BT-Drucksache 17/4394

Mikrokredite im Spannungsfeld zwischen Verschuldung und Veruntreuung einerseits und Armutsbekämpfung andererseits

Vom 12. Januar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4394
17. Wahlperiode 12. 01. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Niema Movassat, Christine Buchholz, Sevim Dag˘delen,
Annette Groth, Heike Hänsel, Inge Höger, Stefan Liebich und der Fraktion
DIE LINKE.

Mikrokredite im Spannungsfeld zwischen Verschuldung und Veruntreuung
einerseits und Armutsbekämpfung andererseits

Lange Zeit wurden Mikrokredite als eine Art Wunderwaffe im Kampf gegen
Armut dargestellt. Es wurde argumentiert, mit ihrer Hilfe könnten sich Men-
schen im Globalen Süden eine Existenz aufbauen. Die Vergabe von Mikro-
krediten soll Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, ein finanzielles
Auskommen sichern, das ihnen sowohl Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt
als auch Zugang zu Bildung und Gesundheit ermöglicht.

Vergeben werden die Mikrokredite von Nichtregierungsorganisationen (NRO)
sowie nationalen und internationalen Bankinstituten. Innerhalb kurzer Zeit
wurde der Markt von großen Banken erobert, wie z. B. in Indien von der Staats-
bank Bank of India, der Weltbank-Tochter FTC, dem Soros Economic Develop-
ment Fund oder dem responsAbility Global Microfinance Fund, einem Fonds, an
dem u. a. die CREDIT SUISSE GROUP AG beteiligt ist.

Das Gesamtvolumen von Mikrokrediten beträgt mittlerweile 60 Mrd. US-Dollar,
und es gibt in diesem Bereich „Schätzungsweise 90 Anlagefonds und -papiere
mit einem Gesamtvolumen von sechs Milliarden Euro (…). Die Weltbank
rechnet bis 2015 mit einem Zuwachs auf 15 Milliarden.“ (Gesine Wolfinger,
welt-sichten, Dezember 2009). Dass private Akteure auf diesen Markt drängen,
verwundert nicht: Die zu erzielenden Profite sind ansehnlich. Zinssätze von
40 oder gar 70 bis 100 Prozent sind durchaus üblich.

In Deutschland hat sich die KfW Bankengruppe „im Auftrag des BMZ zum
weltweit größten, öffentlichen Investor im Bereich Mikrofinanzen entwickelt“,
wie aus der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion
DIE LINKE. hervorgeht (Bundestagsdrucksache 17/2680). Deutschland unter-
stütze „in Indien maßgeblich das größte Mikrofinanzprogramm der Welt, des-
sen Kunden zu 90 Prozent Frauen sind.“

Das übliche Verfahren sieht so aus, dass eine „Spargruppe“ aus fünf bis sechs
Kreditnehmerinnen oder Kreditnehmern sich zusammenfindet, die abwech-
selnd einen Kredit erhalten und gegenseitig füreinander bürgen. Hierdurch wer-

den die Transaktionskosten (Infrastruktur- und Prüfungskosten) für die Kredite
auf die Beteiligten abgewälzt. Eine Insolvenz kann vernichtende persönliche
Folgen für die Kreditnehmerinnen und Kreditnehmer haben (vgl. etwa das
„house breaking“ in Bangladesch, bei welchem die Mitglieder der Spargruppe
bei Nichtrückzahlung des Kredits durch ein Mitglied in dessen Haus einbre-
chen und Wertgegenstände mitnehmen).

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In den vergangenen Monaten wurden neue wissenschaftliche Untersuchungen
(Bateman 2010) und Berichte in den Medien veröffentlicht, die die Wirksamkeit
der Mikrokredite bei der Armutsbekämpfung nicht nur infrage stellen, sondern
Mikrokredite sogar als zusätzliches Armutsrisiko darstellen. Auch der Friedens-
nobelpreisträger und Begründer der bangladeschischen Mikrokreditinstitution
Grameen Bank Muhammad Yunus stand in der Kritik. Ihm wird u. a. vorge-
worfen, Gelder der KfW Bankengruppe und der Deutschen Gesellschaft für
Technische Zusammenarbeit GmbH (GTZ) sowie der staatlichen Entwicklungs-
institute Norwegens und Schwedens in Höhe von 100 Mio. US-Dollar ver-
untreut zu haben. An Haus- und Mikrokredite zweckgebundene Entwicklungs-
hilfegelder – unter anderem der KfW Bankengruppe und der GTZ – seien Ende
der 90er-Jahre über Umwege in die Mobilfunkgesellschaften Grameen Telecom
und Grameenphone Ltd. geflossen. Zwar sei nach mehrmonatigen Verhandlun-
gen zwischen der norwegischen Regierung und Muhammad Yunus im Mai 1998
eine Teilsumme wieder ihrem ursprünglichen Zweck zugeführt worden. Zum
Verbleib der Entwicklungshilfegelder aus Deutschland gibt es jedoch keinerlei
Informationen (die Tageszeitung, 4/5. Dezember 2010).

In die Kritik geraten ist auch das größte indische Mikrokreditinstitut SKS Micro-
finance Ltd., das im August dieses Jahres an die Börse ging und mit der Aktien-
emission 350 Mio. Dollar erwirtschaftete. SKS, das 26,7 Prozent Zinsen auf
Mikrokredite erhebt (eigene Angaben, siehe www.sksindia.com), steht im Zen-
trum einer Mikrofinanzkrise im Bundesstaat Andhra Pradesh. Von den 80 Mil-
lionen Einwohnern sind in Andhra Pradesh etwa zehn Millionen Menschen bei
Mikrofinanzinstitutionen verschuldet – mehr als in jedem anderen indischen
Bundesstaat. Mit Wucherzinsen und zügelloser Kreditvergabe habe die Branche
Millionen Menschen in die Schuldenfalle getrieben. Allein in Andhra Pradesh
hätten aus Angst vor den Geldeintreibern mehr als 30 Schuldnerinnen und
Schuldner Selbstmord begangen (Handelsblatt, 15. November 2010).

Auch international findet die Krise allein aufgrund ihrer Dimension Beachtung.
Muhammad Yunus selbst ist deshalb darum bemüht, die Krise als eine regionale
Einzelerscheinung darzustellen und sein eigenes Institut davon abzugrenzen.
Doch anders als es Muhammad Yunus und andere Befürworter der Mikrofinanz
– etwa das Vorstandsmitglied der KfW Bankengruppe Dr. Norbert Kloppen-
burg – im „Handelsblatt“ vom 15. November 2010 darstellen, „ist die Mikrofi-
nanz nicht allein wegen spekulativ eingestellter Finanzinvestoren in die Krise
geraten“ (FAZ, 3. Dezember 2010). Einen Beleg dafür liefert u. a. eine Radio-
dokumentation des Deutschlandfunks vom 20. Juli 2010. Die Kreditnehmerin-
nen und Kreditnehmer der Grameen Bank aus Bangladesch, die darin porträtiert
werden, sind ausnahmslos verschuldet. Sie verkaufen ihre kleinen Äcker und
schicken ihre Kinder nicht in die Schule, sondern als Tagelöhner zur Feldarbeit,
um die wöchentlichen Raten begleichen zu können. Das sind Auswirkungen, die
mit der entwicklungspolitischen Zielsetzung der Armutsbekämpfung nur
schwerlich in Einklang zu bringen sind. Der Dokumentation, die sich auf Daten
von Wirtschaftswissenschaftlern und der staatlichen Aufsichtsbehörde für
Mikrofinanzkredite stützt, zufolge gelingt es nur 5 bis 10 Prozent der Kreditneh-
merinnen und Kreditnehmer, sich mit Hilfe der Mikrokredite, auf die auch die
Grameen Bank 20 Prozent Zinsen erhebt, aus der Armut zu befreien. Demgegen-
über sind 70 Prozent der insgesamt 30 Millionen Kreditnehmerinnen und Kre-
ditnehmer in Bangladesch bei mehr als einem Institut verschuldet. Sogar wenn
sie Opfer einer Naturkatastrophe sind und alles verloren haben, bestehen die
Mitarbeiter der Mikrofinanzinstitute auf die Begleichung der wöchentlichen
Ratenzahlungen.

Die Bundesregierung insistiert in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage (Bun-
destagsdrucksache 17/2680), dass die von ihr geförderten Mikrofinanzinstitu-

tionen (MFI) nachhaltig arbeiten. Unklar bleibt dabei jedoch, wie und ob die
deutsche Entwicklungszusammenarbeit zwischen sozialer Wirksamkeit einer-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/4394

seits und betriebswirtschaftlichen Erfolgen der Mikrofinanzinstitute anderer-
seits unterscheidet, ob die Bundesregierung die soziale Wirksamkeit also direkt
aus den betriebswirtschaftlichen Erfolgsdaten der MFI ableitet.

Bei aller Kritik darf nicht vergessen werden, dass es sehr erfolgreiche und für
die Kreditnehmerinnen und Kreditnehmer nachhaltige Mikrokreditprojekte
gibt, meist von kleineren Nichtregierungsorganisationen wie beispielsweise
SODI (Solidaritätsdienst International e. V.). Diese sehen Mikrokredite als Mit-
tel zur Armutsbekämpfung, nicht als Mittel der Gewinnerwirtschaftung an und
legen sehr strenge Kriterien zur Kreditvergabe fest: niedrige Zinsen, lange
Laufzeiten, Verwaltung durch zivilgesellschaftliche Institutionen, Kombination
mit Anschubfinanzierung, Schulungen und kontinuierlicher Beratung, revolvie-
rende Fonds.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche (Kredite/Zuschüsse) und wie viele Mittel erhielten bzw. erhalten
Mikrofinanzinstitutionen (bitte detailliert den entsprechenden Instituten zu-
ordnen) von oder durch die Bundesregierung (einschließlich der Mittel, die
über den Kapitalmarkt aufgenommen und z. B. durch die KfW Banken-
gruppe als Mittlerin weitergeleitet werden)?

a) Wie, wann, mit welchen Mitteln und in welchem Umfang förderte bzw.
fördert die Bundesregierung die Grameen Bank und MFI in Bangla-
desch?

b) Mit welchen Summen unterstützte bzw. unterstützt die KfW Banken-
gruppe/Bundesregierung MFI im indischen Andhra Pradesh (bitte auf-
schlüsseln nach Namen der MFI)?

c) In welcher Form und wie lange war bzw. ist die Bundesregierung am
Aufbau der Mikrofinanzsysteme in Indien und Bangladesch beteiligt –
zum Beispiel durch Berater, durch finanzielle oder technische Unterstüt-
zung (zentral und Bundesstaatsebene)?

2. Gedenkt die Bundesregierung, dem Vorwurf der Veruntreuung von Steuer-
geldern durch die Grameen Bank nachzugehen?

a) Wenn ja, wann, und mit welchen Mitteln?

b) Wenn ja, welche rechtlichen Schritte sind vorgesehen?

c) Wenn nein, warum nicht?

3. Wie hoch sind angesichts des Umstandes, dass für die Bereitstellung der nö-
tigen Finanzarchitektur und der für die Abwicklung des Mikrokreditwesens
notwendigen Infrastruktur bis Ende 2009 von deutscher Seite 2,7 Mrd. Euro
zur Verfügung gestellt wurden, demgegenüber die Summen, die die Bundes-
regierung direkt zur Förderung des Bildungs- und Gesundheitssektors in den
Entwicklungsländern aufbringt?

4. a) Sind der Bundesregierung ähnliche wie die im Deutschlandfunk geschil-
derten Fälle bekannt, in denen Kreditnehmer zur Begleichung ihrer Raten
Ackerland verkaufen mussten?

b) Wenn ja, in welchen Ländern und bei welchen MFI?

5. a) Was sind nach Ansicht der Bundesregierung „marktkonforme Kreditzin-
sen“ (Bundestagsdrucksache 17/2680)?

b) Wie definiert die Bundesregierung demgegenüber die von ihr kritisierte
„kurzfristige Rendite“ (siehe Bundestagsdrucksache 17/2680)?
c) Was wäre demnach eine „angemessene Rendite“?

Drucksache 17/4394 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
d) Warum fördert die Bundesregierung keine „von den Marktkonditionen
abweichende Zinssubventionierung von Endkreditnehmern“ (Bundes-
tagsdrucksache 17/2680, Antwort zu Frage 11)?

6. a) Auf welcher Grundlage kommt die Bundesregierung zu ihrer in ihrer
Antwort auf die Kleine Anfrage auf Bundestagsdrucksache 17/2680
formulierten Annahme, dass Selbsthilfegruppen in Indien, die durch das
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung unterstützt werden, die „absolute Armutsrate der Teilnehmer von
50 auf 30 Prozent“ reduzieren konnten?

b) Wer führt in Indien – und in den anderen Partnerländern für Mikrofi-
nanzprogramme – die Evaluierung der MFI-Projekte durch, die durch
die Bundesregierung gefördert werden?

c) Wie groß ist der Anteil der externen, wie groß der Anteil der internen
Untersuchungen, auf die sich die Bundesregierung in ihrer Einschätzung
bezieht (Indien und weltweit)?

d) Wie werden die Evaluationen durchgeführt (bitte mit Angaben über
Quellen, Zeiträume, Buchhaltungsdaten, Feldrecherche, betriebswirt-
schaftliche Eckdaten, soziale Wirksamkeit etc.)?

7. Sind die Client Protection Principles der CGAP (Consultative Group to
Assist the Poor), die die deutsche Entwicklungspolitik mit entwickelt hat,
bindend?

8. Mit welchen Mitteln „achtet (die deutsche Entwicklungszusammenarbeit)
darauf, dass die Client Protection Principles in allen MFI umgesetzt wer-
den“ (Zitat auf Bundestagsdrucksache 17/2680, Antwort zu Frage 9)?

9. Welche Sanktionsmechanismen stehen zur Verfügung, um MFI zur Rechen-
schaft zu ziehen, die die Client Protection Principles missachten?

10. Inwiefern beteiligt sich die Bundesregierung an der Diskussion, die Folgen
der Mikrokreditkrise einzudämmen?

11. Setzt sich die Bundesregierung für eine gesetzlich verbindliche Regulie-
rung des Mikrofinanzsektors ein?

Wenn ja, inwiefern?

Wenn nein, warum nicht?

12. Sind die Auskünfte der Kreditinformationsbüros (hierzulande: SCHUFA
Holding AG), die die Bundesregierung in Entwicklungsländern anregt, für
die MFI in dem Sinne bindend, dass dort als überschuldet registrierte Kre-
ditnehmer keine weiteren Kredite mehr erhalten dürfen?

13. Befürwortet die Bundesregierung eine gesetzliche Obergrenze für Zinsen
in Ländern wie Mexiko und Indien, wo MFI zum Teil exorbitante Zinsen
erheben (Antwort bitte mit Begründung)?

14. Hält die Bundesregierung eine gesetzliche Begrenzung der Zinssätze auf
maximal 100 Prozent jährlich – wie von der Bundesstaatsregierung in
Andhra Pradesh als Reaktion auf die Krise verabschiedet – für ausreichend
(siehe http://indiamicrofinance.com)?

Berlin, den 12. Januar 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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