BT-Drucksache 17/3427

Patientenschutz statt Lobbyismus - Keine Vorkasse in der gesetzlichen Krankenversicherung

Vom 26. Oktober 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/3427
17. Wahlperiode 26. 10. 2010

Antrag
der Abgeordneten Dr. Edgar Franke, Bärbel Bas, Petra Ernstberger, Elke Ferner,
Iris Gleicke, Angelika Graf (Rosenheim), Ute Kumpf, Dr. Karl Lauterbach,
Steffen-Claudio Lemme, Hilde Mattheis, Thomas Oppermann, Mechthild Rawert,
Dr. Carola Reimann, Ewald Schurer, Dr. Marlies Volkmer, Dr. Frank-Walter
Steinmeier und der Fraktion der SPD

Patientenschutz statt Lobbyismus – Keine Vorkasse in der gesetzlichen
Krankenversicherung

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Bundesregierung plant eine drastische Ausweitung der Kostenerstattungs-
regelungen in der gesetzlichen Krankenversicherung. Wer genug Geld im
Portemonnaie hat, um seine Arztrechnung per Vorkasse zahlen zu können, wird
in Zukunft bevorzugt behandelt werden. Damit macht die schwarz-gelbe Bun-
desregierung weiter mit ihrer unverhohlenen Lobbypolitik. Jetzt werden nach
der privaten Krankenversicherung und der Pharmaindustrie die niedergelasse-
nen Fachärzte beschenkt, die sich schon lange die Kostenerstattung gewünscht
haben. Ihr Ziel ist es, sich den Verträgen, Qualitätsanforderungen und Wirt-
schaftlichkeitsprüfungen der Krankenkassen zu entziehen. Vor allem aber lockt
die Chance, den Patientinnen und Patienten mit einer Privatrechnung direkt ins
Portemonnaie zu greifen.

Das Resultat wird eine Dreiklassenmedizin sein, bei der privat versicherte Patien-
ten erster Klasse sein sollen, gefolgt von allen gesetzlich Krankenversicherten,
die es sich leisten können, die Kostenerstattung zu wählen. Am Ende stehen
dann die „normalen“ gesetzlich Krankenversicherten, die das geringste Honorar
versprechen und deshalb z. B. mit längeren Wartezeiten rechnen müssen.

Die geplanten Änderungen belasten nicht nur die Patientinnen und Patienten
mit überhöhten Gebühren und Leistungen, die von den Krankenkassen nicht
ersetzt werden, sondern sie führen auch zu einem Bürokratieaufbau bei den
Krankenkassen und zu nicht abschätzbaren Mehrkosten, da Wirtschaftlichkeits-
prüfungen und andere Kontrollen zumindest erschwert werden.

Am Ende sind wieder einmal die gesetzlich Versicherten die Dummen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. keine Ausweitung der Kostenerstattung in der gesetzlichen Krankenver-
sicherung vorzunehmen,

2. am Sachleistungsprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung festzuhalten.

Berlin, den 26. Oktober 2010

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

Drucksache 17/3427 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Begründung

Für Patientinnen und Patienten wird die Versorgung teurer, schlechter und
ungerechter

Eine Kostenerstattung macht es für die Patientinnen und Patienten teurer, denn
sie bezahlen an den Arzt per Vorkasse dasselbe Honorar wie Privatversicherte.
Ihre gesetzliche Krankenkasse erstattet ihnen aber nur das geringere Kassen-
honorar. Die Mehrkosten müssen von den Patientinnen und Patienten aus der
eigenen Tasche gezahlt werden, obwohl sie die Sachleistung bereits mit ihrem
Krankenversicherungsbeitrag bezahlt haben. Neben der Beitragssatzsteigerung
um 0,3 Prozentpunkte zum 1. Januar 2011, den nach oben offenen Zusatzbeiträ-
gen und der alleinigen Belastung mit zukünftigen Ausgabensteigerungen wird
den Patientinnen und Patienten eine weitere einseitige und ungerechte Belas-
tung zugemutet.

Wegen der höheren Honorare, die sie im Rahmen der Kostenerstattung bekom-
men, haben Ärztinnen und Ärzte ein großes Interesse daran, dass viele ihrer
Patientinnen und Patienten per Vorkasse bezahlen. Daraus entstehen für Ärztin-
nen und Ärzte Anreize, Patientinnen und Patienten unter Druck zu setzten, die
Kostenerstattung zu wählen. Als Druckmittel eignet sich z. B. eine schnelle Ter-
minvergabe. Wer per Vorkasse zahlt wird schnell behandelt. Alle anderen
müssen sich hinten anstellen und warten. Zudem besteht die Gefahr, dass kranke
Menschen, die die Kostenerstattung gewählt haben, notwendige Arztbesuche
verschieben, weil ihnen das Geld für die Vorkasse fehlt. Das kann ihr Leiden
verlängern, verschlimmern und die Behandlung am Ende zudem noch teurer
machen.

Während die Krankenkassen bei ihren Vertragsverhandlungen mit den Kassen-
ärztlichen Vereinigungen Standards für die Qualität und die Wirtschaftlichkeit
der Behandlung festlegen können, stehen die Patientinnen und Patienten bei der
Kostenerstattung alleine da. Sie können in der Regel nicht beurteilen, ob eine
bestimmte diagnostische oder therapeutische Maßnahme erforderlich ist, ob sie
nach den Regeln der ärztlichen Kunst erbracht wurde oder ob sie wirtschaftlich
erbracht wurde. Den gesetzlichen Krankenkassen sind ebenfalls die Hände ge-
bunden, denn bei Vorkasse und Kostenerstattung entfällt die sonst mögliche
Wirtschaftlichkeitsprüfung.

Eine Konsumentensouveränität im Behandlungszimmer ist eine Illusion

Ein kranker Mensch kann über die Behandlung mit seiner Ärztin oder seinem
Arzt nicht verhandeln. Er ist darauf angewiesen, dass er schnell einen Termin
bekommt und dann richtig behandelt wird. Er soll nicht damit rechnen müssen,
unnötige Leistungen zu erhalten, weil sie der Ärztin oder dem Arzt Geld ein-
bringen. Und er soll nicht damit rechnen müssen, lange auf einen Termin war-
ten zu müssen, wenn er nicht privat versichert ist oder die Kostenerstattung ge-
wählt hat. Hinter dem von CDU/CSU und FDP gerne gemalten Bild vom
angeblich so souveränen und selbstbewussten Kunden im Sprechzimmer steckt
in Wirklichkeit ein Freibrief, um kranke Menschen schröpfen zu können.

Die Rechnung für die Vorkasse spart kein Geld

Auch das häufig angeführte Argument, dass die Rechnung für die Vorkasse zu
mehr Transparenz führen würde und die Patientinnen und Patienten sich in der
Folge sparsamer verhalten würden, geht fehl. Zum einen wäre es dazu nicht
erforderlich, das Sachleistungsprinzip in der gesetzlichen Krankenversicherung
durch die Vorkasse zu unterminieren. Denn auch bisher gibt es für Kassen-
patientinnen und -patienten schon die Möglichkeit, nach jedem Arztbesuch

oder nach Ende des Quartals eine Patientenquittung mit den abgerechneten

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/3427

Leistungen und den dafür gezahlten Honoraren zu erhalten. Das Interesse daran
ist allerdings sehr gering.

Zum anderen müsste sich ein Erfolg dieses Systems in der privaten Kranken-
versicherung beobachten lassen. Die privaten Versicherer wollen jedoch statt-
dessen lieber heute als morgen weg von dem teuren Prinzip der Vorkasse und
der Kostenerstattung, weil sich ihre Rolle dabei auf eine reine Zahlstelle be-
schränkt, ohne dass sie irgendeinen Einfluss auf die Qualität und die Wirt-
schaftlichkeit der Leistungen haben. Nicht umsonst steigen die Ausgaben der
privaten Krankenversicherungen für ambulanten Behandlung rund doppelt so
schnell wie die der gesetzlichen Krankenkassen.

Die privaten Krankenversicherungen werden mit einem neuen Geschäftsfeld
beschenkt

Die privaten Krankenversicherungen sollen nach den Plänen der Koalition der
CDU/CSU und FDP in Zukunft den Patientinnen und Patienten spezielle Zu-
satzversicherungen anbieten, damit sie sich gegen die bei der Vorkasse drohen-
den Mehrkosten absichern können. Für die privaten Versicherungen lockt ein
neues und lohnendes Geschäftsfeld. Wer schon krank ist oder Vorerkrankungen
hat, dürfte sich diese Zusatzversicherung kaum leisten können. Für die Patien-
tinnen und Patienten, die es sich leisten können, bleibt die Wahl, ob sie lieber
auf den Mehrkosten der Vorkasse sitzen bleiben oder die Zusatzversicherung
bezahlen wollen. Wer beides nicht bezahlen kann, bleibt auf der Strecke. Das
ist Lobbypolitik für Besserverdiener, bei der unsere solidarische Krankenver-
sicherung systematisch zerstört wird.

Die Ärzte tragen das Inkassorisiko

Ob die Ärztinnen und Ärzte am Ende mit der so lange ersehnten Vorkasse
glücklich werden, ist zudem offen. Denn während die Honorare von den gesetz-
lichen Krankenkassen verlässlich und sicher fließen, tragen die Ärztinnen und
Ärzte bei der Kostenerstattung selber das Inkassorisiko, wenn Patientinnen
oder Patienten nicht bezahlen. Ein höheres Ausfallrisiko bei ärmeren Patientin-
nen und Patienten wird dazu führen, dass sich noch mehr Ärztinnen und Ärzte
dort ansiedeln, wo Gutverdiener leben, während Regionen und Stadtteile mit
ärmeren Bevölkerungsgruppen zunehmend schlechter versorgt werden.

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