BT-Drucksache 17/4727

Kurdenspezifische Migrationspolitik

Vom 9. Februar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4727
17. Wahlperiode 09. 02. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Christine Buchholz, Inge Höger
und der Fraktion DIE LINKE.

Kurdenspezifische Migrationspolitik

Während seiner Türkeireise im September 2010 erklärte der Bundesminister des
Innern, Dr. Thomas de Maizière, laut der Tageszeitung „HÜRRIYET“ vom
22. September 2010, es „halten sich bis zu 800 000 Kurden in der Bundesrepu-
blik Deutschland auf“ (www.hurriyet.de/haberler/gundem/689905/thomas-de-
maiziere-burasi-vataniniz/de%20maiziere).

Laut Schätzungen aus dem Jahr 1999 lebten damals ungefähr 600 000 Kurdin-
nen und Kurden in der Bundesrepublik Deutschland. Diese Angabe basiert größ-
tenteils auf Statistiken, die die Arbeitsmigration als Ausgangslage heranzieht,
jedoch ohne die Zahl der Flüchtlinge zu berücksichtigen – (NAVEND – Zentrum
für Kurdische Studien e. V.: Rechtliche Situation und Integrationsperspektiven
von kurdischen Migrantinnen und Migranten. Ein Handbuch, NAVEND Schrif-
tenreihe, Bd. 9, Bonn 2002, S. 17 f).

Bei der Betrachtung des belastbaren Zahlenmaterials des Statistischen Bundes-
amtes ergibt sich für das Jahr 2009 folgendes Bild: In Anbetracht der Tatsache,
dass allein die Gesamtzahl der aus der Türkei stammenden und in der Bundes-
republik Deutschland lebenden Migrantinnen und Migranten auf 2,5 Millionen
beziffert wird, lässt die Angabe von Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière
von 800 000 Kurdinnen und Kurden den Schluss zu, dass diese Bevölkerungs-
gruppe annähernd 30 Prozent der Immigranten aus der Türkei bilden – (Statis-
tisches Bundesamt „Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Mig-
rationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2009 –, Fachserie 1 Reihe 2.2,
Wiesbaden 2010, S. 60).

Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Migrationsumstände und -bedingungen
der Kurden ist nach Auffassung der Fragestellenden unzureichend, so dass ge-
eignetes Studienmaterial zur Entwicklung von Förder- und Integrationskonzep-
ten fehlt. Damit ergibt sich eine Bandbreite an Forschungsdesiderata.

In der Abschlussresolution einer gemeinsam von Flüchtlingsräten, kurdischen
Vereinen, Menschenrechtsorganisationen und der Rosa-Luxemburg-Stiftung am
9. September 2009 im Berliner Abgeordnetenhaus durchgeführten Konferenz
„Kurden in Deutschland“ wird beklagt, dass Kurdinnen und Kurden bis heute

nicht als eigenständige Migrantengruppe anerkannt werden. Stattdessen werden
sie in der Regel aufgrund ihrer Herkunftsstaaten als türkische, iranische, irakische
oder syrische Staatsangehörige gezählt oder aber als deutsche Staatsangehörige.
„Dadurch werden ihnen fundamentale Rechte wie muttersprachlicher Unter-
richt, Beratung und Betreuung in der eigenen Sprache, Teilhabe an spezifischen
Integrationsmaßnahmen u. v. a. m. verwehrt. Es ist nun an der Zeit, dass diese
Bevölkerungsgruppe anerkannt wird, um sie in der öffentlichen Unterstützung

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und Förderung der sozio-kulturellen Anliegen den anderen MigrantInnengrup-
pen gleichzustellen.“

Fernerhin wurde beklagt, dass aufgrund des seit 1993 bestehenden Betätigungs-
verbots der Arbeiterpartei Kurdistans PKK „kurdische MigrantInnen und insbe-
sondere ihre Selbstorganisationen kriminalisiert, stigmatisiert und als Folge des-
sen, doppelter Ausgrenzung ausgesetzt werden.“

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Worauf stützt sich im Einzelnen die oben aufgeführte Angabe des Bundes-
ministers des Innern, Dr. Thomas de Maizière, von 800 000 in der Bundes-
republik Deutschland lebenden Kurdinnen und Kurden?

a) Worauf basierten diese statistischen Angaben, und inwiefern wurde zwi-
schen den Herkunftsstaaten Türkei, Irak, Iran, Syrien differenziert?

b) Nach welchen Kriterien wird die Anzahl der in der Bundesrepublik
Deutschland lebenden Kurdinnen und Kurden bestimmt?

c) Wie viele kurdischstämmige Bürgerinnen und Bürger mit deutscher
Staatsangehörigkeit gibt es nach Schätzung der Bundesregierung?

2. Welche Anstrengungen unternimmt die Bundesregierung, um die statistische
Fassbarkeit als Grundlage einer angemessenen Integrationspolitik für die in
Deutschland lebenden Kurdinnen und Kurden zu erleichtern?

a) Inwieweit sind Befragungen über Forschungsinstitutionen oder zivilpoli-
tische Organisationen wie der Flüchtlingshilfe oder der Migrantenver-
bände durchgeführt worden bzw. in Planung?

b) Wurden Studien zur Analyse der spezifischen Lebensbedingungen und in-
tegrationspolitischen Bedürfnisse dieser Bevölkerungsgruppe in Auftrag
gegeben, oder gibt es solche Vorhaben?

Wenn ja, welche thematischen Schwerpunkte stehen im Vordergrund, und
welche Einrichtungen wurden oder werden beauftragt?

Wenn nein, inwiefern kann die Bundesregierung ohne eine solche Analyse
von einer umfassenden und differenzierten Integrationspolitik ausgehen?

3. Welche konkreten Maßnahmen zur Integration von Kurdinnen und Kurden
und zur Einbindung ihrer Selbstorganisationen hat die Bundesregierung bis-
lang ergriffen, oder gedenkt sie in Zukunft umzusetzen?

a) Welche kurdischen Einzelpersonen und Organisationen wurden bisher zu
einem Dialog auf Bundesebene herangezogen?

b) Aus welchem Grund wurden kurdische Migrationsverbände und Persön-
lichkeiten nicht bei den bisherigen bundesweiten Integrationsgipfeln be-
rücksichtigt?

c) Welche kurdischen oder prokurdischen Verbände und Vereine wurden und
werden durch Mittel des Bundes dauerhaft oder regelmäßig gefördert?

4. Inwieweit wurden bislang vom Bund oder den Ländern konkrete Schritte zur
Integration von Kurdinnen und Kurden ergriffen?

a) Inwieweit wird nach Kenntnis der Bundesregierung kurdischsprachiger
Ergänzungsunterricht an Schulen in Deutschland angeboten?

b) Inwieweit werden mehrsprachig verbreitete Informationsschriften, For-
mulare etc. von Einrichtungen des Bundes, der Länder und Kommunen
auch in kurdischer Sprache verfasst?

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5. Inwieweit sind der Bundesregierung Fälle bekannt, in denen deutsche Behör-
den in Deutschland lebenden türkischen Staatsangehörigen eine Namensge-
bung ihrer Kinder mit kurdischen Namen verweigert haben?

a) Was war die Begründung für eine solche Weigerung, kurdische Namen für
Kinder zu akzeptieren?

b) Inwieweit hält die Bundesregierung die Möglichkeit der Vergabe kur-
discher Namen an Kinder in Deutschland lebender türkischer Staatsange-
höriger im Interesse der Persönlichkeits- und Elternrechte für wünschens-
wert?

6. Wie beurteilt die Bundesregierung die Bedeutung des politischen Engage-
ments der kurdischen Bevölkerung angesichts der rechtlichen und sozialen
Diskriminierung in den Herkunftsländern und in Europa?

a) Mit welchen Instrumenten misst die Bundesregierung den Entwicklungs-
grad des bürgerschaftlichen Engagements bei Kurdinnen und Kurden?

b) Wie gedenkt die Bundesregierung der gesellschaftlichen Ausgrenzung,
die auf der Kriminalisierung von kurdenspezifischer politischer Betä-
tigung fußt, zu begegnen?

c) Inwieweit erachtet die Bundesregierung eine Revision des PKK-Betä-
tigungsverbots von 1993 als Möglichkeit einer integrativen und zeitge-
mäßen Politik, gerade vor den Hintergrund der in den Verfassungsschutz-
berichten der letzten Jahre attestierten Gewaltfreiheit der PKK in der
Bundesrepublik Deutschland und der steigenden Akzeptanz der Partei als
Bestandteil der kurdischen Bewegung auf europäischer und internationa-
ler Ebene?

7. Inwieweit teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass eine friedliche
und politische Lösung der kurdischen Frage in der Türkei das Zusammen-
leben in der Bundesrepublik Deutschland begünstigen und die Integration
dieser Bevölkerungsgruppen vorantreiben wird?

a) Welche Schritte unternimmt die Bundesregierung konkret, um eine solche
Lösung zu unterstützen?

b) Inwieweit hält die Bundesregierung für eine solche Lösung eine Einbezie-
hung der Arbeiterpartei Kurdistans PKK beziehungsweise einen Dialog
der türkischen Regierung mit dem inhaftierten PKK-Führer Abdullah
Öcalan für wünschenswert?

c) Inwieweit erwägt die Bundesregierung ihrerseits, in einen Dialog mit kur-
dischen Persönlichkeiten oder Verbänden in Deutschland zu treten, um
eine Friedenslösung in der Türkei zu unterstützen?

Berlin, den 9. Februar 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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