BT-Drucksache 17/3544

Mehr Flexibilität und Transparenz bei der Pandemiebekämpfung

Vom 27. Oktober 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/3544
17. Wahlperiode 27. 10. 2010

Antrag
der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Elisabeth Scharfenberg,
Maria Klein-Schmeink, Fritz Kuhn, Alexander Bonde und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Mehr Flexibilität und Transparenz bei der Pandemiebekämpfung

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die sogenannte Schweinegrippenpandemie (A(H1N1)2009) hat deutliche Defi-
zite in der nationalen Pandemieplanung erkennen lassen. Die nationalen Pande-
miepläne gehen von einem Worst-Case-Szenario aus und lassen ein flexibles Re-
agieren je nach Gefährlichkeit des Erregers nicht zu. Die strikte Bindung an die
von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ausgerufenen Pandemiestufen hat
sich als nicht zielführend erwiesen, da sich diese Warnstufen nur an der Ausbrei-
tung des Erregers und nicht an dessen Gefährlichkeit und der Schwere der dro-
henden Erkrankung orientieren.

Besonderer Handlungsbedarf besteht im Hinblick auf die nationale Beschaffung
von Pandemieimpfstoffen. Die Beschaffung dieser Impfstoffe muss nicht nur ver-
hältnismäßig sein zur Schwere der drohenden Erkrankung, sondern sich auch
strikt an sachbezogenen Kriterien, wie Wirksamkeit und Nebenwirkungen des
Impfstoffes, aber auch der allgemeinen Vertragsgestaltung, wie beispielsweise
Lieferzusagen der Hersteller, und dem Kaufpreis orientieren. Dabei hat es sich als
kontraproduktiv erwiesen, nur mit wenigen Impfstoffherstellern zu verhandeln.
Auch zeigte sich, dass ein Mangel an unabhängigen Studien zur Überprüfung von
Wirksamkeit und Risiken der Pandemieimpfstoffe und antiviralen Mitteln be-
steht. Aufgrund des Fehlens von Studienregistern und Veröffentlichungspflichten
für klinische Studien in der pharmazeutischen Forschung standen der Öffentlich-
keit nur wenige unabhängige Informationen über die angebotenen Impfungen
und Virostatika zur Verfügung.

Transparenz ist eine unerlässliche Voraussetzung dafür, dass die gefundenen
Entscheidungen im Zusammenhang mit der Pandemievorsorge nicht interessen-
geleitet sind. Dazu gehört auch die transparente Besetzung von Beratergremien
auf nationaler und internationaler Ebene mit unabhängigen Expertinnen und Ex-
perten, die keine wirtschaftlichen Verbindungen zur pharmazeutischen Industrie
haben. Auch die Tatsache, dass die mit Impfstoffherstellern geschlossenen Ver-

träge bislang nicht offengelegt wurden, ist nicht zu akzeptieren.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

– die nationalen Pandemiepläne dahingehend zu flexibilisieren, dass eine
angepasste Reaktion je nach Ausbreitung und Gefährlichkeit des Erregers
möglich ist;

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– sich bei der Weltgesundheitsorganisation dafür einzusetzen, dass deren Pan-
demiewarnstufen zukünftig auch die Gefährlichkeit des Erregers bzw. die
Schwere der ausgelösten Erkrankung berücksichtigen;

– die Produktion und den Kauf von Impfstoffen von den Pandemiewarnstufen
der WHO abzukoppeln;

– beim Kauf von Pandemieimpfstoffen Verhandlungen mit allen Anbietern zu
führen und die Entscheidung für den Kauf ausschließlich von objektiven und
sachbezogenen Kriterien (Wirksamkeit und Nebenwirkungsprofil der Impf-
stoffe, zugesagte Liefertermine, Preis) abhängig zu machen;

– sämtliche bereits geschlossenen und zukünftigen Verträge mit pharmazeu-
tischen Unternehmen über die Bereitstellung von Pandemieimpfstoffen
offenzulegen;

– unabhängige Studien zu Grippeimpfstoffen und antiviralen Mitteln zu för-
dern und die Ergebnisse vollständig öffentlich zugängig zu machen;

– Beratergremien auf nationaler Ebene soweit wie möglich mit unabhängigen
Experten ohne Interessenkonflikte zu besetzen und sich dafür einzusetzen,
dass dies auf europäischer und internationaler Ebene ebenfalls der Fall ist, so-
wie dafür Sorge zu tragen, dass bestehende Interessenkonflikte offengelegt
werden;

– bei den Ländern darauf hinzuwirken, dass die Distribution und Verabrei-
chung der Impfstoffe auf Länderebene nach abgestimmten Kriterien erfolgt
und insbesondere die übrigen ambulante Versorgung davon nicht beeinträch-
tigt wird.

Berlin, den 26. Oktober 2010

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Ende April 2009 gab die Weltgesundheitsorganisation eine Pandemiewarnung
heraus, weil in Mexiko ein neuer Influenzatypus aufgetreten war, der insbeson-
dere bei jungen Leuten häufig mit atypischen Lungenentzündungen einherging.
Nachdem der Erreger innerhalb weniger Wochen auch in anderen Ländern auf-
getreten war, entschloss sich die WHO Anfang Juni 2009, die höchste Alarm-
stufe auszurufen. Problematisch war dabei, dass diese Warnung sich lediglich an
der schnellen Verbreitung des Erregers orientierte, nicht an der Gefährlichkeit
des Erregers bzw. der Schwere der Erkrankung.

In der Folge begannen die meisten Staaten, Maßnahmen gegen die vermeintlich
drohende Pandemie zu ergreifen, die allgemein als Schweinegrippe bezeichnet
wurde. Dazu gehörte auch die Beschaffung von Impfstoffen und antiviralen
Medikamenten. Bund und Länder hatten bereits im Vorfeld Lieferverträge mit
den Impfstoffanbietern GlaxoSmithKline und Novartis geschlossen, die in
Deutschland Serumwerke unterhielten und zuvor Fördergelder des Bundes für
die Entwicklung eines Pandemieimpfstoffes erhalten hatten. Neben einem weit-
gehenden Haftungsausschluss enthielt der Vertrag mit dem Anbieter Glaxo-
SmithKline eine Vorfestlegung auf Lieferung eines adjuvantierten Impfstoffes
und sah keine Möglichkeit vor, die Bestellung ganz oder teilweise zu stornieren
(www.arznei-telegramm.de/Vertrag01-GSK-Bund-Laender.pdf – abgerufen am

3. September 2010).

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Obwohl erste Beobachtungen auf der Südhalbkugel zeigten, dass es sich bei dem
neuen Virus um eine vergleichsweise milde Form der Grippe handelte, ent-
schlossen sich die Bundesländer im Spätsommer 2009 zum Kauf von 50 Mil-
lionen Dosen des adjuvantierten Pandemieimpfstoffes Pandemrix im Wert von
rund 400 Mio. Euro, die bis zum März 2010 sukzessive ausgeliefert wurden. Die
Europäische Union (EU), Bund und Länder warnten zudem weiterhin vor einer
möglichen Mutation des Virus und einer Pandemie mit mehr Schwerkranken
und Toten als bislang (so beispielsweise der Präsident des Robert Koch-Instituts
Prof. Dr. Jörg Hacker in der FAZ vom 17. Oktober 2009 und in der Berliner Zei-
tung vom 23. Oktober 2009; EU-Gesundheitskommissarin Androulla Vassiliou
in der WESTDEUTSCHE ALLGEMEINE vom 2. Oktober 2009).

Dennoch verzeichneten die Länder eine eher geringe Nachfrage nach Impfun-
gen. Bedingt war dies einerseits durch den vergleichsweise harmlosen Erkran-
kungsverlauf bei der Mehrzahl der Betroffenen, andererseits auch durch eine
öffentliche Kritik an dem zuvor nur wenig getesteten Impfstoff, der von der
Europäischen Kommission in einem speziellen Schnellverfahren zugelassen
wurde. Die Distribution und Verabreichung der Impfstoffe mussten von den
Bundesländern individuell organisiert werden, was ebenfalls zu erheblichen
Problemen führte.

Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass sich nur rund 8 Prozent der
deutschen Bevölkerung impfen ließen. Aufgrund der fehlenden Stornierungs-
möglichkeit mussten die Länder im Januar 2010 mit dem Impfstoffanbieter
GlaxoSmithKline über eine Reduzierung der Bestellung verhandeln; man einigte
sich auf die Abnahme von 34 Millionen Impfdosen im Wert von 283 Mio. Euro.
Davon wurden rund 28 Millionen Dosen im Wert von 236 Mio. Euro nicht ver-
wendet. Verhandlungen mit anderen Staaten über einen Weiterverkauf scheiter-
ten. Nachdem der saisonale Impfstoff 2010/11 eine A(H1N1)2009-Komponente
enthalten wird, werden die übrig gebliebenen Impfdosen voraussichtlich ver-
fallen.

Die überschießenden Reaktionen auf die Schweinegrippe hatten ihren Grund in
einer vergleichsweise starren Pandemieplanung, die nur wenig Flexibilität zu-
ließ. Dazu gehörten die starke Abhängigkeit von den Pandemiewarnstufen der
WHO, die fehlende Abstufung der Pandemiepläne nach unterschiedlichen
Szenarien und unverständliche Vorfestlegungen beispielsweise zur Zusammen-
setzung und Lieferung eines Impfstoffes.

Die nationale Pandemieplanung ist bis dato auf ein mittelschweres Szenario aus-
gerichtet, das sich in den seltensten Fällen als passend erweisen wird. Daher
muss sie flexibilisiert und auf unterschiedliche Szenarien ausgerichtet werden.
Sinnvoll wäre beispielsweise die Orientierung an bestimmten Hauptkriterien,
wie die räumliche Ausbreitung des Virus, die Art und Geschwindigkeit der Über-
tragung und die Schwere der Erkrankung, anhand derer dann aus einem Raster
von Maßnahmen die Passenden ausgewählt und fortlaufend angepasst werden.

Ebenso unflexibel waren die Vertragsbedingungen der Impfstofflieferverträge
mit den pharmazeutischen Unternehmen ausgestaltet. Insbesondere gibt es bis-
lang keine Möglichkeit, eine einmal getätigte Impfstoffbestellung zu stornieren.
Hier waren Bund und Länder auf die Kulanz der Vertragspartner angewiesen –
mit der Folge, dass die Länder Pandemieimpfstoffe im Wert von rund 236 Mio.
Euro einlagerten, die sie höchstwahrscheinlich nicht mehr verwenden oder
weiterveräußern werden können.

Um eine entsprechende Flexibilität auch bei den Impfstoffverträgen durchzu-
setzen, bedürfen die staatlichen Stellen einer größeren Verhandlungsmacht, die
sie den pharmazeutischen Unternehmen entgegensetzen können. Es war kontra-
produktiv, sich bei der Gewährung staatlicher Fördermittel zur Entwicklung

eines Pandemieimpfstoffes gleichzeitig dazu zu verpflichten, mit den begünstig-
ten Unternehmen Lieferverträge zu schließen. Auch der Ausbau der Serum-

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werke dieser Firmen in Deutschland hat bei der Entscheidung, mit diesen Fir-
men Verträge zu schließen, offenbar eine Rolle gespielt.

Zukünftig darf sich die Entscheidung für einen Impfstoff nicht an diesen wirt-
schaftlichen Kriterien orientieren, sondern ausschließlich an Kriterien, die im
Interesse der von einer Pandemie bedrohten Bevölkerung sind. Dazu gehören in
erster Linie die Wirksamkeit und Verträglichkeit des Impfstoffes. In diesem
Zusammenhang ist es unerlässlich, dass die Studien, die einer Impfstoffzulas-
sung zugrunde liegen, vollständig veröffentlicht werden müssen. Zudem muss
unabhängige Forschung mit Pandemieimpfstoffen und auch antiviralen Mitteln
staatlich gefördert werden. Um günstige Lieferbedingen zu vereinbaren, sollten
sich die verhandelnden staatlichen Stellen auch den Wettbewerb der pharmazeu-
tischen Unternehmen untereinander zunutze machen. Dafür gilt es mit allen An-
bietern auf dem Markt zu verhandeln.

Zudem ist es im staatlichen Interesse, die bereits geschlossenen oder zukünftig
zu schließenden Impfstoffverträge mit pharmazeutischen Unternehmen öffent-
lich zu machen. Bislang ist dies nicht geschehen, obwohl die Verträge keine Ge-
schäftsgeheimnisse beinhalten, die ein Geheimhaltungsinteresse rechtfertigen
könnten.

Auch bei der Distribution und Verabreichung der Impfstoffe zeigten sich in der
A(H1N1)2009-Pandemie Probleme. Dies lag auch darin begründet, dass diese
von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich organisiert waren. Es gab weder
einheitliche Vorgaben für die Verteilung der Impfstoffe nach Abholung in den
Serumwerken noch für die Organisation der Impfung vor Ort. Auch die Ver-
gütung der impfenden Ärzte war teilweise unklar und hatte zu Verzögerungen
geführt. In einigen Bundesländern hatte dies zur Folge, dass die Verabreichung
des Pandemieimpfstoffes über ambulante Arztpraxen erfolgte, was dort nicht
nur zu einer enormen Belastung des Personals, sondern auch zu Problemen bei
der Versorgung anderer Patienten führte.

Die Flexibilisierung und Strukturierung auf nationaler Ebene muss einhergehen
mit einer Flexibilisierung der Maßnahmen auf internationaler Ebene. Dazu ge-
hört in erster Linie eine Anpassung der Pandemiewarnstufen der Weltgesund-
heitsorganisation. Bisher berücksichtigen diese nur die Ausbreitung eines Er-
regers. Seine Gefährlichkeit bzw. die Schwere der Erkrankung spielt bei der
Ausrufung der Warnstufen keine Rolle. Dies hat sich bei der A(H1N1)2009-
Pandemie als kontraproduktiv erwiesen, insbesondere weil sich viele Maßnah-
men auf nationaler Ebene ausschließlich an diesen Warnstufen orientierten.

Zudem muss die Pandemieplanung, insbesondere hinsichtlich der Impfstoff-
beschaffung, nicht (ausschließlich) an der Ausrufung dieser Warnstufen orien-
tiert werden. Vielmehr sollten fachliche Einschätzungen durch nationale und
europäische Stellen und unabhängige Beratergremien eine entscheidende Rolle
spielen.

Die Unabhängigkeit von Beratergremien ist für eine sachliche und fundierte
Einschätzung eine grundlegende Voraussetzung. Daher muss die Bundesregie-
rung bei der Besetzung solcher Gremien wie beispielsweise der Ständigen Impf-
kommission (STIKO) oder einer nationalen Pandemiekommission dafür Sorge
tragen, dass deren Mitglieder – soweit wie möglich – keine Interessenkonflikte
haben. Dies gilt auch für Beratergremien auf europäischer Ebene ebenso wie für
internationale Gremien, wie das International Health Regulations (IHR) Emer-
gency Committee der WHO, dessen Zusammensetzung während der Pandemie
nicht offengelegt wurde. Die Bundesregierung ist in der Pflicht, solchen „Ge-
heimgremien“ eine Absage zu erteilen und sich bei der WHO dafür einzusetzen,
dass die Namen der Mitglieder in Zukunft offengelegt werden.

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