BT-Drucksache 17/3719

Stand der Alphabetisierungsforschung und -förderung in Deutschland

Vom 10. November 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/3719
17. Wahlperiode 10. 11. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, Klaus
Barthel, Willi Brase, Ulla Burchardt, Petra Ernstberger, Michael Gerdes, Iris
Gleicke, Klaus Hagemann, Petra Hinz (Essen), Christel Humme, Oliver Kaczmarek,
Daniela Kolbe (Leipzig), Ute Kumpf, Katja Mast, Thomas Oppermann, Florian
Pronold, René Röspel, Marianne Schieder (Schwandorf), Swen Schulz (Spandau),
Stefan Schwartze, Andrea Wicklein, Dagmar Ziegler, Dr. Frank-Walter Steinmeier
und der Fraktion der SPD

Stand der Alphabetisierungsforschung und -förderung in Deutschland

Nach Schätzungen des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung
e. V. können in Deutschland etwa vier Millionen Menschen nicht ausreichend
lesen und schreiben. Das heißt, dass sie „die gesellschaftlichen Mindestanforde-
rungen an die Beherrschung der Schriftsprache, deren Erfüllung Voraussetzung
zur Teilnahme an schriftlicher Kommunikation in allen Arbeits- und Lebens-
bereichen ist“, unterschreiten. Das bedeutet für die Betroffenen Ausgrenzung,
vor allem auf dem Arbeitsmarkt, und einen erheblichen Verlust von Lebens-
qualität. Erst eine ausreichende Grundbildung eröffnet die Perspektive zu einer
nachhaltigen aktiven Teilhabe am gesellschaftlichen Geschehen und Wohlstand.

Die Bundesregierung hat sich zusammen mit den Akteuren der Alphabetisie-
rungsarbeit auf die nationale Umsetzung der Weltalphabetisierungsdekade
verpflichtet, die die Vereinten Nationen am 13. Februar 2003 für den Zeitraum
bis 2012 ausgerufen haben. Ziel der Dekade ist es, die Anzahl der Menschen,
die nicht ausreichend lesen und schreiben können, „(…) weltweit zu halbieren“
und jedem Menschen eine Grundbildung zu ermöglichen. Für Industrieländer
wie Deutschland bedeutet dies unter anderem, vorhandene Bildungsbenachtei-
ligungen zu erkennen und abzubauen und die Prävention und Bekämpfung von
Analphabetismus zu verbessern.

Bei einer vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten
Fachtagung im Jahr 2003 in Bernburg haben die wichtigsten Akteure der
Alphabetisierungsarbeit die „Bernburger Thesen“ verabschiedet, in denen die
entscheidenden Aufgaben der Alphabetisierungsarbeit für die darauffolgenden
Jahre definiert wurden. Zwei Jahre vor Ablauf der Weltalphabetisierungsde-
kade ist deshalb eine erste Bestandsaufnahme und eine Überprüfung der natio-
nalen Umsetzung der Ziele notwendig.
Wir fragen deshalb die Bundesregierung:

1. Von welcher Definition von Analphabetismus geht die Bundesregierung
aus?

Wie grenzt sie primären und sekundären Analphabetismus gegeneinander ab?

2. Was versteht die Bundesregierung unter funktionalen Analphabetismus?

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3. Worin sieht die Bundesregierung die wesentlichen Ursachen für die Ent-
stehung und Verfestigung der verschiedenen Formen von Analphabetis-
mus?

4. Wie viele Analphabeten gibt es aktuell in Deutschland (bitte aufgeschlüs-
selt nach Bundesländern)?

Worauf gründen diese Zahlen?

5. Haben sich diese Zahlen nach den vorliegenden Erkenntnissen der Bundes-
regierung in den letzten 30 Jahren verändert, und wenn ja, in welcher Form?

6. In welche Kategorien lassen sich die aktuellen Zahlen einteilen, was die
Ausprägung des Analphabetismus und seine Erscheinungsform angeht?

7. Wie ist die aktuelle Altersstruktur der verschiedenen Gruppen von
Analphabeten in Deutschland?

8. Wie ist die aktuelle Geschlechterstruktur der verschiedenen Gruppen von
Analphabeten in Deutschland?

9. Wie viele davon haben einen Migrationshintergrund?

10. Auf welche wissenschaftlichen Quellen und Expertisen gründet die Bundes-
regierung ihre Schätzungen, und wie belastbar sind die ermittelten oder
geschätzten Werte?

11. Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung vor über Zahlen in ande-
ren vergleichbaren europäischen Ländern?

12. Wie viele Menschen in Deutschland nehmen jährlich an Alphabetisierungs-
kursen teil (2003 bis 2009)?

Wie viele davon an Alphabetisierungen im Rahmen von Integrations-
kursen?

13. Erwartet die Bundesregierung einen Anstieg oder einen Rückgang der
Zahlen von Analphabeten in Deutschland?

14. Was können nach Erkenntnissen oder Einschätzungen der Bundesregierung
Ursachen für veränderte Zahlen in der Zukunft sein?

15. Für wie viele Menschen in Deutschland gibt es seit 2003, dem Beginn der
Weltalphabetisierungsdekade, jährlich Angebote der Grundbildung und der
Unterstützung zur Überwindung ihres Analphabetismus?

16. Gibt es dabei eine signifikante Zahl von nicht wahrgenommen Teilnehmer-
plätzen?

17. Um welches Spektrum an Maßnahmen handelt es sich?

18. Wer ist der organisatorische Träger für diese verschiedenen Maßnahmen?

19. Wer ist der finanzielle Träger für diese verschiedenen Maßnahmen?

20. Welches Finanzvolumen von der öffentlichen Seite her – aufgeteilt nach
den Ebenen Europa, Bund, Länder und Kommunen – ist insgesamt in den
Jahren seit einschließlich 2003 bis 2009 für die Förderung der Alphabeti-
sierung in Deutschland bereitgestellt worden?

21. Wie teilen sich die Mittel auf Landes- und kommunaler Ebene in den
letzten drei Jahren nach Bundesländern auf?

22. Nach welchen persönlichen Merkmalen lassen sich die Teilnehmerinnen
und Teilnehmer an diesen Kursen beschreiben (Alter, Geschlecht, Sozial-
status, Herkunft, Grad und Form des Analphabetismus)?

23. Wie sind diese Kurse zeitlich, finanziell, organisatorisch und methodisch in
der Regel für die Betroffenen angelegt?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/3719

24. In welcher Form gibt es Erfolgskriterien und Bescheinigungen einer erfolg-
reichen Teilnahme, und wie hoch ist der Umfang der erfolgreichen Kurs-
teilnahme, bzw. wie hoch wird er von einschlägigen Experten eingeschätzt?

25. Wie groß ist die Zahl der Teilnehmenden, die einen Kurs nicht beenden,
und gibt es Informationen darüber, aus welchen Gründen solche Kurse
abgebrochen werden?

26. Gibt es Wartelisten und Wartezeiten für diese Kurse?

In welchem Umfang ist ein bisher nicht befriedigter Bedarf von aktiv Inte-
ressierten erkennbar?

Gibt es Ablehnungen und Wartezeiten für interessierte Kursteilnehmerin-
nen und -teilnehmer?

27. Welche Unterschiede gibt es bezüglich Kurserfolg, Abbruchzahlen und
Abbruchgründen, Wartezeiten und Ablehnungen zwischen Alphabetisie-
rungen im Rahmen von Integrationskursen und solchen, die nicht im
Rahmen von Integrationskursen stattfinden?

28. Wie viele Personen sind in den letzten sieben Jahren über Maßnahmen der
beruflichen Eingliederung des Zweiten und Dritten Buches Sozialgesetz-
buch (SGB II und SGB III) in Alphabetisierungskurse vermittelt worden?

29. Wie teilen sich diese Personen nach den Bundesländern auf?

30. Um welche Gruppen von Personen handelt es sich hierbei?

31. Zu welchen Bedingungen ist diese Vermittlung erfolgt, und welche Auf-
lagen waren hiermit für die vermittelten Personen verbunden?

32. Ist der im SGB III vorhandene Rechtsanspruch auf das Nachholen eines
Schulabschlusses auch bei funktionalen Analphabetinnen und Analphabe-
ten zum Tragen gekommen, und in welchem Umfang?

Welche Modellprojekte sind hierfür bekannt?

33. Welche Formen und Initiativen der Onlineportale zur Alphabetisierung hat
die Bundesregierung unterstützt, in welchem Umfang, mit welcher Lauf-
zeit, und bei welchen Trägern?

34. Welche Bedeutung misst die Bundesregierung diesen Onlineportalen bei,
und wie bewertet die Bundesregierung die bisher hiermit gemachten Erfah-
rungen?

35. In welcher Form hat die Bundesregierung seit Beginn der Alphabetisie-
rungsdekade in regelmäßigen Bildungsreporten die getroffenen Alphabeti-
sierungs- und Grundbildungsmaßnahmen erfasst und die erzielten Wirkun-
gen und Erfolge evaluiert?

36. Wie haben sich die Ausgaben des Bundes für die Förderung der Alpha-
betisierung in Deutschland seit Beginn der Weltalphabetisierungsdekade
im Jahr 2003 bis heute entwickelt (Höhe der Bundesmittel jährlich von 2003
bis 2010 nach den Kategorien Forschungsmittel, allgemeine Maßnahme-
mittel und spezielle Maßnahmemittel nach dem SGB II und ggf. nach dem
SGB III)?

37. Welche einzelnen Forschungsprojekte hat die Bundesregierung seit 2003
im Bereich der Alphabetisierungsarbeit gefördert, und wann ist zu welchen
Fragestellungen mit wissenschaftsgeleiteten Ergebnissen zu rechnen?

38. Ist zur Umsetzung der nationalen Ziele der Weltalphabetisierungsdekade in
Deutschland eine zentrale bzw. eine dezentrale institutionelle Einheit mit
Service-, Beratungs- und Informationsaufgaben eingerichtet worden, und
hat sich die Bundesregierung mit öffentlichen Mitteln an ihrer Finanzie-

rung beteiligt?

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39. In welcher Form wurde das Ziel der Weltalphabetisierungsdekade in der
Qualifizierungsinitiative der Bundesregierung „Aufstieg durch Bildung“
von Januar 2008 (Bundestagsdrucksache 16/7750) berücksichtigt?

40. Wurde das Ziel der Weltalphabetisierungsdekade bei den drei Bildungs-
gipfeln der Bundeskanzlerin von 2008 bis 2010 mit berücksichtigt und wie
genau?

41. In welcher Form hat die Bundesregierung mit konkreten Maßnahmen dazu
beigetragen, die zweite der „Bernburger Thesen zur Alphabetisierung“
(kein Schüler und keine Schülerin soll die Schule ohne ausreichende Kennt-
nisse in Lesen und Schreiben verlassen) national zu erfüllen?

42. Mit welchen konkreten Maßnahmen hat die Bundesregierung dazu beigetra-
gen, die dritte der „Bernburger Thesen zur Alphabetisierung“ (Analpha-
betismus muss Pflichtthema in der Lehrerausbildung werden) in Deutsch-
land zusammen mit den Ländern zu verwirklichen?

43. Inwieweit hat die Bundesregierung dazu beigetragen, die vierte der
„Bernburger Thesen zur Alphabetisierung“ (flächendeckendes und nach-
fragegerechtes Angebot an Alphabetisierungskursen in Weiterbildungs-
einrichtungen schaffen) zu verwirklichen?

44. Wie hat die Bundesregierung daran mitgewirkt, die fünfte der „Bernburger
Thesen zur Alphabetisierung“ (Berufsbild des Alphabetisierungs- und
Grundbildungspädagogen muss institutionalisiert werden) umzusetzen?

45. Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung ergriffen, um in der Öffent-
lichkeit eine Entstigmatisierung des Analphabetismus zu erreichen?

46. Welche Maßnahmen der Medienwerbung, z. B. über die Fernseh- und
Rundfunkanstalten, der allgemeinen Öffentlichkeitsarbeit bzw. der ziel-
gruppenorientierten Beratung hat die Bundesregierung ergriffen bzw. wer-
den von ihr unterstützt, um Analphabeten über die vorhandenen Angebote
aufzuklären und zu informieren und zur Teilnahme an Alphabetisierungs-
kursen zu bewegen?

47. Welche Bedeutung hat das Ziel der Weltalphabetisierungsdekade und des-
sen Umsetzung in Deutschland bei den drei bisherigen „Bildungsgipfeln“
der Bundeskanzlerin von 2008 bis 2010 gehabt, und in welcher Form soll
es im weiteren Prozess der Bildungskooperation von Bund und Ländern bei
den Treffen in den verbleibenden Jahren bis 2012 bearbeitet werden?

48. Welche zusätzlichen und neuen Maßnahmen plant die Bundesregierung in
den nächsten Jahren, um das Ziel der Weltalphabetisierungsdekade bis
2012 in Deutschland zu erreichen?

49. Welchen finanziellen Beitrag sieht die Bundesregierung hierfür im Haus-
haltsjahr 2011 und in der Finanzplanung bis 2013 vor?

50. Wann wird Deutschland nach Schätzungen der Bundesregierung das Ziel
der Weltalphabetisierungsdekade, die Zahl der Analphabeten zu halbieren,
auf nationaler Ebene erreichen?

51. In welcher Form und in welchem finanziellen Umfang (aus welchen Ein-
zelhaushalten) hat die Bundesregierung seit 2003 dazu beigetragen, dieses
Ziel der Halbierung auch in übrigen Teilen der Welt mit zu erreichen?

Berlin, den 10. November 2010

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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