BT-Drucksache 17/4317

Auswirkungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Assoziierungsabkommen der Europäischen Union mit der Türkei auf das Aufenthaltsrecht

Vom 20. Dezember 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4317
17. Wahlperiode 20. 12. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Ulla Jelpke, Raju Sharma und der Fraktion
DIE LINKE.

Auswirkungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum
Assoziierungsabkommen der Europäischen Union mit der Türkei auf das
Aufenthaltsrecht

Der Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei über die Entwicklung
der Assoziation (ARB 1/80) sieht in Artikel 13 ein so genanntes Verschlechte-
rungsverbot (Stand-Still-Klausel) vor, d. h. die Mitgliedstaaten der Europäischen
Union dürfen „keine neuen Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt“
gegenüber türkischen Arbeitnehmern und ihren Familienangehörigen einführen.
Durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ist klar, dass
der Zugang zum Arbeitsmarkt auch ein Aufenthaltsrecht voraussetzt, somit darf
es auch keine „neuen Beschränkungen“ bei der Erteilung einer Aufenthalts-
erlaubnis geben. Offen war bislang, wie der Begriff einer unzulässigen „neuen“
Beschränkung in zeitlicher Hinsicht zu verstehen ist.

Der EuGH hat nunmehr mit Urteil vom 9. Dezember 2010 (C- 300/09 und
C- 301/09) klargestellt, dass das Verschlechterungsverbot nach Artikel 13
ARB 1/80 dynamisch auszulegen ist. Das Verschlechterungsverbot gilt mithin
nicht nur bezogen auf den 1. Dezember 1980, dem Datum des Inkrafttretens des
Beschlusses, sondern auch in Bezug auf seitdem erfolgte Begünstigungen. Im
Hinblick auf das Ziel der schrittweisen Verwirklichung der Freizügigkeit türki-
scher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dürfen einmal gewährte arbeits-
oder aufenthaltsrechtliche Erleichterungen nicht mehr zurückgenommen wer-
den, so der EuGH. Damit erweist sich aber auch die von der Bundesregierung
geplante Verlängerung der Mindestehebestandszeit zur Erlangung eines eigen-
ständigen Aufenthaltsrechts von zwei auf drei Jahre als eindeutig europarechts-
widrig.

Aktuelle Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes könnten angesichts des in-
folge des EuGH-Urteils vom 9. Dezember 2010 erforderlichen Günstigkeitsver-
gleichs mit den Regelungen des Ausländergesetzes von 1965 und 1990 gegen
Europarecht verstoßen, etwa die Regelungen für eine unbefristete Aufenthalts-
erlaubnis oder Nachzugsvoraussetzungen für Familienangehörige. Die Bundes-
regierung hat eine Antwort auf eine entsprechende Mündliche Frage der Ab-
geordneten Sevim Dag˘delen zu den Auswirkungen des Urteils jedoch mit der

Begründung verweigert, dieses werde „derzeit“ noch ausgewertet (vgl. Plenar-
protokoll 17/80, S. 8897).

Auch eine Gebührenerhöhung kann einen Bruch der Stand-Still-Klausel des
Artikels 13 ARB 1/80 darstellen, so der EuGH in seinem Sahin-Urteil vom
17. September 2009. Die Bundesregierung hält die gestiegenen Gebühren in
Deutschland jedoch (noch) für zulässig (vgl. Bundestagsdrucksachen 17/413

Drucksache 17/4317 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

und 17/2816 Antwort zu Frage 34) und sieht im Zuge der Einführung eines ein-
heitlichen elektronischen Aufenthaltstitels sogar weitere massive Gebühren-
erhöhungen vor.

Die Einführung neuer Visumbeschränkungen gegenüber türkischen Staatsange-
hörigen kann wiederum gegen die Stand-Still-Klausel nach Artikel 41 Absatz 1
des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen verstoßen, jedoch setzt die
Bundesregierung das entsprechende Soysal-Urteil des EuGH nach überwiegen-
der Auffassung in der Rechtsliteratur nur unzureichend um (vgl. Bundestags-
drucksachen 16/12743, 16/13327 und 16/14028).

Der EuGH stellt in seiner Entscheidung vom 9. Dezember 2010 klar, dass die
Stand-Still-Klauseln in Artikel 41 des Zusatzprotokolls und Artikel 13 des Be-
schlusses Nr. 1/80 angesichts der übereinstimmenden Zielsetzung beider Vor-
schriften einheitlich so auszulegen sind, dass sie den Mitgliedstaaten ein „abso-
lutes Verbot“ auferlegen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehenden Be-
dingungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit, der Niederlassungs- oder der Dienst-
leistungsfreiheit für türkische Staatsangehörige zu verschärfen.

Für die Interpretation und Umsetzung des EuGH-Urteils vom 9. Dezember 2010
dürfte der Umgang der Bundesregierung mit dem so genannten Chakroun-Urteil
des EuGH lehrreich sein. Hier behauptete die Bundesregierung – selbst auf
Nachfrage –, dass die Vorgaben des EuGH zur Lebensunterhaltsberechnung im
Rahmen der so genannten EU-Familienzusammenführungsrichtlinie auf Beson-
derheiten niederländischen Rechts abstellten und deshalb keine unmittelbaren
Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage hätten und auch keinen entsprechen-
den Handlungs- oder Änderungsbedarf auslösten (vgl. Bundestagsdrucksachen
17/2816 zu Frage 31 und 17/3393 zu Frage 24). Nicht einmal einen Monat später
musste allerdings das Bundesverwaltungsgericht, auf das sich die Bundesregie-
rung gestützt hatte, seine diesbezügliche Rechtsprechung in Hinblick auf das
Chakroun-Urteil korrigieren (vgl. Urteil vom 16. November 2010, 1 C 20 und
21.09). Auch das EuGH-Urteil vom 9. Dezember 2010 bezieht sich zunächst
einmal auf niederländisches Recht. Die grundsätzliche Entscheidung des EuGH
einer dynamischen Auslegung und Wirkung des assoziationsrechtlichen Ver-
schlechterungsverbots gilt jedoch für alle EU-Mitgliedstaaten unmittelbar. Der
konkret mit dem Urteil entschiedene Sachverhalt ist überdies völlig vergleichbar
mit der geplanten Verlängerung der Mindestehebestandszeit in Deutschland.

Soweit für die Beantwortung von einzelnen Fragen aufwändigere Recherchen
erforderlich sein sollten, räumt die Fragestellerin der Bundesregierung hiermit
vorsorglich eine längere Beantwortungsfrist – allerdings nur in Bezug auf diese
Fragen – ein.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Auswirkungen hat das Urteil des EuGH vom 9. Dezember 2010 auf
die Pläne der Bundesregierung, die Mindestehebestandszeit für ein eigen-
ständiges Aufenthaltsrecht von Eheleuten von zwei auf drei Jahre zu verlän-
gern – und falls es unterschiedliche Rechtsauffassungen unterschiedlicher
Bundesministerien hierzu geben sollte, welche sind dies?

a) Falls sich die Bundesregierung zu einer Beantwortung nicht in der Lage
sieht, weil sie das achtseitige Urteil des EuGH immer noch prüft: Wie
lange soll die Prüfung noch dauern, welche rechtlichen oder sonstigen
Sachverhalte bereiten der Bundesregierung besondere Probleme, und
wieso ist die Bundesregierung trotz eingearbeiteter Bundesministerien
nicht dazu in der Lage, das kurze und eindeutige Urteil, das von Fach-
leuten zudem erwartet wurde, zeitnah zu interpretieren und umzusetzen?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/4317

b) Hält die Bundesregierung – unabhängig von der Frage der Schlussfolge-
rungen aus dem EuGH-Urteil vom 9. Dezember 2010 – den diesem Urteil
zugrunde liegenden Sachverhalt grundsätzlich auf ihre Pläne zur Verlän-
gerung der Mindestehebestandszeit für übertragbar (dort: Rückgängig-
machung einer zwischenzeitlich von drei auf ein Jahr herabgesetzten
Mindestehebestandszeit für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht, hier:
(teilweise) Rückgängigmachung einer zwischenzeitlich von vier auf zwei
Jahre herabgesetzten Mindestehebestandszeit; bitte begründen)?

c) Welche weiteren Auswirkungen hat das Urteil auf deutsches Recht, und
welchen Handlungsbedarf sieht die Bundesregierung?

2. Inwieweit, wann und unter welchen Voraussetzungen sind nach Auffassung
der Bundesregierung Urteile des EuGH, die gegen andere Mitgliedstaaten
ergangen sind, auch für die Bundesrepublik Deutschland verbindlich (bitte
ausführen)?

a) Ist für die Bundesrepublik Deutschland bzw. die Bundesregierung ins-
besondere verbindlich, wenn Erklärungen, die sie in ein Verfahren gegen
einen anderen EU-Mitgliedstaat eingebracht hat, vom EuGH berücksich-
tigt und als rechtlich unzutreffend beurteilt wurden (wenn nein, bitte aus-
führlich begründen)?

b) Welche rechtliche Bedeutung und welche konkreten Folgen hat es also,
dass die Erklärung der Bundesregierung (vgl. EuGH-Urteil vom 9. De-
zember 2010, Rn. 48), bei der Auslegung des Verschlechterungsverbots
komme es ausschließlich auf die Rechtslage zum 1. Dezember 1980 an
und nachfolgende Änderungen seien unbeachtlich, vom EuGH eindeutig
als falsch zurückgewiesen wurde (vgl. Rn. 50 ff. a. a. O., bitte ausführen)?

3. Welche aufenthalts- oder arbeitsrechtlichen Bestimmungen, von denen tür-
kische Staatsangehörige betroffen waren bzw. sind, wurden nach dem
1. Dezember 1980 in Deutschland in der Weise verschärft, dass eine nach
dem 1. Dezember 1980 erfolgte Erleichterung wieder zurückgenommen
wurde (bitte diese Frage unabhängig von der Frage, welche Auswirkungen
das EuGH-Urteil vom 9. Dezember 2010 hat, beantworten)?

Bitte differenzieren nach

a) Rücknahme von Erleichterungen für die Erteilung einer Aufenthalts-
erlaubnis,

b) Rücknahme von Erleichterungen für die Erteilung einer unbefristeten
Aufenthaltserlaubnis,

c) Rücknahme von Erleichterungen beim Familiennachzug,

d) Rücknahme von Erleichterungen bei der Visumvergabe,

e) Rücknahme von Erleichterungen beim Arbeitsmarktzugang,

f) Rücknahme von Gebührenerleichterungen für eine Aufenthalts- oder
Arbeitserlaubnis,

g) sonstige Rücknahmen von aufenthalts- oder arbeitsrechtlichen Erleichte-
rungen?

4. Wieso hat die Bundesregierung die der obigen Frage 3a entsprechende Münd-
liche Frage der Abgeordneten Sevim Dag˘delen nicht beantwortet, obwohl
eine Antwort hierauf nicht von der Auswertung des Urteils vom 9. Dezember
2010 abhängt (vgl. Plenarprotokoll 17/80, S. 8897)?

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5. Welche aufenthalts- oder arbeitsrechtlichen Bestimmungen, von denen tür-
kische Staatsangehörige betroffen waren bzw. sind, wurden zwischen dem
1. Dezember 1976 und dem 1. Dezember 1980 in der Weise verschärft, dass
eine nach dem 1. Dezember 1976 erfolgte Erleichterung wieder zurückge-
nommen wurde (bitte diese Frage unabhängig von der Frage, welche Aus-
wirkungen das EuGH-Urteil vom 9. Dezember 2010 hat, beantworten)?

Bitte differenzieren nach

a) Rücknahme von Erleichterungen für die Erteilung einer Aufenthalts-
erlaubnis,

b) Rücknahme von Erleichterungen für die Erteilung einer unbefristeten
Aufenthaltserlaubnis,

c) Rücknahme von Erleichterungen beim Familiennachzug,

d) Rücknahme von Erleichterungen bei der Visumvergabe,

e) Rücknahme von Erleichterungen beim Arbeitsmarktzugang,

f) Rücknahme von Gebührenerleichterungen für eine Aufenthalts- oder
Arbeitserlaubnis,

g) sonstige Rücknahmen von aufenthalts- oder arbeitsrechtlichen Erleichte-
rungen?

6. Teilt die Bundesregierung die Ansicht, dass die Stand-Still-Klausel des
Artikels 13 ARB 1/80 in Bezug auf türkische Arbeitnehmer/-innen nicht zur
Folge hat, dass die vorherige Begünstigungsklausel des Artikels 7 ARB 2/76
in der Weise verdrängt würde, dass neue Beschränkungen, die zwischen dem
1. Dezember 1976 und dem 1. Dezember 1980 entgegen Artikel 7 ARB 2/76
erlassen wurden, auf einmal europarechtskonform wären (wenn nein, bitte
nachvollziehbar begründen)?

7. Wie war die jeweilige Rechtslage (auf gesetzlicher und untergesetzlicher
Ebene, bitte jeweils auch konkrete Rechtsgrundlagen benennen) in Deutsch-
land gegenüber türkischen Staatsangehörigen zu den Daten 1. Dezember
1976, 1. Dezember 1980 und aktuell in Bezug auf

a) die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis,

b) die Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis,

c) die Gewährung des Familiennachzugs,

d) die Erteilung eines Visums,

e) die Erteilung eines Arbeitsmarktzugangs bzw. einer Arbeitserlaubnis,

f) die Gebühren für die Erteilung bzw. Verlängerung einer Aufenthalts- oder
Arbeitserlaubnis,

g) sonstige wesentliche aufenthalts- oder arbeitsrechtlichen Bestimmungen?

8. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass sich die dynamische Aus-
legung der Stand-Still-Klausel nach Artikel 13 ARB 1/80 durch den EuGH
nicht nur auf die Rechte türkischer Arbeitnehmer/-innen beim Arbeitsmarkt-
zugang, sondern auch auf die Rechte von Familienangehörigen bei der
Familienzusammenführung bezieht, da der Gerichtshof ein dem entgegen-
stehendes Vorbringen der niederländischen Regierung ausdrücklich zurück-
gewiesen hat (vgl. Rn. 46 des EuGH-Urteils vom 9. Dezember 2010, wenn
nein, bitte begründen)?

9. Ist es nach Ansicht der Bundesregierung zutreffend, dass sich nach der ge-
festigten Rechtsprechung des EuGH auch türkische Staatsangehörige, die
noch nicht im Sinne des Artikels 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 in den
Arbeitsmarkt integriert sind, auf das Verschlechterungsverbot nach Artikel 13
ARB 1/80 berufen können, wenn nein, bitte begründen, und wenn ja, ab wann

liegt dann nach ihrer Ansicht eine Arbeitnehmereigenschaft im assoziations-
rechtlichen Sinne vor?

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10. Wird die Bundesregierung von der geplanten Verlängerung der Mindest-
ehebestandszeit zur Erlangung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts ab-
sehen, wenn dies in Bezug auf türkische Staatsangehörige gegen das
EuGH-Urteil vom 9. Dezember 2010 verstoßen würde (wenn nein, bitte
begründen)?

a) Hält es die Bundesregierung für sinnvoll, die geplante Verlängerung der
Mindestehebestandszeit zur Erlangung eines eigenständigen Aufent-
haltsrechts auch dann umzusetzen, wenn türkische Staatsangehörige
hiervon ausgenommen werden müssen (bitte begründen)?

b) Wäre eine solche Regelung, die nicht nur für EU-Angehörige, sondern
auch für türkische Staatsangehörige nicht gelten würde, mit dem Gleich-
behandlungsgrundsatz vereinbar und noch effektiv im Sinne des ange-
strebten Ziels der Gesetzesänderung (bitte begründen)?

11. Ist es nach Kenntnis der Bundesregierung zutreffend, dass bis heute ins-
gesamt 39 Verfahren im Zusammenhang mit dem Assoziationsabkommen
vor dem EuGH geführt und davon 38 zugunsten türkischer Staatsangehöri-
ger entschieden wurden, wie Ejder Köse, Rechtsanwalt in dem Verfahren
C-300/301/09 dem Internetportal migazin.de (vom 17. Dezember 2010)
berichtete, wenn nein, wie verhält es sich nach Auffassung der Bundes-
regierung (bitte im Detail darlegen)?

a) Wie bewertet die Bundesregierung diese eindeutige Bilanz (bitte auch
beantworten, wenn sie sich nicht exakt, aber in der Tendenz wie in der
Ausgangsfrage darstellt)?

b) Wie ist die Bilanz bei Verfahren türkischer Staatsangehöriger vor dem
EuGH in Bezug auf das Assoziationsabkommen, die gegen die Bundes-
republik Deutschland gerichtet waren (Verfahren bitte im Detail auffüh-
ren), und in wie vielen bzw. welchen Verfahren, in denen sie nicht direkt
Beteiligte war, hatte die Bundesregierung Erklärungen abgegeben, und
welche bzw. wie viele hiervon wurden vom EuGH geteilt bzw. zurück-
gewiesen?

c) Ist die oben geschilderte Rechtsprechungsbilanz in Bezug auf das EU-
Assoziationsabkommen mit der Türkei nach Ansicht der Bundesregie-
rung ein Ausdruck dafür, dass die sich aus dem Assoziationsabkommen
ergebenden Rechte für türkische Staatsangehörige von den Mitglied-
staaten der EU nur sehr zögerlich, unzureichend oder unwillig gewährt
werden (bitte begründen)?

d) Wäre es angesichts der hohen Quote, mit der türkischen Staatsangehöri-
gen gegenüber EU-Mitgliedstaaten durch den EuGH Recht gegeben
wurde, nicht angebracht, die Rechte aus dem Assoziationsabkommen
im Zweifelsfall großzügig – und nicht restriktiv, wie durch die Bundes-
regierung häufig geschehen (vgl. Vorbemerkung der Fragesteller) – aus-
zulegen (bitte begründen)?

12. Wie reagiert die Bundesregierung auf die scharfe Kritik an der geplanten
Verlängerung der Mindestehebestandszeit, unter anderem, weil dies Opfer
von Zwangsheiraten gerade nicht schützt, sondern im Gegenteil sie unter
Umständen ein Jahr länger als bisher einer Zwangssituation und/oder häus-
licher Gewalt aussetzt (so etwa der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsver-
band e. V. in einer Pressemitteilung vom 27. Oktober 2010, das Forum Men-
schenrechte e. V. in einer Erklärung vom Oktober 2010 und das Deutsche
Institut für Menschenrechte e. V. in einer Pressemitteilung vom 7. Dezember
2010)?

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13. Wie reagiert die Bundesregierung darauf, dass diese Kritik im Grundsatz
auch von den Ausschüssen für Frauen und Jugend bzw. für Familie und
Senioren und des Rechtsausschusses des Bundesrates geteilt wird (vgl.
Bundesratsdrucksache 704/10, Nr. 3 und 4)?

14. Mit welcher Begründung hält die Bundesregierung ihre Antwort vom
3. Dezember 2010 auf die Schriftliche Frage 8 der Abgeordneten Sevim
Dag˘delen auf Bundestagsdrucksache 17/4108 für stichhaltig, wenn sie be-
rücksichtigt, dass (bitte nach Buchstaben getrennt beantworten)

a) die begrenzte Aussagekraft „kriminalstatistischer Erhebungen über poli-
zeilich bearbeitete Scheineheverdachtsfälle“ gleichermaßen für den
Wert der polizeilichen Kriminalstatistik für das Jahr 2000 bzw. 2009
gilt, so dass sich an der Feststellung, dass die Zahl der statistisch erfass-
ten Verdachtsfälle 2009 nicht einmal ein Drittel des Wertes von 2000
betrug, Bestand hat und im krassen Gegensatz zur Gesetzesbegründung
einer angeblichen Erhöhung der Scheinehenverdachtsfälle infolge der
Gesetzesänderung von 2000 steht,

b) die EU-Osterweiterung den rapiden Rückgang der statistisch erfassten
Verdachtsfälle von 2000 bis 2009 um mehr als zwei Drittel quantitativ
nicht erklären kann,

c) die Erfolgsaussichten, eine Scheinehe im dritten Jahr nachzuweisen,
wenn dies innerhalb von zwei Jahren nicht gelungen ist, „sehr gering“
sind und überdies eine Scheinehe auch „nach Erhalt des eigenständigen
Aufenthaltsrechts widerrufen werden“ kann, wie die Ausschüsse für
Frauen und Jugend bzw. für Familie und Senioren des Bundesrates aus-
geführt haben (vgl. Bundesratsdrucksache 704/10, Nr. 3)?

15. Inwieweit und mit welcher Begründung hält die Bundesregierung die ge-
plante Gebührenerhöhung (auch) für türkische Staatsangehörige im Zuge
der Anpassung deutschen Rechts an die Verordnung EG Nr. 380/2008
(Bundestagsdrucksache 17/3354) für mit dem Sahin-Urteil des EuGH ver-
einbar (vgl. Bundestagsdrucksache 17/413), obwohl sich damit z. B. die zu
entrichtende Gebühr für die Erteilung einer mehr als einjährigen Aufent-
haltserlaubnis von 20,45 Euro im Jahr 1977 auf dann künftig bis zu
130 Euro erhöhen würde?

a) Inwieweit und mit welcher Begründung hält die Bundesregierung vor
dem Hintergrund, dass künftig im gewählten Beispiel die Gebühren
trotz des Verschlechterungsverbots um 109 Euro höher liegen werden
als zum Stand 1977 – was sich in der Nähe des vom EuGH im Sahin-
Urteil für europarechtswidrig erachteten Differenzbetrags von 139 Euro
befindet –, an ihrer Antwort auf Bundestagsdrucksache 17/413 fest?

b) Inwieweit und mit welcher Begründung hält die Bundesregierung an
ihrer Antwort auf Bundestagsdrucksache 17/413 fest angesichts des
Umstands, dass das von ihr vorgebrachte Argument, in den Niederlanden
sei eine Gebühr neu eingeführt worden, während in Deutschland die
Gebühren lediglich „moderat“ erhöht worden seien, in Hinblick auf das
vom EuGH bekräftigte absolute Verbot jeglicher neuer Beschränkungen
offenkundig unzulässig ist (im EuGH-Urteil vom 9. Dezember 2010
wird unter Rn. 54 klargestellt, dass das Verschlechterungsverbot des
Artikels 13 ARB 1/80 sich „auf sämtliche neuen Hindernisse für die
Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit erstreckt“)?

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16. Wie ist der aktuelle Stand der im September 2009 noch anhängigen zwei
Verfahren zu Schadenersatzforderungen wegen der Nichterteilung von Visa
bzw. der Versagung einer visumfreien Einreise im Zusammenhang des
Soysal-Urteils des EuGH (vgl. Bundestagsdrucksache 16/14028), und wie
viele vergleichbare Verfahren sind aktuell nach Kenntnis der Bundesregie-
rung anhängig?

17. In wie vielen Fällen wurden in welchem Zeitraum bis heute Bestätigungen
der Möglichkeit einer visumfreien Einreise durch deutsche Auslandsvertre-
tungen in der Türkei ausgestellt, und was entgegnet die Bundesregierung
auf die Kritik ähnlich aufwändiger Nachweis- und Prüfverfahren zur Erlan-
gung einer solchen Bestätigung wie im Visumverfahren?

18. Hält die Bundesregierung immer noch an ihrer Auffassung fest, dass aus
dem Chakroun-Urteil des EuGH keine unmittelbaren Auswirkungen auf
die deutsche Rechtslage folgen und die Anwendungspraxis bei der Berech-
nung des für die Lebensunterhaltssicherung zur Verfügung stehenden Ein-
kommens (insbesondere die Frage der Berücksichtigung sozialrechtlicher
Freibeträge) nicht geändert werden müsse (vgl. Bundestagsdrucksachen
17/2816 zu Frage 31 und 17/3393 zu Frage 24), nachdem selbst das Bun-
desverwaltungsgericht mit Urteil vom 16. November 2010 (1C 20 und
21.09) seine diesbezügliche Rechtsprechung in Hinblick auf das Chakroun-
Urteil geändert hat?

a) Wenn ja, mit welcher Begründung?

b) Wenn nein, welche Schlussfolgerungen zieht sie hieraus, welche Ände-
rungen in Bezug auf die Praxis, die Verwaltungsvorschriften und die ge-
setzlichen Grundlagen sind geplant bzw. schon umgesetzt, und wie wird
die Bundesregierung eine schnellstmögliche umfassende Beachtung der
Vorgaben des Chakroun-Urteils in der bundesdeutschen Vollzugspraxis
gewährleisten?

c) Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung in Bezug auf ihre
Bewertung einer Übertragbarkeit des EuGH-Urteils vom 9. Dezember
2010 auf deutsches Recht daraus, dass ihre bisherige Haltung zum
Chakroun-Urteil, wonach dies nur Auswirkungen auf das niederlän-
dische und nicht auf das deutsche Recht habe, spätestens mit dem ge-
nannten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. November 2010
unhaltbar geworden ist, zumal es sich bei dem konkreten Sachverhalt im
EuGH-Verfahren C-300 und 301/09 (Rücknahme der zwischenzeitlich
verkürzten Mindestehebestandszeit) um einen mit der geplanten Verlän-
gerung der Mindestehebestandszeit in Deutschland völlig vergleichbaren
Vorgang handelt?

19. Welche Kenntnisse zur Rechtsprechung in Deutschland (bitte möglichst
konkret mit Angabe von Urteilsaktenzeichen usw. antworten) hat die Bun-
desregierung in Bezug auf die Umsetzung und Berücksichtigung

a) des Soysal-Urteils des EuGH vom 19. Februar 2009 zur Visumpflicht,

b) des Sahin-Urteils des EuGH vom 17. September 2009 zu Gebühren für
die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis,

c) des Urteils C-92/07 des EuGH vom 29. April 2010 zur Anwendung der
Stillhalteklausel auf Gebühren auch bei der erstmaligen Aufnahme in
einem Mitgliedstaat der EU,

d) des Toprak-Urteils des EuGH vom 9. Dezember 2010 zur dynamischen
Anwendung der Stand-Still-Klauseln?

Berlin, den 17. Dezember 2010
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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