BT-Drucksache 17/5144

Demokratie in der Wirtschaft

Vom 16. März 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/5144
17. Wahlperiode 16. 03. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ottmar Schreiner, Anette Kramme, Petra Ernstberger,
Iris Gleicke, Hubertus Heil (Peine), Gabriele Hiller-Ohm, Josip Juratovic,
Angelika Krüger-Leißner, Ute Kumpf, Gabriele Lösekrug-Möller, Katja Mast,
Thomas Oppermann, Anton Schaaf, Silvia Schmidt (Eisleben),
Dr. Frank-Walter Steinmeier und der Fraktion der SPD

Demokratie in der Wirtschaft

Die betriebliche Mitbestimmung als auch die Mitbestimmung auf Unternehmens-
ebene haben sich in Deutschland – insbesondere in der schwerwiegenden Wirt-
schaftskrise – als Erfolgsmodell bewährt. Die sozialpartnerschaftliche Krisen-
bewältigung hat nicht unerheblich zum Erhalt vieler Arbeitsplätze beigetragen.
Mitbestimmung ist ein Standortvorteil; sie erhöht Motivation und Produktivität
der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und trägt wesentlich zum nachhaltigen,
wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen bei. Volkswirtschaften profitieren von
Unternehmensmitbestimmung; Länder mit ausgedehnter Mitbestimmung weisen
eine gerechtere Einkommensverteilung auf, besitzen eine hohe wirtschaftliche
Attraktivität, verfügen über eine starke Weltmarktposition und der soziale Frieden
ist sichergestellt.

Die Wissenschaftsvertreter der Kommission zur Modernisierung der deutschen
Unternehmensmitbestimmung („Biedenkopfkommission“) sehen das auch so.
Sie haben dem deutschen Modell der paritätischen Mitbestimmung auch vor
dem Hintergrund europäischer und globaler Anforderungen ein gutes Zeugnis
ausgestellt. Sie plädierten für eine Weiterentwicklung der Mitbestimmung. Die
Bundeskanzlerin sieht die Mitbestimmung als „einen nicht wegzudenkenden
Teil unserer sozialen Marktwirtschaft“ und ist „der Meinung, dass bei der Mit-
bestimmung nichts geändert werden“ muss. Die Europäisierung und Internatio-
nalisierung erfordert nach Ansicht der wissenschaftlichen Mitglieder der „Bie-
denkopfkommission“ Anpassungsmaßnahmen, die den veränderten rechtlichen
Rahmenbedingungen auf europäischer Ebene Rechnung tragen.

Die europäische Wirtschaftsintegration schafft für den Schutz und die Weiter-
entwicklung der deutschen Mitbestimmung neue Herausforderungen. Folgende
Umgehungstatbestände gefährden die Mitspracherechte der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer:

● „Die Flucht der Firmen zu Rechtsformen mit weniger Mitsprache läuft“
(Handelsblatt, 18. Februar 2011). Nach der jüngeren Rechtsprechung des

Europäischen Gerichtshofes zur Niederlassungsfreiheit können sich Firmen
mit ausländischer Rechtsform in Deutschland niederlassen und der deutschen
Unternehmensmitbestimmung entziehen. Die Zahl der Unternehmen, die
aufgrund der Wahl einer Konstruktion mit ausländischer Rechtsform nicht
unter die Mitbestimmung fallen, ist stark angewachsen (Sick/Pütz, WSI Mit-
teilungen, 1/2011, S. 34 ff.). Allein seit der „Biedenkopfkommission“ von
2006 bis Oktober 2010 war eine Zunahme von 17 auf 43 Unternehmen zu

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verzeichnen. Seither sind zwei neue bedeutende Unternehmen, das Recyc-
lingunternehmen ALBA Group plc & Co. KG sowie die Modekette ZARA
B.V. & Co. KG, bekannt geworden.

● Die Ende 2004 ins nationale deutsche Recht umgesetzte Richtlinie über die
Arbeitnehmerbeteiligung in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE Socie-
tas Europaea) sieht vor, dass die Mitbestimmung der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer in Verhandlungen zwischen der Unternehmensleitung und
einem besonderen Verhandlungsgremium der Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer (unter Einbeziehung von Gewerkschaften) festgelegt wird. Sollte
es in diesen Verhandlungen zu keiner Einigung kommen, greifen gesetzliche
Auffangregelungen, die sich tendenziell am weitestgehenden Niveau der
Mitbestimmung orientieren. Im Kontext dieser Auffangregelung ergibt sich
das Phänomen des „Einfrierens der Mitbestimmung“. Der Hintergrund dafür
sind die Schwellenwerte von 500 und 2 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmern im deutschen Mitbestimmungsrecht. Nach Angaben der Hans-
Böckler-Stiftung waren also 27 von 83 Unternehmen in Deutschland nah
genug an den Schwellenwerten für die Mitbestimmungspflicht, sodass sie
den „Einfriereffekt“ des Vorher-Nachher-Prinzips der Auffanglösung bei der
SE-Umwandlung genutzt haben könnten.

● Die ungarische EU-Ratspräsidentschaft will die Einführung der Unterneh-
mensrechtsform „europäische Privatgesellschaft“ prioritär behandeln. Die
geplante Europäische Privatgesellschaft (EPG) würde die Umgehung der
deutschen Mitbestimmung zusätzlich erleichtern, weil sie in Konkurrenz zu
nationalen Rechtsformen (GmbH) steht sowie bislang keine ausreichende
Arbeitnehmerbeteiligung vorsieht.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Ist die Bundesregierung der Ansicht, dass sich die deutsche Mitbestimmung
bewährt hat und weiterentwickelt werden muss?

2. Ist sich die Bundesregierung der oben benannten Handlungsfelder bewusst,
und will sie Maßnahmen ergreifen, um die Mitbestimmungsrechte der Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer sicherzustellen?

3. Wie hoch ist die Zahl der Kapitalgesellschaften in Deutschland, wie viele da-
von sind paritätisch mitbestimmt, und wie viele drittelbeteiligt?

4. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung der wissenschaftlichen Mitglie-
der der „Biedenkopfkommission“, die empfohlen haben, die Bildung von
Auslandsgesellschaften mit inländischem Verwaltungssitz „aufmerksam zu
beobachten und in dem Fall, dass sie in nennenswerter Zahl in mitbestim-
mungsrelevanter Größenordnung auftreten, geeignete und gemeinschafts-
rechtlich zulässige Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähig-
keit der deutschen Mitbestimmung zu treffen“?

a) Hat die Bundesregierung diese Entwicklung beobachtet, und wie hoch ist
nach aktuellem Stand die Zahl solcher Unternehmen?

b) Wann ist nach Ansicht der Bundesregierung die Größenordnung erreicht,
nach der Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der
deutschen Mitbestimmung ergriffen werden müssen?

c) Welche gesetzlichen Maßnahmen sollen dann ergriffen werden, um die
Gesetzeslücke zu schließen?

d) Will die Bundesregierung die deutschen Mitbestimmungsgesetze auf Aus-
landsgesellschaften – sowohl Mitbestimmungsgesetz (MitbestG) als auch

Drittelbeteiligungsgesetz (DrittelbG) – erstrecken und damit an die euro-
päischen Gegebenheiten anpassen?

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5. Wie viele Unternehmen fallen nicht unter das DrittelbG oder sogar unter das
MitbestG vor dem Hintergrund, dass nach dem MitbestG „für die Anwen-
dung dieses Gesetzes auf das herrschende Unternehmen die Arbeitnehmer
der Konzernunternehmen als Arbeitnehmer des herrschenden Unterneh-
mens“ (§ 5 MitbestG) gelten, und in § 2 Absatz 2 DrittelbG dies anders
geregelt ist, wonach im letzteren Fall die Arbeitnehmer von Tochterunter-
nehmen nicht zur Konzernmutter hinzugerechnet werden, wenn kein Be-
herrschungsvertrag besteht?

a) Wie viele Konzerne gibt es, die unter das Drittelbeteiligungsgesetz fallen
würden, wenn eine gesetzliche Anpassung des § 2 Absatz 2 DrittelbG an
den § 5 MitbestG erfolgen würde?

b) Wie viele Konzerne gibt es, die unter das Mitbestimmungsgesetz fallen
würden, wenn eine gesetzliche Anpassung des § 2 Absatz 2 DrittelbG an
den § 5 MitbestG erfolgen würde?

c) Plant die Bundesregierung eine solche Anpassung, dem kein sachlicher
Grund als Hindernis zugrunde liegt?

6. In welcher Form hat sich die Bundesregierung im Europäischen Wettbe-
werbsfähigkeitsrat unter schwedischer EU-Ratspräsidentschaft am 3./4. De-
zember 2009 hinsichtlich des Beschlusses über eine Änderung des Vor-
schlags für eine Verordnung des Rates über ein Statut der EPG in der
Fassung vom 10. März 2009 positioniert?

a) Welche Punkte sind in dem Vorschlag zur Verordnung über ein Statut der
EPG innerhalb der Ratsmitglieder umstritten?

b) Wie lassen sich die einzelnen Länder zu den jeweiligen Positionen zuord-
nen?

c) Wie ist die aktuelle Position der Bundesregierung?

d) Wie ist der aktuelle Stand der Beratungen im EU-Rat?

7. Welche Bedenken hat die Bundesregierung zum Vorschlag zur Verordnung
über ein Statut der EPG?

8. Teilt die Bundesregierung die Befürchtung, dass die EPG als Instrument zur
Vermeidung von Mitbestimmung benutzt werden könnte?

9. Welche Position vertritt die Bundesregierung zur Frage der Aufspaltung von
Satzungs- und Verwaltungssitz?

Wurde geprüft, ob eine Aufspaltung von Satzungs- und Verwaltungssitz
weitere Anreize zur Vermeidung von Mitbestimmung setzen könnte?

Gibt es Prognosen über die steuerlichen Auswirkungen einer Sitzaufspal-
tung?

10. Welche Position vertritt die Bundesregierung gegenüber dem Ansatz, dass
für die Mitbestimmung in der EPG zunächst einmal nationales Recht gilt?

11. Vertritt die Bundesregierung die Auffassung die „Mitbestimmungsfrage aus
der Verordnung herauszulösen und eine eigene Richtlinie auf den Weg zu
bringen, wie es bei der Europäischen Aktiengesellschaft und der Europäi-
schen Genossenschaft war“ (Roland Köstler, HBS)?

12. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung des Bundesministeriums für Ar-
beit und Soziales (Ausschussdrucksache 17(11)40) hinsichtlich der Grün-
dung einer EPG, wonach das Ziel der Sicherung der deutschen Mitbestim-
mung in Deutschland wesentlich ist, und wie bewertet die Bundesregierung
vor diesem Hintergrund die Möglichkeit, die in der aktuellen Fassung des

Verordnungsvorschlags über ein Statut der EPG vorgesehen ist, Satzungs-
und Verwaltungssitz im Rahmen der Gründung einer EPG zu trennen?

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13. Wie unterscheidet sich die Position der Bundesregierung von der des Deut-
schen Gewerkschaftsbundes (DGB) und seiner Mitgewerkschaften, wonach
die „Schwellenwerte des Mitbestimmungsgesetzes (MitbestG) auf 1 000 und
die für das Erreichen der Drittelbeteiligung auf 250 Arbeitnehmer/Arbeit-
nehmerinnen gesenkt werden sollen“?

14. Wie steht die Bundesregierung zu der Forderung des DGB nach der „ein ge-
setzlicher Mindestkatalog zustimmungspflichtiger Geschäfte vorgelegt
werden soll, der alle Maßnahmen der strategischen Ausrichtung des Unter-
nehmens, darunter Betriebsschließungen, Standortverlagerungen und Un-
ternehmensverkäufe umfasst“?

15. Ist die Bundesregierung der Ansicht, dass der Vorschlag in dem Sinne geän-
dert werden muss, dass die Belegschaften zu beteiligen sind, und welche
Maßnahmen werden hierfür vor dem Hintergrund, dass in dem Verord-
nungsvorschlag über ein Statut der EPG – im Gegensatz zur SE – keine Re-
gelungen für einen Betriebsrat in der EPG vorgesehen sind, vorgeschlagen?

16. Wie steht die Bundesregierung dazu, dass auch bei der EPG die Möglichkei-
ten für Verhandlungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zur Mit-
bestimmung ähnlich der Richtlinie zur SE geschaffen werden sollen?

17. Wie ist die Haltung der Bundesregierung bezüglich des vorgesehenen Min-
destkapitals der EPG, und wie beurteilt die Bundesregierung den daraus
resultierenden Gläubigerschutz?

18. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass vor der Abstimmung im
Europäischen Rat und der Abstimmung im Europäischen Parlament eine
Vorabbefassung von Bundestag und Bundesrat erforderlich ist?

Wenn ja, will die Bundesregierung das Votum des Deutschen Bundestages
einholen, und mit welchen Mehrheiten müssen Bundestag und Bundesrat
zustimmen?

Berlin, den 16. März 2011

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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