BT-Drucksache 17/3995

Chancen für die Teilhabe am Arbeitsleben nutzen - Arbeitsbedingungen verbessern - Rentenzugang flexibilisieren

Vom 1. Dezember 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/3995
17. Wahlperiode 01. 12. 2010

Antrag
der Abgeordneten Anton Schaaf, Anette Kramme, Elke Ferner, Petra Ernstberger,
Iris Gleicke, Gabriele Hiller-Ohm, Christel Humme, Josip Juratovic, Angelika
Krüger-Leißner, Ute Kumpf, Gabriele Lösekrug-Möller, Caren Marks, Katja Mast,
Thomas Oppermann, Silvia Schmidt (Eisleben), Dr. Frank-Walter Steinmeier und
der Fraktion der SPD

Chancen für die Teilhabe am Arbeitsleben nutzen – Arbeitsbedingungen
verbessern – Rentenzugang flexibilisieren

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Das Erwerbsleben in guter Arbeit entscheidet über die soziale und materielle
Teilhabe in unserer Gesellschaft. Gute Arbeit ist notwendig, um Altersarmut zu
vermeiden. Auf die steigende Lebenserwartung und die Verschiebungen im
Altersaufbau unserer Gesellschaft einschließlich des Rückgangs der Zahl der
Erwerbspersonen muss in der Alterssicherung reagiert werden. Mit dem RV-
Altersgrenzenanpassungsgesetz von 2007 ist eine langfristige, stufenweise
Anhebung des Eintrittsalters in die Regelaltersrente sowie die vorgezogenen
Altersrenten beschlossen worden. Die Regelaltersgrenze wird – nach der gelten-
den Regelung – von 2012 an beginnend mit dem Jahrgang 1947 bis zum Jahr
2029 schrittweise auf 67 Jahre angehoben werden. Notwendig ist die Schaffung
von flexiblen Übergängen, um den Eintritt in die Rente in Würde zu erreichen.

Aus gutem Grund ist der Beginn der Erhöhung des Renteneintrittsalters mit
einer Überprüfungsklausel (§ 154 Absatz 4 Satz 1 und 2 des Sechsten Buches
Sozialgesetzbuch – SGB VI) verknüpft, die sicherstellt, dass der Einstieg in die
Rente mit 67 nur erfolgt, wenn auch die Bedingungen dafür erfüllt sind. Die ver-
bindlichen Prüfsteine bilden die Entwicklung der Arbeitsmarktlage und die wirt-
schaftliche und soziale Situation älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Die Bundesregierung hat demnach alle vier Jahre – erstmals 2010 – einen Be-
richt vorzulegen, der die Anhebung des Rentenalters zum jeweiligen Zeitpunkt
einer Prüfung unterzieht. Die entscheidende Frage, die sie beantworten muss,
lautet: Ist die überwiegende Zahl der Menschen bis zum Rentenbeginn sozial-
versicherungspflichtig beschäftigt und welche Qualität hat diese Beschäftigung?
Diese Diskussion muss nun ernsthaft und ohne ideologische Scheuklappen ge-
führt werden; die Interpretation von Zahlen und Statistiken darf dabei den Blick

auf die gesellschaftspolitischen Leitlinien nicht verstellen.

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A. Erfolge und Probleme erkennen, um Chancen zu nutzen: Eine ehrliche Bi-
lanz der sozialen und Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer ziehen

Die positive Beschäftigungsentwicklung der letzten Jahre hat einen deutlichen
Anstieg der Erwerbstätigkeit Älterer bewirkt, der sich auch in einem steigenden
durchschnittlichen Rentenzugangsalter ausdrückt: Ein Anstieg um durchschnitt-
lich ein Jahr in den letzten Jahren zeigt, dass die Bundesrepublik Deutschland
den Trend zur verfehlten Vorruhestandspolitik der 80er- und 90er-Jahre erfolg-
reich gewendet hat.

Zu einer ehrlichen Bewertung gehört allerdings die Erkenntnis, dass bei den
Erwerbstätigen im rentennahen Alter von 60 bis unter 65 Jahren die sozialversi-
cherungspflichtige Beschäftigung weiterhin zu wünschen übrig lässt. So wird
die deutlich angestiegene Erwerbsquote Älterer durch einen hohen Anteil aus-
schließlich geringfügig Beschäftigter verzerrt; zudem gehen in die Erwerbs-
quote auch diejenigen ein, die zwar erwerbsorientiert, aber arbeitslos sind. Im
Ergebnis lag die Quote der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in dieser
Altersgruppe im Jahr 2009 nur bei 23,4 Prozent, wobei der Wert bei den 64-Jäh-
rigen nur knapp 10 Prozent betrug. Zum Vergleich: Bei den 20- bis 54-Jährigen
sind es 63,1 Prozent. Diese Befunde offenbaren die trotz positiver Entwicklun-
gen nach wie vor schlechte Lage auf dem Arbeitsmarkt für Ältere vor dem Ru-
hestand.

Dies drückt sich auch im Übergang aus dem Erwerbsleben in die Rente aus: Nur
40,5 Prozent der Männer und sogar nur 32,2 Prozent der Frauen gehen aus einer
versicherungspflichtigen Beschäftigung in die Rente. Während das durch-
schnittliche Renteneintrittsalter aktuell bei 63,2 Jahren liegt, sind die Menschen
im Durchschnitt am Ende ihres Erwerbslebens 61,7 Jahre alt (Martin Brussig,
„Erwerbstätigkeit im Alter hängt vom Beruf ab“, Altersübergangs-Report 2010-
05). Da nur die wenigsten Versicherten so die Voraussetzungen für den Bezug
der abschlagsfreien Regelaltersrente mit 65 Jahren erfüllen, bedeutet dies, dass
ein immer größerer Teil der Versicherten eine vorgezogene Rente mit Abschlä-
gen (0,3 Prozent für jeden Monat vor Vollendung des 65. Lebensjahres) in Kauf
nehmen muss, und/oder aus dem Bezug von Arbeitslosengeld oder der Grund-
sicherung für Arbeitsuchende in die Rente wechselt. Auch die Bundesregierung
muss in ihrem Bericht einräumen, dass im Rentenzugang des Jahres 2009
41,3 Prozent der Männer und sogar 48,9 Prozent der Frauen in eine Altersrente
mit Abschlägen gegangen sind.

Aktuelle Studien (so z. B. Martin Rosemann/Andrea Kirchmann, „Wer sind die
Betroffenen der Krise? Parallelen und Unterschiede zur vorangegangenen
Krise“, in: WSI Mitteilungen, Heft 11/2010) belegen, dass Ältere besonders von
den Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise auf dem Arbeitsmarkt be-
troffen sind. Demnach ist seit Beginn der letzen Krise die Arbeitslosigkeit bei
über 55-Jährigen im Vergleich zur Gesamtarbeitslosigkeit stärker gestiegen.
Während die Gesamtarbeitslosigkeit von 2008 zu 2009 um 1,5 Prozent gesun-
ken ist und von 2009 zu 2010 um 1,9 Prozent anstieg, ist sie für dieselben Zeit-
räume für Ältere um 16,2 Prozent bzw. 10,5 Prozent gestiegen (Rosemann/
Kirchmann, a. a. O.).

Zudem gilt es zu berücksichtigen, dass gerade Menschen, die in prekären Be-
schäftigungsverhältnissen tätig waren, bereits in ihrem Erwerbsleben öfter von
Arbeitslosigkeit und gesundheitlichen Einschränkungen betroffen gewesen sind
und daher ohnehin eine geringere Rente zu erwarten haben. 30 Prozent der älte-
ren Bezieher von Leistungen des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II)
sind gesundheitlich eingeschränkt und finden daher keine weitere Beschäftigung
(Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion der SPD auf

Bundestagsdrucksache 17/2299). Es ist zu befürchten, dass Altersarmut in Zu-
kunft als Folge unzureichender Rentenanwartschaften sowohl aufgrund unsteter

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Erwerbsverläufe als auch infolge von Invalidität stärker auftreten wird als dies
heute der Fall ist. Insbesondere Frauen werden hiervon betroffen sein, da ihre
– geringeren – Rentenanwartschaften auch seltener durch Anwartschaften in der
zweiten und dritten Säule aufgestockt werden.

Völlig unzureichend in dem Bericht der Bundesregierung sind die Darstellung
und die Bewertung der wirtschaftlichen und sozialen Situation älterer Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer. Hier beschränkt sie sich insbesondere auf all-
gemeine Daten zur Einkommens- und Vermögenssituation Älterer, anstatt auf
die konkreten Auswirkungen auf die Rentenhöhe infolge höherer Abschläge,
das Sicherungsniveau der Erwerbsminderungsrente und die besonderen wirt-
schaftlichen und gesundheitlichen Risiken von Beschäftigten in besonders be-
lastenden Tätigkeiten einzugehen.

Auch eine stärkere Flexibilisierung der Übergänge in die Rente wird von der
Bundesregierung bislang abgelehnt, wie z. B. die Antwort auf die Kleine An-
frage der Fraktion der SPD belegt (Bundestagsdrucksache 17/2299 vom 28. Juni
2010). Damit drückt sie sich vor der Tatsache, dass eine Anhebung der Regel-
altersgrenze allein noch nicht sicherstellt, dass die Beschäftigten dieses Renten-
eintrittsalter auch erreichen. Durch flankierende Maßnahmen der Tarifparteien
und der Politik müssen bessere Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass
Ältere länger erwerbstätig bleiben können und nicht mit finanziellen Einbußen
bei ihrer Rente rechnen müssen.

Der deutsche Arbeitsmarkt ist in Bewegung. Durch sinkende Arbeitslosigkeit
und durch die Folgen des demografischen Wandels mit einem abnehmenden Er-
werbspersonenpotenzial steigt die Nachfrage nach Fachkräften. Diese Chance
für mehr und bessere Beschäftigung von Älteren ist zu nutzen. Sie muss Teil
einer konzertierten Vollbeschäftigungsstrategie für Deutschland sein. Gerade
eine solche Politik aber darf die noch bestehenden Probleme nicht ausblenden
oder leugnen. Die Voraussetzungen für den Einstieg in die Rente mit 67 im Jahr
2012 sind noch nicht gegeben – dieser ist jetzt nicht vertretbar und darf daher
nicht erfolgen. Nach Vorlage des nächsten Berichts im Jahr 2014 muss erneut
entschieden werden, ob der Einstieg in die Anhebung des Renteneintrittsalters
dann möglich ist.

Langfristig bleibt die Anhebung des Renteneintrittsalters sozial- und wirt-
schaftspolitisch notwendig. Sie ist geeignet, angesichts einer deutlich veränder-
ten Arbeitswelt und der demografischen Entwicklung in Deutschland die gesetz-
liche Rentenversicherung als Grundlage der Altersvorsorge und der Lebensstan-
dardsicherung zu stärken und Fairness zwischen den Generationen zu bewirken.
Eine zurückgehende Zahl von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, ein spä-
terer Beginn des Erwerbslebens bei Jugendlichen und längere Rentenzahlungen
machen die Verlängerung des Verbleibs im Erwerbsleben, insbesondere in sozial-
versicherungspflichtiger Beschäftigung, erforderlich. Wenn immer weniger
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über ihre Beiträge die Renten für eine
größere Zahl von Rentnerinnen und Rentnern finanzieren müssen, ist es richtig,
länger in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zu bleiben und damit
sowohl die Finanzierung der Bestandsrenten zu stärken als auch mehr eigene
Ansprüche zu sichern.

B. Perspektiven schaffen für Arbeit und sichere Altersvorsorge

Ein hohes Beschäftigungsniveau und gute Arbeit sind zentrale Voraussetzungen
für eine sichere Altersversorgung der Menschen und die finanzielle Stabilität der
sozialen Sicherungssysteme. Jahrzehntelange Massenarbeitslosigkeit, die mas-
sive Ausweitung des Niedriglohnsektors, der Rückgang sozialversicherungs-
pflichtiger Normalarbeitsverhältnisse, die immer noch niedrige (Vollzeit-)Er-

werbsquote und Einkommenssituation von Frauen und die sinkende Lohnquote

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haben sowohl die Rentenansprüche vieler Menschen gesenkt als auch den Druck
auf die finanzielle Stabilität der gesetzlichen Rentenversicherung stark erhöht.

Deshalb können die Entscheidungen über die Zukunft der gesetzlichen Alters-
vorsorge nicht von der Zukunft der Arbeit und des Arbeitsmarktes abgekoppelt
bleiben. Die Förderung guter Arbeitsverhältnisse mit gerechter Bezahlung,
gutem Arbeits- und Gesundheitsschutz im Betrieb und sozialer Absicherung ist
unverzichtbar, um die Grundlage für eine sichere Altersversorgung des Einzel-
nen zu schaffen. Auf diesen wichtigen Handlungsfeldern ist die Bundesregie-
rung allerdings völlig untätig. Mit ihrer Weigerung, einen gesetzlichen Mindest-
lohn einzuführen und der geplanten Ausweitung der Hinzuverdienstgrenzen im
SGB II verschärft sie das Problem des wachsenden Niedriglohnsektors zusätz-
lich.

Die komplexer werdende Arbeitswelt erfordert stärkere Investitionen in die
Weiterbildung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über das gesamte Er-
werbsleben. Im Vergleich etwa zu den skandinavischen Ländern hat Deutsch-
land gewaltigen Nachholbedarf. Große Weiterbildungsdefizite haben insbeson-
dere Menschen im Niedriglohnsektor und prekären Arbeitsverhältnissen. Alters-
veränderte Belegschaften und differenzierte Alterstrukturen müssen von allen
betrieblichen Akteuren wahrgenommen werden. Altersbezogenes Personalma-
nagement muss sich etablieren. Innovation, Qualifizierung und Wissens- und
Erfahrungstransfer müssen in den Belegschaften organisiert werden. Hier sind
auch die Unternehmen selbst stärker gefordert.

C. Rücksicht auf leistungsgeminderte Beschäftigte nehmen

Die Bundesregierung muss mehr leisten als lediglich der Berichtspflicht zu ge-
nügen. Es reicht nicht aus, darauf zu warten, dass sich die Einstellung zu älteren
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Wirtschaft und Gesellschaft ändert,
oder auf „Beispiele guter Praxis“ zu verweisen. Sie muss die gesellschaftliche
Akzeptanz der Anhebung des Renteneintrittsalters aktiv politisch gestalten.
Hierzu gehört auch, dass eine arbeits- und sozialrechtliche Flankierung erfolgt,
indem insbesondere für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die wegen hoher
körperlicher und psychischer Belastungen die Regelaltersrente nicht erreichen
können, flexible Übergänge in den Ruhestand geschaffen werden, um zu verhin-
dern, dass sie drastische Renteneinbußen in Kauf nehmen müssen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

ein Gesamtkonzept zu erarbeiten, das dazu geeignet ist, die Voraussetzungen für
die Anhebung der Regelaltersgrenze zu schaffen. Dieses Gesamtkonzept muss
folgende Aspekte beinhalten:

A. Verschiebung der Anhebung des Renteneintrittsalters

Der für das Jahr 2012 vorgesehene Einstieg in die Erhöhung der Regelalters-
grenze auf 67 Jahre sowie der vorgezogenen Altersrenten ist auszusetzen, weil
die Voraussetzungen für die Erhöhung gegenwärtig nicht gegeben sind; Ziel ist
es, dass ein nahtloser Übergang aus dem Erwerbsleben in eine abschlagsfreie
Rente zur Regel wird. Die Bundesregierung wird hierzu einen Gesetzentwurf
vorlegen, damit die notwendigen Änderungen im SGB VI sowie in weiteren Ge-
setzen vorgenommen werden können.

Dieser Gesetzentwurf muss zudem regeln, dass ein Einstieg in die Anhebung des
Renteneintrittsalters erst dann möglich ist, wenn die rentennahen Jahrgänge,
also die 60- bis 64-jährigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, mindestens

zu 50 Prozent sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/3995

Zu den folgenden Berichten nach § 154 Absatz 4 SGB VI, deren nächste Aus-
gabe im Jahr 2014 vorzulegen ist, ist eine unabhängige Expertenkommission
„Zukunft der Arbeit für Ältere und der Alterssicherung“ aus Vertreterinnen und
Vertretern von Gewerkschaften und Arbeitgebern, der Wissenschaft und Sozial-
verbänden einzurichten. Diese Expertenkommission, die nach dem Prinzip einer
Enquete-Kommission durch die Fraktionen des Deutschen Bundestages zu
besetzen ist, berät und unterstützt die Bundesregierung bei der Erstellung des
Berichtes, damit eine umfassende Berücksichtigung aller notwendigen Aspekte
gegeben ist und eine überparteiliche und unabhängige Klärung über die Daten-
grundlagen erfolgen kann.

B. Erhöhte Anstrengungen zur verbesserten Beschäftigungssituation Älterer

Um einerseits einen fairen Ausgleich zwischen den Generationen und der Bei-
tragssatzstabilität zu sichern und andererseits die Gefahr von Altersarmut zu ver-
ringern und die gesetzliche Rente als Grundlage der Altersvorsorge zu stärken,
muss die Beschäftigung Älterer erhöht werden.

1. Humanisierung der Arbeitswelt

Angesichts der zukünftig sinkenden Zahl der Erwerbspersonen und des stei-
genden Anteils älterer Beschäftigter muss die Arbeitswelt umgebaut werden:
Veränderte und verdichtete Arbeitsabläufe, ständig neue Verfahren und Pro-
duktinnovationen stellen höchste Anforderungen an die Belegschaften, die zu
erheblichen körperlichen und psychischen Belastungen und Gesundheitsge-
fährdungen führen können. Es müssen alle Möglichkeiten genutzt werden,
um die Arbeitswelt so zu verändern, dass alle Beschäftigten möglichst lange
gesund am Arbeitsleben teilhaben können und psychisch und körperlich be-
lastende Arbeitsbedingungen weitgehend vermieden werden.

Notwendig ist eine Arbeitsplatzgestaltung, die sowohl

● präventiv den gesundheitlichen Verschleiß reduziert (alternsgerechtes Ar-
beiten) als auch

● reaktiv das spezifische Leistungsvermögen älterer oder erwerbsgeminder-
ter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer berücksichtigt (altersgerechtes
Arbeiten).

Dabei geht es zunächst um die Vermeidung und eine wirksame Bekämpfung
arbeitsbedingter Erkrankungen sowie die Entwicklung von Modellen zur
bedarfsgerechten betrieblichen Prävention und Gesundheitsförderung, um
Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten und zu verbessern. Dies gilt
in besonderer Weise für alters- und alternsgerechte Arbeitsbedingungen und
die Vermeidung von Risikofaktoren bei der Gestaltung von Arbeitszeiten,
aber auch für den Gesundheits- und Arbeitsschutz von Zeitarbeitnehme-
rinnen und -arbeitnehmern.

Die Bundesregierung ist aufgefordert, die Zusammenarbeit und Vernetzung
aller wichtigen Partner, wie Gewerkschaften, Arbeitgeber, Stiftungen, gesetz-
liche und private Krankenkassen, gesetzliche Rentenversicherung, gesetz-
liche Unfallversicherung und öffentliche Hand in Bund, Ländern und Kom-
munen weiter voranzutreiben, um durch die Bildung von Experten- und
Unternehmensnetzwerken praxistaugliche Lösungen für die Verbesserung
von Arbeitsbedingungen zu entwickeln.

2. In die Menschen investieren – Weiterbildung stärker fördern

Die Qualifikationsanforderungen an die Beschäftigten steigen und die le-

benslange Beschäftigung in einem Betrieb wird immer mehr zur Ausnahme.
Höhere Chancen auf längere Beschäftigung erfordern deutlich mehr Investi-

Drucksache 17/3995 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

tionen in die Fort- und Weiterbildung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer. Die Erfahrungen mit öffentlichen Programmen wie dem Sonderpro-
gramm „Weiterbildung Geringqualifizierter und beschäftigter Älterer in
Unternehmen“ (WeGebAU) sind ermutigend und müssen fortgesetzt werden.

Deshalb ist es notwendig, ein Gesamtkonzept für die Erhöhung der Beschäf-
tigungsfähigkeit des Einzelnen mit folgenden Schwerpunkten zu erarbeiten:

● Rechtsanspruch auf Weiterbildungsberatung und Weiterbildung,

● Förderung von berufsqualifizierenden Abschlüssen,

● Förderung von Anpassungsqualifizierungen.

In diesem Sinne ist die Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversiche-
rung weiterzuentwickeln.

3. Stärkung der Arbeitsmarktpolitik

Die wirtschaftliche Erholung muss zu einer stärkeren Förderung sozialversi-
cherungspflichtiger Normalarbeitsverhältnisse genutzt werden. Die stei-
gende Zahl prekärer Beschäftigungsverhältnisse muss zurückgedrängt wer-
den.

Die Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik leisten einen unverzichtba-
ren Beitrag, um insbesondere arbeitslose und arbeitsuchende Menschen bei
der Integration in den ersten Arbeitsmarkt zu unterstützen. Gerade in der der-
zeitigen Phase der wirtschaftlichen Erholung ist es geboten, alle Maßnahmen
zu intensivieren, um möglichst viele Menschen am Aufschwung teilhaben zu
lassen.

Die Bundesregierung wird deshalb aufgefordert,

● auf die geplanten Kürzungen im Eingliederungstitel des SGB II zu ver-
zichten,

● die geplante Umwidmung von Pflicht- in Ermessensleistungen zu unter-
lassen und

● besonders älteren Arbeitslosen neue Chancen in einem sozialen Arbeits-
markt mit sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zu eröffnen.

Um zu verhindern, dass ältere Langzeitarbeitslose gegen ihren Willen in eine
vorgezogene, mit Abschlägen versehene Altersrente verwiesen werden, ist
das Nachrangigkeitsprinzip des SGB II so zu verändern, dass nur eine Regel-
altersrente Vorrang gegenüber den Leistungen des SGB II hat.

Für ältere Arbeitslose ab dem vollendeten 60. Lebensjahr, die zwar leistungs-
gemindert sind, aber keinen Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente
haben, ist ein Rechtsanspruch auf eine sozialversicherungspflichtige Beschäf-
tigung durch die Bundesagentur für Arbeit zu schaffen, wenn wegen fehlen-
der Stellen keine Vermittlung auf dem ersten Arbeitsmarkt erfolgen kann.

4. Geschlechtergerechten Arbeitsmarkt herstellen

Die Gleichstellung von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt ist die
Voraussetzung für eine eigenständige und existenzsichernde Rente. Mög-
lichst ungebrochene Vollzeit- bzw. vollzeitnahe Erwerbsbiographien, glei-
cher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit, gleiche Aufstiegschancen
und eine partnerschaftliche Teilung von Erwerbsleben und familiärer Sorge
müssen zur Regel werden und dürfen nicht die Ausnahme bleiben.

Deshalb müssen mit einem Aktionsplan „Geschlechtergerechter Arbeits-

markt“ die bestehenden Ungerechtigkeiten auf dem Arbeitsmarkt beseitigt
werden. Dazu gehören die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/3995

Beruf für Frauen und Männer durch einen Rechtsanspruch auf Ganztags-
betreuung und den Ausbau von Ganztagsschulen ebenso wie familienfreund-
liche Arbeitszeiten, die Durchsetzung der Entgeltgleichheit und besserer Auf-
stiegschancen in allen Wirtschaftsbereichen.

C. Leistungsgeminderte Beschäftigte besser schützen und den Altersübergang
flexibler gestalten

Um die Voraussetzungen für eine Anhebung des Renteneintrittsalters zu schaf-
fen, sind flankierende arbeitsmarktpolitische und sozialrechtliche Regelungen
notwendig, die berücksichtigen, dass nicht alle Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer aus gesundheitlichen Gründen in der Lage sein werden, bis zum Errei-
chen der Regelaltersgrenze erwerbstätig zu sein:

1. Übergänge aus dem Erwerbsleben in die Rente sind zu flexibilisieren:

● Die durch die Bundesagentur für Arbeit geförderte Altersteilzeit ist fort-
zusetzen, auch, um mehr jungen Erwachsenen nach ihrer Berufsausbil-
dung einen gesicherten und unbefristeten Arbeitsplatz anbieten zu kön-
nen.

● Die Teilrente ist weiterzuentwickeln, indem eine „Altersrente wegen Teil-
rentenbezug“ mit dem vollendeten 60. Lebensjahr geschaffen wird, damit
parallel zur verkürzten Arbeitszeit eine Teilrente bezogen werden kann;
anfallende Abschläge sind vom Arbeitgeber auszugleichen.

● Es müssen die rechtlichen Voraussetzungen für tarifvertragliche Vereinba-
rungen geschaffen werden, die es ermöglichen, dass Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer gerade bei belastenden Tätigkeiten durch Zusatzbei-
träge Abschläge bei einer vorgezogenen Rente vermeiden können.

2. Verbesserte Absicherung des Erwerbsminderungsrisikos

Erwerbsminderung stellt ein zentrales Risiko für Altersarmut dar, da es vielen
Beschäftigten aus gesundheitlichen körperlichen Gründen nicht möglich ist,
das Renteneintrittsalter im Erwerbsleben zu erreichen.

● Um den Schutz durch Erwerbsminderungsrenten zu verbessern, sind die
Zurechnungszeiten um zwei Jahre zu verlängern, so dass eine bessere
finanzielle Absicherung erfolgt.

● Zudem ist das Erwerbsminderungsrisiko zukünftig in der betrieblichen
Altersversorgung und der geförderten Altersvorsorge obligatorisch abzu-
sichern, und zwar zu einheitlichen Konditionen für die Versicherten.

3. Vermeidung von Altersarmut

● Bis zu dem Zeitpunkt, zu dem ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn
durchgesetzt ist, sind Beitragszeiten mit geringen Anwartschaften in der
gesetzlichen Rentenversicherung im Rahmen der Rente nach Mindest-
entgeltpunkten höher zu bewerten, um zu vermeiden, dass langjährig Voll-
zeiterwerbstätige im Alter auf die Grundsicherung angewiesen sind; ge-
rade für Frauen ist dies eine wichtige rentenrechtliche Regelung.

● Zeiten der Langzeitarbeitslosigkeit müssen rentenrechtlich durch die
Bewertung innerhalb der sogenannten Gesamtleistungsbewertung besser
berücksichtigt werden.

Berlin, den 30. November 2010
Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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