BT-Drucksache 17/3551

Deutsche Beteiligung an EUJUST LEX

Vom 26. Oktober 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/3551
17. Wahlperiode 26. 10. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Annette Groth, Heike Hänsel, Inge Höger,
Andrej Hunko, Ulla Jelpke, Harald Koch, Niema Movassat, Petra Pau und der
Fraktion DIE LINKE.

Deutsche Beteiligung an EUJUST LEX

In der Nacht vom 19. auf den 20. März 2003 begann die „Koalition der
Willigen“ unter Führung der USA einen Angriffskrieg gegen den Irak. Als
Begründung wurde angeführt, der Irak verfüge über Massenvernichtungs-
waffen und unterstütze die Terrorgruppe „Al Kaida“, weshalb von ihm eine
unmittelbare Bedrohung für die USA und ihre Verbündeten ausginge. Diese
Behauptungen sind mittlerweile zweifelsfrei widerlegt. Der Angriffskrieg fand
zudem ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrates statt und war damit völker-
rechtswidrig.

Die damalige rot-grüne Bundesregierung lehnte seinerzeit eine unmittelbare
militärische Beteiligung ab, die hingegen insbesondere von Seiten der CDU,
darunter auch Dr. Angela Merkel, gefordert wurde. Dennoch unterstützte die
Bundesregierung die „Koalition der Willigen“ beim völkerrechtswidrigen An-
griffskrieg auf vielfältige Weise: Sie gewährte Großbritannien und den USA um-
fangreiche Überflugs- und Transitrechte, entsandte Fuchs-Spürpanzer und über
200 Soldaten der Bundeswehr nach Kuwait und AWACS-Aufklärungsflugzeuge
(AWACS: Airborne Warning and Control System) ins türkisch-irakische Grenz-
gebiet. Das Bundesverfassungsgericht erklärte die Beteiligung deutscher Sol-
daten am AWACS-Einsatz ohne entsprechenden Beschluss des Deutschen Bun-
destages in seiner Entscheidung vom 7. Mai 2008 für verfassungswidrig. Die
Präsenz von Angehörigen der Grenzschutzgruppe 9 (GSG 9) im Irak wurde erst
im April 2004 öffentlich, nachdem zwei Angehörige der GSG 9 im Irak ums Le-
ben gekommen waren. Im Januar 2006 wurde zudem bekannt, dass Mitarbeiter
des Bundesnachrichtendienstes in Bagdad militärisch relevante Informationen
an die US-Streitkräfte weitergaben. Diesen, sowie in deren Auftrag handelnden
Privaten „Sicherheitsfirmen“, wurden mittlerweile zahlreiche schwere Men-
schenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen nachgewiesen.

Bereits am 9. April 2003 hatten die US-Streitkräfte die irakische Hauptstadt
Bagdad erobert. Am 6. Mai 2003 wurde Lewis Paul Bremer vom US-Präsi-
denten George W. Bush zum „Zivilverwalter“ des Irak ernannt. Dieser schuf im
Juli 2003 einen provisorischen Regierungsrat, der jedoch gegenüber dem Zi-

vilverwalter kaum Kompetenzen besaß. In Abstimmung mit diesem und dem
UN-Sondergesandten Lakhdar Brahimi ernannte Lewis Paul Bremer im Juni
2004 eine Übergangsregierung, die bis zum 30. Januar 2005 die ersten Wahlen
seit Beginn des Krieges vorbereiten sollten. Nur etwa ein Drittel der wahl-
berechtigten Iraker ließen sich für diese Wahl registrieren und die Wahlbetei-
ligung unter diesen lag unter 60 Prozent. Erste Wahlen zum Parlament fanden
im Dezember 2005 statt, zuvor war eine stark föderal geprägte Verfassung ver-

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abschiedet worden. Im März 2010 fanden erneut Parlamentswahlen statt, in
deren Folge es bis zum heutigen Tage nicht gelungen ist, eine Regierung zu
bilden. Die Schwäche des Zentralstaates droht die Tendenz zur Desintegration
durch die weitgehend autonomen Provinzen weiter zu stärken.

Nach der militärischen Zerschlagung des Baath-Regimes entstanden zahlreiche
konfessionell bzw. ethnisch orientierte Milizen: zum einen die der irakischen
Verbündeten, die heute die Regierung stellen, zum anderen sunnitische und
schiitische Extremisten, die die Besatzungskräfte zum Teil mit terroristischen
Mitteln bekämpfen und auch gewaltsam gegen die Angehörigen anderer Kon-
fessionen vorgehen. Daneben gibt es einen zivilen und militärischen Wider-
stand, der sich gegen die US-amerikanischen Pläne wehrt und das von der
Besatzungsmacht geschaffene politische System nach wie vor ablehnt. Die
Sicherheitslage im Land haben die US-geführten Streitkräfte bis heute nicht in
den Griff bekommen. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen
(UNHCR) geht bis heute von 1,55 Millionen Binnenflüchtlingen und weiteren
1,7 Millionen Flüchtlingen in den Nachbarstaaten aus. Selbst die Bundesregie-
rung räumt ein, dass sich die Lage der Frauen im Irak „in den vergangenen Jah-
ren verschlechtert“ (Bundestagsdrucksache 17/1891) hat. Selbst nach Angaben
der irakischen Regierung leben 31 Prozent der Menschen unter der Armuts-
grenze, nach Angaben des UNICEF sterben 42 von 1 000 Kindern in ihrem ers-
ten Lebensjahr. Weite Teile des Iraks sind durch die Verwendung uranumman-
telter Geschosse durch die Koalitionstruppen radioaktiv belastet. Schätzungen
gehen davon aus, dass über eine Million Menschen bei Gefechten, Anschlägen
und durch die Folgen des Krieges seit März 2003 ihr Leben verloren haben.

Nach Angaben der Bundesregierung „konzentriert sich … die bisherige deutsche
Hilfe auf Aus- und Fortbildung von Richtern, Staatsanwälten und Mitarbeitern
der irakischen Menschenrechtsinstitutionen sowie auf Beratungsleistungen zu
verfassungsrechtlichen Fragen und beim Aufbau juristischer Ausbildungs-
einrichtungen“ (Bundestagsdrucksache 17/1891). Ein weiterer Schwerpunkt
liegt demnach auf der Förderung der „traditionell engen Wirtschaftskontakte
zwischen Deutschland und Irak“.

Darüber hinaus beteiligt sich Deutschland an der EU-Mission EUJUST LEX
Irak, deren Ziel darin besteht, „die irakische Polizei und andere Akteure im
Justizbereich bei der Durchsetzung rechtsstaatlicher Prinzipien zu unter-
stützen“. Seit Beginn der Mission im Juli 2005 wurden nach Angaben der EU
3 520 Richter, Untersuchungsrichter, leitende Polizeibeamte und Strafvollzugs-
beamte in 128 Lehrgängen ausgebildet. Die Lehrgänge fanden in verschiedenen
Mitgliedstaaten der Europäischen Union statt und wurden von Brüssel aus
koordiniert. Das Budget der Mission umfasste von Beginn bis Ende Juni 2010
insgesamt 40 Mio. Euro. Im Juni 2010 wurde die Mission erneut um zwei Jahre
verlängert, wobei allein für die ersten zwölf Monate 17 Mio. Euro bereitgestellt
wurden. Die drastische Erhöhung des Budgets erklärt sich vor allem daraus,
dass die Mission zukünftig verstärkt im Irak selbst aktiv sein wird. Bislang wer-
den die Tätigkeiten der Mission im Irak von der britischen Botschaft in Bagdad
aus koordiniert, zukünftig ist jedoch die Einrichtung von weiteren regionalen
Stützpunkten in Erbil, Basra und Amman (Jordanien) vorgesehen. Innerhalb
des Irak fanden bis September 2010 25 Trainingsmaßnahmen mit 842 Teilneh-
mern statt. Zum Leiter der Mission wurde Colonel Francisco Díaz Alcantud
von der spanischen Guardia Civil ernannt, der zuvor im Hauptquartier der Euro-
pean Gendarmerie Force beschäftigt war.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/3551

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Ist der Irak nach Auffassung der Bundesregierung völkerrechtlich als
besetztes Gebiet zu werten?

Wann hat der Irak ansonsten diesen Status nach Auffassung der Bundes-
regierung überwunden, und welche Verpflichtungen ergeben sich aus
diesem Status nach Auffassung der Bundesregierung für die Besatzungs-
mächte?

2. Wann und weshalb rückte die Bundesregierung von der Auffassung ab,
ein europäisches Engagement im Irak nach dem völkerrechtswidrigen
Krieg von 2003 sei geeignet, diesen nachträglich zu legitimieren?

3. Aus welchen Gründen sprach sich die Bundesregierung zunächst dafür aus,
die Maßnahmen im Rahmen von EUJUST LEX zunächst außerhalb des
Irak durchzuführen, und weshalb hat sie nun einer Schwerpunktverlage-
rung dieser Maßnahmen in den Irak zugestimmt?

4. Ist nach Auffassung der Bundesregierung davon auszugehen, dass mit der
Ausweitung der Maßnahmen im Rahmen von EUJUST LEX in den Irak
auch die Polizeiausbildung stärker in den Mittelpunkt der Mission rücken
wird?

5. Zu welchen Gelegenheiten und in welchem Umfang wurde der Deutsche
Bundestag über die Arbeit der EUJUST LEX-Mission informiert?

6. Welche Kosten hat die Mission EUJUST LEX bisher für den Bundes-
haushalt verursacht?

7. Wie und durch wen wurden die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Lehr-
gänge ausgewählt, die im Rahmen von EUJUST LEX bislang in Europa
stattgefunden haben?

8. Wie beurteilt die Bundesregierung die Einschätzung Guido Steinbergs,
wonach die Polizei im Irak eine schiitisch dominierte „Bürgerkriegspartei
[ist], die noch dazu in verschiedene Milizen zerfiel“ (Guido Steinberg, in:
SWP-Studie 2009/S. 32)?

9. Wie viele der Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Lehrgänge, die im Rah-
men von EUJUST LEX bislang in Europa stattgefunden haben, taten dies
im Rahmen ihrer Fort- oder Ausbildung als

a) Richter,

b) Polizisten oder

c) Strafvollzugsbeamte?

10. Wie und durch wen wurden die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Lehr-
gänge ausgewählt, die im Rahmen von EUJUST LEX bislang im Irak statt-
gefunden haben?

11. Auf Grundlage welchen Rechtssystems und welcher Polizeikonzeption
erfolgt die Ausbildung?

12. Wie viele der Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Lehrgänge, die im Rah-
men von EUJUST LEX bislang im Irak stattgefunden haben, taten dies im
Rahmen ihrer Fort- oder Ausbildung als

a) Richter,

b) Polizisten oder

c) Strafvollzugsbeamte?

Drucksache 17/3551 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

13. Wie viele der Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Lehrgänge, die im
Rahmen von EUJUST LEX bislang in Europa stattgefunden haben, arbei-
ten gegenwärtig als

a) Richter,

b) Polizisten oder

c) Strafvollzugsbeamte im Irak?

14. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Einhaltung der
Menschenrechte durch diejenigen Teilnehmer und Teilnehmerinnen, die an
den Lehrgängen im Rahmen von EUJUST LEX teilgenommen haben und
seitdem als Richter, Polizisten oder Strafvollzugsbeamte im Irak tätig sind
oder waren?

15. Wie viele Teilnehmer der Lehrgänge, die im Rahmen von EUJUST LEX
bislang in Europa stattgefunden haben, waren Frauen, und haben auch
Lehrgänge stattgefunden, an denen keine Frauen aus dem Irak teilgenom-
men haben?

Wenn ja, wann und wo?

16. In welchen EU-Mitgliedstaaten haben bisher an welchen Einrichtungen
wie viele Lehrgänge für welches Zielpublikum stattgefunden, und welche
europäischen oder nationalen Einrichtungen waren dabei jeweils feder-
führend und beteiligt?

17. Haben bereits Lehrgänge oder Veranstaltungen im Rahmen von EUJUST
LEX außerhalb der EU und des Irak stattgefunden, und wenn ja, wann und
wo?

18. Welchen Aufenthaltsstatus hatten die irakischen Staatsbürger während sie
an Lehrgängen im Rahmen von EUJUST LEX teilgenommen haben, und
konnten sie sich während dieser Zeit frei im Schengen-Raum bewegen?

19. Welche Lehrgänge oder Veranstaltungen im Rahmen von EUJUST LEX
fanden wann und wo bislang in Deutschland statt?

20. Welchen Aufenthaltsstatus hatten die irakischen Staatsbürger während sie
an Lehrgängen im Rahmen von EUJUST LEX in Deutschland teilgenom-
men haben, und konnten sie sich während dieser Zeit frei in Deutschland
bewegen?

21. Wie waren Angehörige von Eurojust, Europol, Frontex, OLAF oder ande-
ren Einrichtungen der EU in die Vorbereitung und Durchführung der
Mission eingebunden?

22. Waren Angehörige von Eurojust, Europol, Frontex, OLAF oder anderen
Einrichtungen der EU bislang an Lehrgängen oder Veranstaltungen im
Rahmen von EUJUST LEX beteiligt?

23. Welche Rolle spielt EUJUST LEX innerhalb der „Kapazitäten zur zivilen
Konfliktlösung“, wie sie von der EU seit 2000 aufgebaut werden?

24. Wie ist das Committee for Civilian Aspects of Crisis Management in die
Planung, Durchführung oder Auswertung von EUJUST LEX involviert?

25. An welcher Stelle werden die Erfahrungen von EUJUST LEX in Deutsch-
land und auf EU-Ebene ausgewertet, und wer erhält hierzu Berichte?

26. Welche deutschen Institutionen waren bislang an Lehrgängen oder Ver-
anstaltungen im Rahmen von EUJUST LEX beteiligt?

27. Gab es im Rahmen von EUJUST LEX auch gemeinsame Übungen von

irakischen und nationalen Polizei- und/oder Justizbehörden der EU-Mit-
gliedstaaten?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/3551

28. Welche bilateralen Beiträge hat Deutschland bislang für die Mission
EUJUST LEX bereitgestellt, und welche Beiträge anderer EU-Mitglied-
staaten sind der Bundesregierung bekannt (bitte nach Jahren auflisten)?

29. Welche Sachleistungen hat die Bundesrepublik Deutschland bislang für
Lehrgänge oder Veranstaltungen im Rahmen von EUJUST LEX erbracht?

30. Welche Strukturen und Einrichtungen der European Gendarmerie Force
wurden bislang im Rahmen von EUJUST LEX genutzt?

31. Wie viele Beamte aus welchen Mitgliedstaaten wurden bislang im Rahmen
von EUJUST LEX eingesetzt?

32. Wie viele Mitarbeiter beschäftigt EUJUST LEX als Vertragsarbeitnehmer?

33. Wie viele deutsche Staatsbürger wurden bislang von der Mission EUJUST
LEX beschäftigt, und in welchen Institutionen waren diese zuvor tätig?

34. Wie viele (vorige) Mitglieder der European Gendarmerie Force wurden
bislang im Rahmen von EUJUST LEX eingesetzt?

35. Wie viel Personal soll zukünftig im Rahmen von EUJUST LEX innerhalb
des Irak eingesetzt werden?

Wie viele davon sollen von den Mitgliedstaaten entsandt und wie viele von
ihnen auf Vertragsbasis angestellt werden?

36. Wie wurden bislang die Richterinnen und Richter und Rechtsexpertinnen
und Rechtsexperten für den Einsatz im Rahmen von EUJUST LEX ausge-
wählt?

37. Wie werden die Richterinnen und Richter und Rechtsexpertinnen und
Rechtsexperten ausgewählt, die künftig im Irak im Rahmen von EUJUST
LEX beschäftigt werden sollen?

38. Wie viele deutsche Ausbilder sollen in den Irak entsendet werden (bitte
nach Justiz, Polizei und Strafvollzug auflisten), und wie beurteilt die
Bundesregierung die Sicherheitslage für die deutschen Ausbilder im Irak?

39. Ist der Bundesregierung bekannt, wie viele Todesurteile im Irak seit 2004
vollstreckt wurden, und wie beurteilt dies die Bundesregierung vor dem
Hintergrund, dass „fast alle Richter Iraks das Programm [EUJUST LEX]
durchlaufen haben“ (Guido Steinberg, a. a. O.)?

40. Ist der Bundesregierung bekannt, wie viele Todesurteile im Irak seit 2004
von Richtern verhängt wurden, die das EUJUST LEX-Programm durch-
laufen haben?

41. Welche Informationen liegen der Bundesregierung über Geheimgefäng-
nisse im Irak vor, und ist nach Ansicht der Bundesregierung weiterhin von
der Existenz solcher Geheimgefängnisse im Irak auszugehen?

Berlin, den 26. Oktober 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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