BT-Drucksache 17/3558

Zur Situation der durch Saatgut-Verunreinigungen mit NK 603 geschädigten Landwirte

Vom 27. Oktober 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/3558
17. Wahlperiode 27. 10. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Elvira Drobinski-Weiß, Dr. Wilhelm Priesmeier, Ulrich Kelber,
Petra Crone, Petra Ernstberger, Iris Gleicke, Ute Kumpf, Thomas Oppermann,
Holger Ortel, Heinz Paula, Kerstin Tack, Waltraud Wolff (Wolmirstedt),
Dr. Frank- Walter Steinmeier und der Fraktion der SPD

Zur Situation der durch Saatgut-Verunreinigungen mit NK 603 geschädigten
Landwirte

Das Gentechnikgesetz verpflichtet zum Schutz von Mensch und Umwelt und zur
Gewährleistung der Möglichkeit zur gentechnikfreien Lebensmittelerzeugung
(§ 1 des Gentechnikgesetzes (GentG)).

So darf Saatgut, das mit nicht für den Anbau zugelassenen gentechnisch ver-
änderten Organismen (GVO) verunreinigt ist, nicht ausgesät, sondern muss
vernichtet werden. Sollte es dennoch zur Aussaat gekommen sein, werden die
Felder in der Regel umgebrochen, um das Risiko einer weiteren Verbreitung
von nicht zugelassenen GVO zu minimieren.

Die Bundesländer haben sich darauf geeinigt, bis Ende März 2010 alle Unter-
suchungsergebnisse ihrer Saatgutanalysen zu melden, um eine Aussaat von
verunreinigtem Saatgut zu verhindern. Im Fall des NK603-Mais hat das Land
Niedersachsen diese Frist nicht eingehalten.

Im April 2010 wurde bekannt, dass das niedersächsische Landesamt für Ver-
braucherschutz und Lebensmittelsicherheit LAVES bei einer Untersuchung von
Saatgut der Firma Pioneer Hi-Bred Northern Europe, welches von einem Un-
ternehmen in Buxtehude vertrieben wurde, bereits im Februar 2010 Verunreini-
gungen mit dem nicht zum Anbau zugelassenen gentechnisch veränderten Mais
NK603 festgestellt hatte. Das Saatgut wurde in Ungarn erzeugt, wo Pioneer
Versuche mit dem Gentechnik-Mais durchgeführt hatte.

Nach Auskunft der Bundesregierung (Bundestagsdrucksache 17/2511) mit
Stand vom 8. Juli 2010 war in Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg,
Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz das
verunreinigte Saatgut bereits auf fast 2 000 Hektar ausgebracht worden. Die
Landesregierungen ordneten die Beseitigung an und forderten die betroffenen
Landwirte auf, ihre Flächen innerhalb einer Woche umzubrechen und Auskunft
über Herkunft, Menge, Aussaat, Flächen und etwaiges Restsaatgut zu geben.
Den 228 betroffenen Landwirten sind durch den Umbruch ihrer Maisfelder,
Ernteausfall, Neuansaat, Düngemittel, Pflanzenschutz u. Ä. enorme Kosten ent-
standen (bis zu 2 000 Euro pro Hektar). Bis heute sind sie dafür nicht entschädigt
worden. Die Firma Pioneer Hi-Bred Northern Europe als Verursacherin der Ver-
unreinigung verweigert Schadenersatz und sieht die Landesbehörden in der
Pflicht:

Drucksache 17/3558 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

„Allein aus Gründen der verspäteten Mitteilung der Niedersächsischen Be-
hörden haben diese den Schaden verursacht und sind aus unserer Sicht
gehalten, den Schaden zu regulieren.“ (Schreiben vom 22. Juni 2010 an Ver-
triebspartner und Landwirte).

Die Firma Pioneer Hi-Bred Northern Europe erklärt einen Rechtsstreit gegen
das Land Niedersachsen führen zu wollen, welches wegen „fehlerhaften Probe-
nahmen und der verspäteten Ergebnismitteilung als Schadensverursacher und
Ersatzpflichtiger“ gesehen werde (Pressemitteilung des Landvolk Nieder-
sachsen – Landesbauernverband e. V. vom 30. Juni 2010). Statt Schadenersatz-
zahlungen werden den betroffenen Landwirten zinslose Darlehen angeboten.
Zudem ist diese „freiwillige Soforthilfe“ verknüpft mit der Bedingung zur Mit-
wirkung der Landwirte an der Einleitung eines „Amtshaftungsverfahrens“
gegen das Land Niedersachsen, d. h. sie müssen mit einer Unterschrift ihr
Interesse an der Durchführung eines Musterverfahrens erklären.

Das Angebot von Darlehen in Höhe von 1 182 bis 1 500 Euro pro Hektar wird
Anfang September 2010 auf 1 800 Euro pro Hektar erhöht. Dies ist weder aus-
reichend in Hinsicht auf die Höhe des Schadens noch kann hingenommen
werden, dass statt Schadenersatz Darlehen angeboten werden, die abhängig
vom Ausgang eines gerichtlichen Musterverfahrens von den Landwirten zu-
rückgezahlt werden müssen. Deshalb kritisiert der Deutsche Bauernverband
e. V. dies als „Lösungsvorschlag mit Pferdefuß“. Das Angebot des Verbandes,
dass die betroffenen Landwirte im Gegenzug zu einer Schadenersatzleistung
der Firma Pioneer ihre möglichen Ansprüche gegenüber den Landesbehörden
abtreten würden, ist von der Firma Pioneer abgelehnt worden.

Die im Gentechnikgesetz festgeschriebene Haftungsregelung verpflichtet die
Verursacher von Verunreinigungen mit gentechnisch veränderten Organismen
zum Ersatz des für die Betroffenen entstandenen wirtschaftlichen Verlustes.
Aber bis heute warten die betroffenen Landwirte auf ihre Entschädigung.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass es ein wichtiges Anliegen
des Gesetzgebers ist, mit der Haftungsregelung im Gentechnikgesetz für
einen schnellen und unbürokratischen Schadensausgleich zwischen Ver-
ursacher und Geschädigten zu sorgen und Geschädigten langwierige und
kostenintensive Gerichtsverfahren möglichst zu ersparen?

Welche Möglichkeit sieht die Bundesregierung, für mehr Klarheit zu sorgen,
um einen wirklich schnellen und unkomplizierten Schadensausgleich zu
erreichen?

2. Wie bewertet die Bundesregierung das Risiko, dass ein nicht erfolgter
Schadensausgleich für die betroffenen Landwirte zur Existenzbedrohung
werden kann?

Ist dies nach Auffassung der Bundesregierung mit dem Koexistenzgrundsatz
bzw. der im § 1 GentG als Zweck des Gesetzes genannten Gewährleistung
der Möglichkeit zur gentechnikfreien Lebensmittelerzeugung vereinbar?

3. Wie bewertet die Bundesregierung die Weigerung der Firma Pioneer, den
betroffenen Landwirten Schadenersatz zu leisten?

Wer ist nach Einschätzung der Bundesregierung Verursacher des Schadens?

4. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über den aktuellen Stand der
Auseinandersetzung zwischen betroffenen Landwirten und der Firma
Pioneer?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/3558

5. Welche Argumente sprechen für bzw. gegen eine Mitschuld der nieder-
sächsischen Landesbehörden, und welche Konsequenzen könnten sich
daraus für die betroffenen Landwirte ergeben?

6. Wie bewertet die Bundesregierung, vor dem Hintergrund der großen öffent-
lichen Empörung über solche GVO-Verunreinigungsfälle, die von der
Firma Pioneer und anderen Saatgutunternehmen erhobene Forderung nach
einem Toleranzwert von 0,1 Prozent auch für nicht in der EU zugelassene
GVO im Saatgut?

7. Welcher Toleranzwert gilt bei herkömmlichem und bei ökologischem Saat-
gut für das Vorhandensein von fremden, nicht gentechnisch veränderten
Anteilen?

8. Wird sich die Bundesregierung für einen solchen Toleranzwert auf EU-
Ebene einsetzen?

Wenn ja, warum?

Wenn nein, warum nicht?

9. Wie schätzt die Bundesregierung die Gefahr ein, dass nach der Einführung
solcher Toleranzwerte im Laufe der Zeit Überschreitungen dieser Toleranz-
werte von den Anbietern wiederum genutzt werden, neue, noch höhere
Toleranzwerte einzufordern usw.?

Wie verträgt sich dies mit dem Vorsorgeprinzip, Schutzgedanken und Ko-
existenzgrundsatz?

10. Sind solche Verunreinigungsfälle nach Einschätzung der Bundesregierung
Resultat eines nachlässigen Umgangs bei der Trennung, oder sind sie als
Beweis zu werten, dass Koexistenz zwischen gentechnikfreier Produktion
und Einsatz gentechnisch veränderter Pflanzen nicht möglich ist?

Welcher Handlungsbedarf ergibt sich daraus?

11. Wie schätzt die Bundesregierung die Argumentation der Firma Pioneer ein,
dass ein Schadenersatz an die Landwirte ohne entsprechendes Gerichts-
urteil nicht gezahlt werden könne, weil sonst kein Amtshaftungsverfahren
gegen das Land Niedersachsen initiiert werden könne und somit unter Um-
ständen Schadenersatzansprüche gegenüber dem Land Niedersachsen ver-
loren gehen würden?

Welche rechtliche Grundlage gibt es für diese Befürchtungen der Firma
Pioneer?

Berlin, den 27. Oktober 2010

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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