BT-Drucksache 17/4847

Ausschreibungspflicht für Leistungen der Integrationsfachdienste stoppen - Sicherstellung von Qualität, Transparenz und Effizienz

Vom 22. Februar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4847
17. Wahlperiode 22. 02. 2011

Antrag
der Abgeordneten Silvia Schmidt (Eisleben), Anette Kramme, Petra Ernstberger,
Elke Ferner, Iris Gleicke, Gabriele Hiller-Ohm, Josip Juratovic, Angelika
Krüger-Leißner, Ute Kumpf, Gabriele Lösekrug-Möller, Katja Mast, Thomas
Oppermann, Marlene Rupprecht (Tuchenbach), Anton Schaaf, Ottmar Schreiner,
Dr. Frank-Walter Steinmeier und der Fraktion der SPD

Ausschreibungspflicht für Leistungen der Integrationsfachdienste stoppen –
Sicherstellung von Qualität, Transparenz und Effizienz

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die Integrationsfachdienste sind für die Förderung der Teilhabe am Arbeits-
leben schwerbehinderter Menschen unverzichtbarer Bestandteil der Struktur
und des Teilhabegedankens des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX).
Mit ihnen hat der Gesetzgeber eine Dienstleistungsstruktur geschaffen, die
unter Beteiligung von Betroffenen besonders intensive und kompetente Hilfe-
stellungen für schwerbehinderte Menschen erbringen und ebenso kompe-
tente Ansprechpartner für Arbeitgeber sind.

Nach dem Bericht der Bundesregierung über die Lage von Menschen mit
Behinderung für die 16. Legislaturperiode unterstützten die Integrations-
fachdienste im Jahr 2007 rund 89 800 (2005: 77 600) besonders betroffene
schwerbehinderte Menschen. Bei 30 400 (2005: 26 500) schwerbehinderten
Menschen genügte eine qualifizierte Beratung beziehungsweise eine kurz-
zeitige Intervention. Bei knapp 59 400 (2005: 51 000) Personen – zwei Drit-
tel der Klienten – war hingegen eine umfangreichere und auch längerfristige
Begleitung erforderlich, um ein bestehendes Arbeitsverhältnis zu stabilisie-
ren oder in ein neues zu vermitteln. Im Jahr 2007 haben die Integrations-
fachdienste 6 635 schwerbehinderte Menschen in Arbeit vermittelt, 1 600
mehr als im Jahr 2005. Auch im Bereich der Sicherung von Arbeitsplätzen
konnte das Arbeitsergebnis im Jahr 2007 verbessert werden. So wurden
11 749 Fälle abgeschlossen, wobei wie schon in den Vorjahren in über zwei
Drittel der Fälle das Arbeitsverhältnis erhalten blieb. Die Integrationsfach-
dienste leisten somit seit Jahren kontinuierlich hervorragende Arbeit in einer
verlässlichen bundeseinheitlichen Struktur.

2. Die Aufträge für Vermittlungsleistungen der Integrationsfachdienste konn-

ten bisher im Wege der freihändigen Vergabe vorrangig durch die Bundes-
agentur für Arbeit an die Integrationsfachdienste ausgereicht werden. So
konnte eine qualitativ hochwertige Struktur entstehen, die mit der Einfüh-
rung der zwingenden Ausschreibung nun in Gefahr gerät. Die Anwendung
der Ausschreibung für die Vergabe von IFD-Leistungen wird vom zustän-
digen Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) fälschlicher-
weise für verbindlich und alternativlos gehalten (vgl. das Gutachten „Die

Drucksache 17/4847 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Anwendung des Vergaberechts nach § 46 SGB III“ des Wissenschaftlichen
Dienstes des Deutschen Bundestages vom 3. Dezember 2010). Dies gilt be-
sonders für Aufträge der Bundesagentur für Arbeit.

Die Problematik wird zusätzlich dadurch verschärft, dass die Bundesagentur
für Arbeit in 2010 mit der Umsetzung des neu eingeführten Instruments der
Maßnahmen der Aktivierung und beruflichen Eingliederung nach § 46
SGB II ihr Konzept für Vermittlungsdienstleistungen generell und somit auch
für schwerbehinderte Menschen umstellt, da der bisherige § 37 SGB III (reine
Vermittlungsaufträge) entfallen ist. Künftig werden Vermittlungsmaßnahmen
ausgeschrieben, die neben dem Vermittlungsauftrag zum Beispiel auch die
Feststellung, Verringerung und Beseitigung von Vermittlungshemmnissen
als Inhalt der Maßnahmen haben werden.

Die Ausschreibung von Leistungen ist in dem Bereich der individuellen
Dienstleistungen für schwerbehinderte Menschen nicht geeignet, erfolgreich
die Vermittlung und Begleitung am Arbeitsmarkt zu organisieren. Häufige
Trägerwechsel, die den Vermittlungserfolg durch Übergangszeiten und neu
zu knüpfende Kontakte zu Unternehmen und Verwaltung behindern, sind für
eine Integration von Menschen mit Behinderungen auf dem allgemeinen
Arbeitsmarkt nicht zielführend. Erforderlich ist vielmehr eine Betreuungs-
kontinuität – beginnend von der ersten Kontaktaufnahme über die Vermitt-
lung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt bis hin zu Begleitenden Hilfen.

Die Einführung der Ausschreibungspflicht gefährdet daher das grund-
legende Ziel der Beauftragung von Integrationsfachdiensten: die Vermitt-
lung von schwer behinderten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auf
den allgemeinen Arbeitsmarkt. Weiterhin sind die transparente und einheitli-
che Qualitätskontrolle und die bewährte schnittstellenübergreifende Zusam-
menarbeit mit den Rehabilitationsträgern gefährdet.

3. Das zuständige Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat bei der Ein-
führung der Ausschreibungspflicht, obwohl es sich um eine wesentliche
Strukturentscheidung handelt, weder die fachlich zuständigen Integrations-
ämter, die Bundesagentur für Arbeit als Auftraggeber noch den Deutschen
Bundestag als Gesetzgeber rechtzeitig informiert. Die erstmalige Informa-
tion an den Ausschuss des Deutschen Bundestages erfolgte erst am 16. März
2010, als die Änderung der Vergabeordnung bereits rechtskräftig im Bun-
desanzeiger veröffentlicht wurde. Die Änderung der VOL/A war aber be-
reits am 20. November 2009 mit Beteiligung des BMAS und anderer Minis-
terien verabschiedet worden. Weder im Bericht der Bundesregierung zur
Lage der Menschen mit Behinderung noch auf anderem Wege hat das zu-
ständige Bundesministerium auf diese Entwicklung hingewiesen. Dieses
Verhalten ist für den Deutschen Bundestag inakzeptabel, hebelt es doch die
besondere Verantwortung und Kompetenz einer gesetzlich verankerten
Struktur auf dem Verordnungswege aus.

4. Das Vergaberecht lässt unter Beachtung des EU-Rechts grundsätzlich die
Möglichkeit der freihändigen Vergabe zu. Insbesondere für den sozialen Be-
reich ist es dringend geboten, von dieser Befugnis der Mitgliedstaaten der
EU Gebrauch zu machen und begründete Ausnahmeregelungen im Vergabe-
recht beizubehalten. In diesem Zusammenhang wird auf die Entschließung
des Europäischen Parlaments vom 19. Februar 2009 zur Sozialwirtschaft
(Bundesratsdrucksache 250/09) hingewiesen. Darin stellt das Europäische
Parlament fest, „dass für sozialwirtschaftliche Unternehmen die Wettbe-
werbsvorschriften nicht in der gleichen Weise angewandt werden sollten wie
für andere Unternehmen und dass sie einen sicheren Rechtsrahmen benöti-
gen, der auf der Anerkennung ihrer besonderen Werte basiert.“ Dieser An-

sicht schließt sich der Deutsche Bundestag an.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/4847

5. Dieser Einschätzung des Sachverhalts folgen auch die Bundesländer. So hat
die 87. Arbeits- und Sozialministerkonferenz am 24./25. November 2010 den
einstimmigen Beschluss „Keine Ausschreibung für Leistungen der Integra-
tionsfachdienste“ verabschiedet. Darin wird die Bundesregierung aufgefor-
dert, durch entsprechende Rechtsänderungen dafür Sorge zu tragen, dass die
Bundesagentur für Arbeit künftig wieder Aufträge zur Vermittlung schwer-
behinderter Menschen an Integrationsfachdienste freihändig vergeben kann.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. auf die Ausschreibungspflicht für Leistungen der Integrationsfachdienste
Vermittlung und Begleitende Hilfen generell zu verzichten;

2. den generellen Ausschluss von Ausschreibungen im sozialen Bereich vorzu-
sehen, wenn eine Ausschreibung der Leistungen angesichts der Besonder-
heit des Einzelfalles fachlich nicht vertretbar ist;

3. die im 7. Kapitel des SGB IX verankerte gemeinsame Verantwortung von
Integrationsämtern und anderen Auftraggebern für Integrationsfachdienste,
vor allem die Bundesagentur für Arbeit, bleibt bestehen, um eine einheit-
liche und regional vernetzte Struktur zur Vermittlung und Begleitung von
schwerbehinderten Menschen im Arbeitsleben gewährleisten zu können;

4. hierzu eine entsprechende Klarstellung durch Verordnung oder Rundschrei-
ben vorzunehmen;

5. einen regelmäßigen Bericht über die Praxis der Vergabe im sozial- und
arbeitsmarktpolitischen Bereich, auch im europäischen Vergleich, an den
Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages zu übermit-
teln;

6. im Übrigen der Aufforderung der 87. Arbeits- und Sozialministerkonferenz
nachzukommen.

Berlin, den 22. Februar 2011

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.