BT-Drucksache 17/4862

Für eine umfassende Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention - Nationaler Aktionsplan als Leitlinie

Vom 23. Februar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4862
17. Wahlperiode 23. 02. 2011

Antrag
der Abgeordneten Maria Michalk, Ingrid Fischbach, Karl Schiewerling, Peter Weiß
(Emmendingen), Peter Altmaier, Paul Lehrieder, Stefan Müller (Erlangen),
Volker Kauder, Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Gabriele Molitor, Heinz Lanfermann, Dr. Heinrich L. Kolb,
Sebastian Blumenthal, Miriam Gruß, Pascal Kober, Johannes Vogel (Lüdenscheid),
Birgit Homburger und der Fraktion der FDP

Für eine umfassende Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention –
Nationaler Aktionsplan als Leitlinie

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Seit dem 26. März 2009 ist die UN-Konvention über die Rechte von Menschen
mit Behinderung (UN-Behindertenrechtskonvention) auch für Deutschland
völkerrechtlich verbindlich. Die Konvention konkretisiert die universellen
Menschenrechte für die speziellen Bedürfnisse und Lebenslagen behinderter
Menschen. Sie steht für einen konsequenten Wechsel vom staatlichen Fürsorge-
prinzip hin zum Recht auf umfassende gesellschaftliche Teilhabe. Die Konven-
tion hat einen Perspektivwechsel eingeleitet, der durch den Begriff „Inklusion“
gekennzeichnet ist. Inklusion bedeutet die umfassende und uneingeschränkte
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben jedes Einzelnen. Politik für Menschen
mit Behinderung ist eine Querschnittsaufgabe.

Dabei schreibt die Behindertenrechtskonvention als erstes Menschenrechtsab-
kommen ausdrücklich die Umsetzung der Menschenrechte nicht nur als innen-
politische, sondern auch als Aufgabe der Außenpolitik und Entwicklungszu-
sammenarbeit fest.

Ganz elementar garantiert Artikel 3 des Grundgesetzes das Benachteiligungs-
verbot. Vieles von dem, was die Konvention beinhaltet, hat Deutschland bereits
durch Einzelgesetze geregelt, wie zum Beispiel durch das Behindertengleich-
stellungsgesetz (BGG), das Neunte Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) oder das
Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Hinzu kommen Regelungen in
Länderzuständigkeit.

In Deutschland leben etwa 8,7 Millionen Menschen, also mehr als 10 Prozent
aller Bürgerinnen und Bürger, mit Behinderung. 4 bis 5 Prozent dieser Men-

schen haben von Geburt an eine Behinderung, die Mehrzahl der Behinderungen
wird erst im Laufe des Lebens erworben. Die Formen von Behinderung sind
vielfältig. Die meisten Schwerbehinderten, etwa 64 Prozent, haben körperliche
Einschränkungen, 5 Prozent sind blind oder sehbehindert, 4 Prozent sind
schwerhörig oder haben Gleichgewichts- oder Sprachstörungen. Zudem leiden
immer mehr Menschen an einer chronisch psychischen Erkrankung. Angesichts

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des demografischen Wandels ist davon auszugehen, dass der Anteil von Bürge-
rinnen und Bürgern mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen steigen wird.

Die Bundesregierung entwickelt aktuell einen nationalen Aktionsplan zur Um-
setzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Der Deutsche Bundestag be-
grüßt, dass Menschen mit Behinderung und ihre Interessenvertreter daran mit-
arbeiten und dass die Bundesländer, Landkreise und Kommunen eingebunden
sind.

Der Aktionsplan ist ein wichtiger Impuls über die Politik hinaus. Inklusion wird
nur dann gelingen, wenn sich alle gesellschaftlichen Gruppen am behinderten-
politischen Dialog beteiligen. Das gilt für die Bereiche Gesundheit, Bildung,
Arbeit, Wohnen, Verkehr, Sport, Kultur und Medien gleichermaßen.

Teilhabeleistungen

Menschen mit Behinderung steht bereits jetzt eine Vielzahl von Teilhabeleis-
tungen zu. Die Inanspruchsnahme gestaltet sich in der Praxis oftmals kompli-
ziert, weil die Hilfen von unterschiedlichen Leistungsträgern gewährt werden.
Das Instrument des Persönlichen Budgets ermöglicht integrierte Hilfe durch
mehrere Leistungsträger. Es wird jedoch zu wenig genutzt. Personenzentrierte
Leistungen stellen sicher, dass die Hilfe dort ankommt, wo sie gebraucht wird.
Die Schnittstellen zwischen Eingliederungshilfe und Jugendhilfe sind besser
aufeinander abzustimmen, um Kindern und Jugendlichen die Hilfe zukommen
zu lassen, die sie brauchen. Auch bei der Abgrenzung von Eingliederungshilfe
und Pflege besteht noch Klärungsbedarf. Weiter ist zu prüfen, wie die gesamte
Schnittstellenproblematik verschiedener Leistungssysteme besser gelöst wer-
den kann.

Gesundheit

Die Gesundheitsversorgung in Deutschland ist weltweit beispielhaft. Dennoch
sind Anpassungen an die spezifischen Bedürfnisse von Menschen mit Behinde-
rung, insbesondere von Frauen mit Behinderung, notwendig. Es gilt, den bar-
rierefreien Zugang zu Praxen oder Kliniken zu verbessern. Weiterhin ist wich-
tig, in der medizinischen Aus- und Fortbildung das Thema Behinderung stärker
zu berücksichtigen.

Das frühzeitige Erkennen einer Entwicklungsauffälligkeit bei Kindern ermög-
licht es, auch durch den ständigen medizinischen Fortschritt einer Behinderung
rechtzeitig zu begegnen oder sie gar zu verhindern. Die wichtige Arbeit der so-
zialpädiatrischen Zentren im Rahmen der Frühförderung, in denen Diagnose
und Therapie aus einer Hand erfolgen, muss bundesweit ausgebaut werden.
Ganzheitliche, familienbasierte Hilfekonzepte unterstützen darüber hinaus
Eltern und Familien.

Um einen höchstmöglichen Grad an Selbstständigkeit zu erzielen oder zu erhal-
ten, sind in allen Lebensphasen Präventionsangebote notwendig. Diesem Ziel
dienen ebenso umfassende Rehabilitationsmaßnahmen. Grundsätzlich gilt, dass
medizinische und berufliche Rehabilitation so früh wie möglich einsetzen.

Eine besondere Bedeutung kommt den Angeboten des Behindertensports zu.

Bildung

Ein inklusives Bildungssystem ist eine wesentliche Voraussetzung, um eine in-
klusive Gesellschaft zu realisieren, in der Menschen mit und ohne Behinderung
gemeinsam lernen und arbeiten. Obwohl die schulische Bildung in der Kompe-
tenz der Länder liegt, ist es von bundespolitischer Bedeutung, dass möglichst

alle Kinder mit Behinderung gemeinsam mit Kindern ohne Behinderung die

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Regelschule besuchen. Das gemeinsame Lernen von Schülerinnen und
Schülern mit und ohne Behinderung fördert gegenseitiges Verständnis.

Jedoch darf dabei nicht das Kindeswohl aus den Augen geraten. Förderschulen
als Kompetenzzentren werden auch zukünftig gebraucht, wenn es die indivi-
duellen Bedürfnisse des Kindes erfordern. Schließlich stellt auch die UN-Be-
hindertenrechtskonvention in Artikel 7 Absatz 2 das Wohl des Kindes an erster
Stelle. Um dem Anspruch an eine inklusive Bildung zu genügen, brauchen die
Schulen die Möglichkeit, ihre Arbeit und Angebote auf den Bedarf jedes ein-
zelnen Kindes und Jugendlichen anpassen zu können.

Im Jahr 2006 besuchten rund 76 Prozent der Kinder mit Förderbedarf gemein-
sam mit anderen Kindern eine Kindertagesstätte. Diese positive Entwicklung
ist zu verstärken.

Auch für Hochschulen und die Weiterbildung ist das Ziel der Barrierefreiheit in
allen Bereichen zu verwirklichen. Dazu gehören nicht nur die Gestaltung von
Räumlichkeiten, sondern auch die barrierefreie Lehre und Didaktik, der Zu-
gang zu Serviceleistungen sowie die Internetpräsenzen.

Arbeit

Eine Kernforderung der UN-Behindertenrechtskonvention ist es, Menschen mit
Behinderung den Zugang zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Derzeit sind sie
immer noch überproportional stark von Arbeitslosigkeit betroffen. Insbeson-
dere Jugendliche mit Behinderung haben es schwer, einen Ausbildungsplatz zu
finden. Der Berufsbildungsbericht zeigt, dass nur 5 Prozent der Jugendlichen
mit Behinderung in Betrieben ausgebildet werden, 95 Prozent hingegen in
außerbetrieblichen Einrichtungen.

Für Jugendliche mit Behinderung führt der Weg zu oft von der Förderschule
direkt in eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung oder in ein Berufsbil-
dungswerk. Deshalb ist die berufliche Orientierung von großer Bedeutung.

Der sich schon jetzt abzeichnende Fachkräftemangel wird die Gesellschaft vor
neue Herausforderungen stellen. Hier bieten sich insbesondere für Menschen
mit Behinderung neue Chancen.

Um das Potenzial von Menschen mit Behinderung für den Arbeitsmarkt zu stei-
gern, sind neben einer kontinuierlichen Betreuung bei den Übergängen in Aus-
bildung und Beruf eine gezielte Vermittlung und Qualifizierung durch die Bun-
desagentur für Arbeit nötig. Als Alternative zu Werkstattplätzen ist das Ange-
bot an inklusiven Arbeitsplätzen noch nicht ausreichend.

Zudem fehlen bisher für Menschen mit Behinderung, die eine Existenzgrün-
dung anstreben, flächendeckende Beratungsangebote und Anlaufstellen.

Nachteilsausgleiche, die dazu dienen, gleiche Chancen zu bieten, sollten grund-
sätzlich personenzentriert und nicht institutionsgebunden organisiert werden.

Für Menschen mit Behinderung ist eine individuelle Begleitung bei den Über-
gängen im Lebenslauf wichtig. Dies gilt nicht nur für den Weg ins Berufsleben,
sondern auch für den Weg in den Ruhestand. Menschen mit Behinderung haben
auch im Alter das Bedürfnis nach einer geregelten Tagesstruktur. Diesem soll
im Rahmen der Förder- und Unterstützungsangebote sowie in der pflegerischen
Versorgung Rechnung getragen werden.

Barrierefreiheit

Grundvoraussetzung für die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Be-
hinderung am gesellschaftlichen Leben ist eine umfassende Barrierefreiheit.

Diese erstreckt sich neben der Zugänglichkeit von Gebäuden oder öffentlichen

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Bereichen, auf den individuellen Wohnbereich, auf das Verkehrswesen, auf
Kommunikations- und Informationssysteme, Produkte des täglichen Gebrauchs
sowie sämtliche Angebote und Dienstleistungen im Bereich Sport, Kultur, Frei-
zeit und Tourismus im Sinne eines „Designs für Alle“.

Es gibt bereits Forschungsprojekte zu intelligenten Assistenzsystemen und
- diensten („ambient assisted living“), die den auf Unterstützung angewiesenen
Personen ein weitgehend unabhängiges und eigenverantwortliches Leben im
gewohnten Umfeld ermöglichen können. Es wird in Zukunft unterschiedliche
technische Helfer geben, die etwa einen Teil der täglichen Hausarbeit über-
nehmen oder durch modernste Kommunikationstechnik den Kontakt mit dem
sozialen Umfeld erleichtern. Diese Entwicklung bietet nicht nur Menschen mit
Behinderung neue Chancen, sondern auch der Sozialwirtschaft insgesamt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bunderegierung auf, im Rahmen der
zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel

– den mit der Erarbeitung des Aktionsplans intensivierten gesellschaftlichen
und politischen Austausch gemeinsam mit Menschen mit Behinderung und
ihren Verbänden fortzuführen,

– sich dafür einzusetzen, Gesundheitseinrichtungen stärker auf die Bedürf-
nisse von Menschen mit Behinderung auszurichten, und darauf hinzuwirken,
dass in der medizinischen Aus- und Fortbildung das Thema Behinderung
stärker berücksichtigt wird,

– sich dafür einzusetzen, den Bekanntheitsgrad von Rehabilitationsmöglich-
keiten und Diagnoseverfahren bundesweit zu stärken,

– auf die individuelle Situation abgestimmte medizinische und berufliche Re-
habilitation besser ineinandergreifen zu lassen, um die Wiedereingliederung
zu fördern,

– Abgrenzungsprobleme zwischen den Reha-Trägern zu beseitigen, damit
Kinder mit Behinderung ihre Ansprüche auf Frühförderung nach dem
SGB IX zügig und unkompliziert in Anspruch nehmen können,

– die Bedeutung des Behindertensports zu stärken,

– das Älterwerden von Menschen mit Behinderung mit geeigneten Maßnah-
men zu begleiten,

– gemeinsam mit Ländern und Kommunen die inklusive Kinderbetreuung
Schritt für Schritt auszubauen,

– sich gegenüber den Ländern für ein Höchstmaß an schulischer Eigenständig-
keit einzusetzen, damit vor Ort eine flexible Anpassung der Fördermaßnah-
men auf der Grundlage der individuellen Bedürfnisse der Schüler erfolgen
kann,

– sich dafür einzusetzen, inklusives und barrierefreies Lernen auf allen Bil-
dungsebenen entsprechend der föderalen Zuständigkeit zu ermöglichen,

– mehr Informationskampagnen und Modellprojekte zur Verbreitung des In-
klusionsgedankens an den Hochschulen zu unterstützen,

– die Weiterbildung stärker in den Fokus der Debatte um inklusive Bildung zu
nehmen,

– dafür zu sorgen, dass an den Schulen eine barrierefreie Berufsberatung
durch die Bundesagentur für Arbeit erfolgt und weiterentwickelt sowie
berufliche Orientierung umgesetzt werden,
– die arbeitsmarktpolitischen Instrumente für Menschen mit Behinderung wei-
terzuentwickeln und passgenauer zu machen,

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– die Betriebe bei der Gestaltung des betrieblichen Eingliederungsmanage-
ments stärker und flächendeckend zu unterstützen,

– das Instrument des Persönlichen Budgets bekannter und anwendbarer zu
machen sowie flächendeckend einzusetzen,

– sich dafür einzusetzen, dass Nachteilsausgleiche individuell an die leistungs-
geminderte Person gebunden werden können, um die Eingliederung in den
ersten Arbeitsmarkt zu erleichtern,

– sich im Bereich ihrer Zuständigkeit auch gegenüber den Ländern dafür ein-
zusetzen, den gesamten öffentlichen Personen-, Nah- und Fernverkehr
Schritt für Schritt und möglichst weitreichend barrierefrei zu gestalten,

– bei den Bundesländern dafür zu werben, dass die Zielsetzung Barrierearmut
bei Bestandsbauten und Barrierefreiheit bei Neubauten verwirklicht wird,

– das Programm der KfW Bankengruppe „Altersgerecht Umbauen“ über das
Jahr 2011 hinaus zu verstetigen,

– Barrierefreiheit bzw. ein „Design für Alle“ sichtbar verbindlich für die Leis-
tungsbeschreibungen von Ausschreibungen und Konzessionsvorgaben sowie
bei Bauvorhaben des Bundes aufzunehmen und die Bundesländer anzuregen,
ebenso zu verfahren,

– die Forschung und Entwicklung von Assistenzformen für ältere und behin-
derte Menschen weiter zu fördern sowie einen Dialog zum Einsatz von intel-
ligenten Assistenzsystemen und -diensten bei Menschen mit Behinderung
gemeinsam mit allen Beteiligten der Sozialwirtschaft sowie Vertretern der
Wirtschaft und Wissenschaft einzuleiten,

– die umfangreichen Rehabilitations- und Teilhabeleistungen in Deutschland
zielgenauer auf Menschen mit Behinderung auszurichten nach dem Grund-
satz „Hilfen aus einer Hand“,

– in ihrer Entwicklungszusammenarbeit und humanitären Hilfe alle relevanten
Vorhaben für Menschen mit Behinderung inklusiv zu gestalten und sich
auch weiterhin in der internationalen Zusammenarbeit, einschließlich der
Ebene der Europäischen Union sowie multilateraler Organisationen, für die
Einbeziehung von Menschen mit Behinderung zu engagieren.

Berlin, den 23. Februar 2011

Volker Kauder, Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) und Fraktion
Birgit Homburger und Fraktion

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