BT-Drucksache 17/4731

Türkische Hisbollah in Deutschland

Vom 9. Februar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4731
17. Wahlperiode 09. 02. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Christine Buchholz, Andrej Hunko, Petra Pau
und der Fraktion DIE LINKE.

Türkische Hisbollah in Deutschland

Anfang Januar 2010 wurden in der Türkei rund 20 zum Teil führende Mitglieder
der sunnitischen Organisation Hisbollah (TH – auch: Türkische Hizbullah, tür-
kische Hizballah/Hizbollah/Hizb Allah oder kurdische Hisbollah) aus der Haft
entlassen. Die Freigekommenen waren 1999 wegen Mordes an 188 Menschen,
darunter dem Abgeordneten der prokurdischen DEP-Partei, Mehmet Sincar, und
der Schriftstellerin Konca Kuris, zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt worden.
Da sich ihr Revisionsverfahren vor dem Obersten Gerichtshof der Türkei länger
als zehn Jahre hinzog, musste sie aus der Untersuchungshaft entlassen werden.
Knapp zwei Wochen später bestätigte der Oberste Gerichtshof die lebensläng-
lichen Haftstrafen. Zu diesem Zeitpunkt waren mehrere der freigelassenen
TH- Führer unter Missachtung ihrer polizeilichen Meldeauflagen untergetaucht.
Sowohl der kemalistische Oppositionsführer Kemal Kiliçdarog˘lu auch die pro-
kurdische Partei für Frieden und Demokratie BDP warfen der AKP-Regierung
eine Kooperation mit der illegalen TH vor.

Die TH, die nichts mit der gleichnamigen schiitischen Partei im Libanon zu tun
hat, war in den 1990er-Jahren für hunderte oder sogar tausende Morde vor allem
an kurdischen Zivilistinnen und Zivilisten, Politikerinnen und Politikern, Jour-
nalistinnen und Journalisten, Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten und
Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern verantwortlich. „Viele Anhänger der
Hizbollah rekrutierten sich indessen aus islamistischen kurdischen Kreisen, die
mit der Unterstützung der Sicherheitsorgane den ,linken‘ kurdischen Separatis-
mus bekämpfen sollten“, benennt der ehemalige Leiter des Deutschen Orientins-
tituts, Udo Steinbach, die staatliche Unterstützung der TH-Todesschwadronen
(www.bpb.de/publikationen/H9TKZG,1,0,Islam_in_der_T%FCrkei.html).

Die TH soll Kontakte zum „Verband der islamischen Vereine und Gemeinden“
(ICCB) des 2004 in die Türkei abgeschobenen Metin Kaplan in Köln gehabt
haben, der als Unterorganisation des 2001 vom Bundesministerium des Innern
verbotenen Kalifatsstaats gilt (www.bmi.gv.at/cms/BMI_Verfassungsschutz/
Verfassungsschutzbericht_2005.pdf).

Als die TH durch die Entführung und Erpressung von Geschäftsleuten zuneh-
mend unkontrollierbar wurde, leiteten türkische Sicherheitskräfte eine landes-

weite Verfolgung der nun offiziell als terroristisch eingestuften Organisation ein.
Ihr Führer Hüseyin Velioglu wurde bei einem Feuergefecht mit der Polizei im
Jahr 2000 getötet, andere Führungsmitglieder und 900 mutmaßliche Mitglieder
verhaftet und in Massenprozessen zu Haftstrafen verurteilt. Im Zusammenhang
mit der damaligen Zerschlagung der Organisation wurden mehrere Massengrä-
ber mit Opfern der TH entdeckt. Eine Anzahl von TH-Mitgliedern floh vor der
drohenden Verhaftung nach Deutschland und beantragte politisches Asyl. Nach-

Drucksache 17/4731 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

dem viele einfache Mitglieder der TH in der Türkei durch Reuegesetze frei-
kamen, entstanden in den letzten Jahren in den kurdischen Landesteilen zahl-
reiche, der Hisbollah nahestehende legale Hilfsvereine und Koranschulen, die
z. B. in Diyarbakir bis zu 80 000 Anhängerinnen und Anhänger auf die Straße
bringen können. „Heute hat sich die Hisbollah sowohl militärisch als auch poli-
tisch neu organisiert; die Führung sitzt vermutlich in Deutschland und entzieht
sich so dem Zugriff der türkischen Behörden“, warnte US-Sicherheitsexperte
Gareth Jenkins bereits im April 2008 vor einem Wiederaufleben der Hisbollah
als „bei Weitem größte Untergrundorganisation der Türkei“ (www.welt.de/
welt_print/article1890684/Hisbollah_ist_die_groesste_Untergrundorganisation_
in_der_Tuerkei.html). Seit ihrer Zerschlagung habe sich die TH „seither vorwie-
gend von Deutschland aus neu konstituiert“, heißt es in der Tageszeitung „DIE
WELT“ vom 22. Januar 2010 (www.welt.de/politik/deutschland/article5946900/
Tuerkei-nimmt-160-terrorverdaechtige-Islamisten-fest.html).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die türkische Hisbollah?

a) Inwieweit trifft es nach Kenntnis der Bundesregierung zu, dass die TH in
den 90er-Jahren Unterstützung von Seiten des türkischen Staats erfahren
hat?

b) Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung, ob bei einer möglichen
Unterstützung durch den türkischen Staat auch Waffen aus deutscher Pro-
duktion oder Lieferung in die Hände der TH gelangten?

c) Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über Kontakte zwischen
der TH und der ICCB bzw. dem Kalifatsstaat in Deutschland?

d) Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über einen Wiederaufbau
der TH nach ihrer Zerschlagung in den Jahren 1999/2000?

e) Über welchen Einfluss und welche Stärke verfügt die TH heute nach Ein-
schätzung der Bundesregierung in der Türkei?

f) Welche legalen Vereine und Institutionen in der Türkei gehören nach
Erkenntnissen der Bundesregierung zur TH?

g) Inwieweit sieht die Bundesregierung in den Aktivitäten der TH heute eine
Gefahr für den Bestand und das friedliche Zusammenleben der Menschen
in der Türkei?

h) Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über eine von Oppositions-
parteien im türkischen Parlament behauptete Kooperation der AKP-
Regierung mit der illegalen TH und ihr nahestehenden Vereinigungen?

2. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über Mitglieder und Aktivi-
täten der TH in der Bundesrepublik Deutschland?

a) Wie viele Mitglieder, Unterstützerinnen und Unterstützer haben nach
Kenntnis der Bundesregierung politisches Asyl in der Bundesrepublik
Deutschland beantragt, und wie viele haben politisches Asyl erhalten?

b) Wie viele Mitglieder und Unterstützer der TH halten sich nach Erkennt-
nissen der Bundesregierung zurzeit im Bundesgebiet auf?

c) Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über ein Engagement von
Mitgliedern der TH in Ausländerbeiräten, kommunalen Vertretungen,
Moscheevereinen oder sonstigen politischen oder religiösen Gremien
innerhalb der Bundesrepublik Deutschland?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/4731

d) Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über Kontakte von TH-Mit-
gliedern zur Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs oder anderen islami-
schen Verbänden in der Bundesrepublik Deutschland, und welcher Art sind
diese Kontakte?

e) Inwieweit existieren innerhalb der Bundesrepublik Deutschland Vereine,
Institutionen oder sonstige Organisationsstrukturen der TH?

f) Inwieweit ist die TH innerhalb der letzten zehn Jahre in der Bundes-
republik Deutschland durch Publikationen oder sonstige Propaganda in
Erscheinung getreten?

g) Inwieweit sind die TH oder ihr nahestehende Vereinigungen innerhalb der
letzten zehn Jahre in der Bundesrepublik Deutschland durch Spenden-
sammlungen in Erscheinung getreten?

h) Welche sonstigen verfassungsschutzrelevanten Aktivitäten sind nach
Kenntnis der Bundesregierung innerhalb der letzten zehn Jahre von
Anhängern der TH in der Bundesrepublik Deutschland ausgegangen?

i) Wurden in den letzten zehn Jahren Mitglieder oder Unterstützerinnen und
Unterstützer der TH aus Deutschland abgeschoben, oder wurden andere
aufenthaltsrechtliche Maßnahmen gegen diese eingeleitet, und wenn ja,
wie viele, und mit welcher Begründung?

j) Wurden in den letzten zehn Jahren aufenthaltsbeendende Maßnahmen
gegen Mitglieder oder Unterstützerinnen und Unterstützer der TH in
Deutschland eingeleitet, und wenn ja, wie viele, und mit welcher Begrün-
dung?

3. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über eine in der Zeitung „DIE
WELT“ behauptete Neukonstituierung der TH von Deutschland aus?

4. Trifft nach Erkenntnissen der Bundesregierung die Vermutung des US-
Sicherheitsexperten Gareth Jenkins zu, dass sich die Führung der TH in
Deutschland befindet?

a) Wenn ja, wer sind diese Führungsmitglieder, wo halten sie sich auf, und
über welchen Aufenthaltsstatus verfügen sie?

b) Wenn ja, inwieweit hält die Bundesregierung strafrechtliche oder aufent-
haltsbeendende Maßnahmen gegen diesen Personenkreis für gerecht-
fertigt?

5. Hat die Bundesregierung Kenntnis über internationale Haftbefehle der türki-
schen Justiz gegen Mitglieder der TH?

a) Wenn ja, wie viele, und welche der Gesuchten halten sich nach Kenntnis
der Bundesregierung im Bundesgebiet auf?

b) In wie vielen Fällen wurden seit 1999 von der türkischen Justiz gesuchte
mutmaßliche Mitglieder der TH aus der Bundesrepublik Deutschland an
die Türkei ausgeliefert?

c) In wie vielen und welchen Fällen wurden seit 1999 Auslieferungsersuchen
der türkischen Justiz von mutmaßlichen Mitgliedern der TH aus Deutsch-
land durch deutsche Gerichte verweigert, und mit welcher Begründung?

6. Beurteilt die Bundesregierung die TH als „terroristische Vereinigung im
Ausland“ nach Paragraph 129b des Strafgesetzbuchs, und wenn ja, inwieweit
gab es bereits diesbezügliche Ermittlungsverfahren, und mit welchem Ergeb-
nis?

Drucksache 17/4731 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
7. Inwieweit droht Mitgliedern der TH nach Erkenntnissen der Bundesregie-
rung in der Türkei eine Verfolgung?

a) Inwieweit droht TH-Mitgliedern im Falle einer Abschiebung aus Deutsch-
land nach Einschätzung der Bundesregierung strafrechtliche oder politi-
sche Verfolgung in der Türkei?

b) Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über Folter oder Misshand-
lungen mutmaßlicher TH-Mitglieder durch türkische Strafverfolgungsbe-
hörden?

Berlin, den 9. Februar 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.