführt hat, dass eine kürzere Gel-

tungsdauer von Aufenthaltstiteln und damit verbundene finanzielle Aus-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/5570

wirkungen im Zusammenhang des Verschlechterungsverbots nach Arti-
kel 13 ARB 1/80 relevant sind (vgl. Sahin-Urteil vom 17. September
2009, Nr. 72, Urteil C-92/07 vom 29. April 2010, Rn. 57)?

b) Wie ist die eben benannte Antwort der Bundesregierung weiterhin damit
vereinbar, dass der EuGH in ständiger Rechtsprechung bereits generell
entschieden hat, dass „die Stillstandsklauseln nicht nur materielle Vor-
schriften, sondern auch Formvorschriften“ betreffen (Urteil C-92/07
vom 29. April 2010, Rn. 30, m. w. N.) und dass das Verschlechterungs-
verbot sich „auf sämtliche neuen Hindernisse für die Ausübung der
Arbeitnehmerfreizügigkeit“ erstreckt (Toprak-Urteil vom 9. Dezember
2010, Rn. 54) – wozu natürlich auch eine neue Begrenzung der zeitlichen
Geltungsdauer einer Aufenthaltserlaubnis gehört, zumal schon eine Ge-
bührenerhöhung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis als verbo-
tene neue Beschränkung im Sinne des Artikels 13 ARB 1/80 beurteilt
wurde?

c) Wie legt die Bundesregierung in Auseinandersetzung mit der oben zitier-
ten Rechtsprechung des EuGH den Begriff einer (verbotenen) „neuen
Beschränkung“ näher aus, wenn sie der Auffassung ist, der EuGH habe
dies noch nicht ausreichend entschieden oder müsse dies in jeder konkre-
ten Einzelfrage immer wieder erneut entscheiden?

d) Wie ist die oben zitierte Antwort der Bundesregierung weiterhin damit
vereinbar, dass die Bundesregierung auf Bundestagsdrucksache 17/4623
zu Frage 1 bereits eingeräumt hat, dass die Erhöhung der Mindestehebe-
standszeit nach § 31 AufenthG grundsätzlich dem Anwendungsbereich
des Artikels 13 ARB 1/80 unterfällt, und wieso kann nach Auffassung
der Bundesregierung die Verlängerung der Mindestehebestandszeit um
ein Jahr eine verbotene „neue Beschränkung“ im Sinne des Artikels 13
ARB 1/80 darstellen, nicht aber die Verkürzung der Geltungsdauer eines
Aufenthaltstitels auf maximal ein Jahr in bestimmten Konstellationen?

e) Inwieweit ist nach Auffassung der Bundesregierung – unabhängig von
ihren obigen Antworten – trotz der Neuregelung zu § 8 Absatz 3 neuer
Satz 5 AufenthG türkischen Staatsangehörigen spätestens nach fünfjäh-
riger Aufenthaltserlaubnis diese unbefristet zu verlängern, da § 24 des
Ausländergesetzes (AuslG) alter Fassung einen Rechtsanspruch auf un-
befristete Verlängerung nach fünfjähriger Aufenthaltserlaubnis vorsah,
wenn eine mündliche Verständigung „auf einfache Art in deutscher Spra-
che“ möglich war, d. h. nicht erst ab dem Niveau B1 (wenn auch die üb-
rigen Voraussetzungen des damaligen § 24 AuslG erfüllt sind)?

f) Inwieweit hält die Bundesregierung die Neuregelung zu § 8 Absatz 3
neuer Satz 5 AufenthG für sinnvoll, wenn sie auf die Hauptbetroffenen-
gruppe der türkischen Staatsangehörigen nicht anwendbar ist (bitte – wie
stets – alle Unterfragen begründet, nachvollziehbar und in Auseinander-
setzung mit der konkret in Bezug genommenen Rechtsprechung beant-
worten)?

27. Teilt der neue Bundesminister des Innern die Einschätzung seines Vorgän-
gers, wonach nirgendwo anders als in Berlin „eine so starke Ausprägung
von Parallelgesellschaften und eine so große Konzentration von Migranten
mit mäßigem Integrationswillen“ zu finden seien (bitte begründen), und
wenn ja, inwieweit hängt dies seiner Auffassung nach nicht etwa mit einer
in Berlin angeblich „besonders stark verbreiteten“ „Multikulti-Illusion“ zu-
sammen, sondern damit, dass in den für staatliche Integrationsversäumnisse
maßgeblichen 80er- und 90er-Jahren in Berlin überwiegend die CDU den
Regierenden Bürgermeister stellte (Wiederholung der nur unvollständig be-

antworteten Frage 10 auf Bundestagsdrucksache 17/4798)?

Drucksache 17/5570 – 8 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
28. Warum sieht die Bundesregierung trotz ihrer Initiativen etwa im Rahmen
der Deutschen Islamkonferenz, die regelmäßig Themen in „Länderzustän-
digkeit“ betreffen, es nicht (auch) als ihre, sondern ausschließlich als in
„Zuständigkeit der Länder“ liegende Aufgabe an, einem in Politik und
Öffentlichkeit verbreiteten – nach ihrer eigenen Auffassung: falschen – Bild
entgegenzuwirken, wonach eine fehlende Teilnahme am gemischtge-
schlechtlichen Sportunterricht angeblich etwas mit religiösen Motiven oder
einer mangelnden Teilnahmebereitschaft muslimischer Schülerinnen und
Schüler zu tun haben könnte (dies ist so gut wie nie der Fall) oder wonach
die muslimische Religionszugehörigkeit angeblich für das Fernbleiben vom
Sexualkundeunterricht verantwortlich sei (eher ist das Gegenteil der Fall;
vgl. Antwort der Bundesregierung zu den Fragen 16 und 17 auf Bundestags-
drucksache 17/4798)?

Berlin, den 13. April 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.