BT-Drucksache 17/3417

Entschädigung der Opfer der Bombardierung von Kundus in der Nacht zum 4. September 2009

Vom 26. Oktober 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/3417
17. Wahlperiode 26. 10. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Christine Buchholz, Sevim Dag˘delen, Inge Höger, Andrej Hunko,
Harald Koch, Niema Movassat, Alexander Ulrich und der Fraktion DIE LINKE.

Entschädigung der Opfer der Bombardierung von Kundus in der Nacht zum
4. September 2009

In der Nacht zum 4. September 2009 befahl der deutsche Offizier Oberst Georg
Klein den Einsatz zweier Bomben zur „Vernichtung“ einer Personengruppe, die
sich um zwei entführte Tanklastwagen rund sechs Kilometer südöstlich von
Kundus versammelt hatte.

Wie viele Opfer diese Bombardierung gekostet hat, ist seitdem umstritten. Ver-
mutlich ist die Frage nicht mehr abschließend zu klären, weil die Bundeswehr
mehrere Tage mit der Untersuchung gezögert hat. Die von General Stanley
McChrystal angeordnete NATO-Untersuchung, an der die Bundeswehr nicht
beteiligt war, geht nach Presseberichten von 17 bis 142 Toten aus. Die Bundes-
regierung beruft sich auf eine von einer angeblich unabhängigen afghanischen
Organisation (Afghanistan Independent Human Rights Commission, AIHRC)
erstellte Liste von 91 Toten und elf Verletzten. Ein deutscher Anwalt gibt an, die
Hinterbliebenen von insgesamt 138 Opfern zu vertreten, von denen er meint,
nachweisen zu können, dass sie keine Aufständischen waren.

Der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg,
hatte am 3. Dezember 2009 im Deutschen Bundestag zugegeben, dass die Bom-
bardierung militärisch „nicht angemessen“ war. Trotzdem hat die Bundesregie-
rung sich bislang geweigert, eine Entschädigungsverpflichtung anzuerkennen.
Stattdessen strebte sie freiwillige („ex gratia“) Leistungen an. In diesem Sinne
hatte der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung
Thomas Kossendey am 20. Juli 2010 angekündigt, es bestehe „die Absicht, jede
Familie unabhängig von der Anzahl und der Art der Opfer landestypisch ange-
messen zu unterstützen.“ (Ausschussdrucksache 17(12)371).

In anderen Fällen, in denen Afghanen aufgrund von Fehlern deutscher Solda-
ten gestorben sind, wurden in der Vergangenheit bis zu 33 000 US-Dollar pro
Opfer gezahlt. Diese Praxis wurde von US-Militärs gerügt. Die US-Regierung
zahlt in Afghanistan in der Regel lediglich 5 000 US-Dollar pro Opfer. Aller-
dings gäbe es „für die Abwicklung“ von Entschädigungszahlungen „wegen
Verletzung bzw. Tötung von Zivilisten“ „kein vom Bundesministerium der

Verteidigung festgelegtes Verfahren. Insofern existieren auch keine Kriterien
dafür, ob und in welcher Höhe Entschädigungen gezahlt werden.“ (Bundes-
tagsdrucksache 17/191, Fragen 24 und 25).

Am 7. Oktober 2010 teilte Thomas Kossendey schließlich den Mitgliedern des
Verteidigungsausschusses mit, dass am 31. August 2010 die „Unterstützung be-
troffener Familien abgeschlossen“ wurde. „Im Endergebnis wurden auf 70 Kon-
ten und an insgesamt 90 Familien Einzahlungen in Höhe von jeweils 5 000 US-

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Dollar geleistet.“ Dies sei „von allen Beteiligten sehr begrüßt worden“, sowohl
„Verfahren als auch Höhe der Leistungen fanden vollständige Akzeptanz.“
(Ausschussdrucksache 17(12)409).

Eine Überprüfung dieser Behauptung durch unabhängige Dritte wird allerdings
erschwert dadurch, dass die Bundesregierung eine Veröffentlichung der Opfer-
liste „zum Schutz der betroffenen Familien“ ablehnt.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie kommt die Bundesregierung zu ihrer Einschätzung, die AIHRC sei
eine „unabhängige Organisation“, und welche Kenntnis hat die Bundes-
regierung über die Verbindung der AIHRC zur afghanischen Regierung
und ihre Finanzquellen?

2. Wie hat die Bundesregierung sich vergewissert, dass die Opferliste der
AIHRC vollständig ist und keine Personen übergangen wurden?

3. Hat die Bundesregierung sichergestellt, dass auf der von der AIHRC er-
stellten Opferliste tatsächlich ausschließlich Opfer der Bombardierung
vom 4. September 2009 aufgeführt sind und dass nicht andere Personen
sich zuungunsten der tatsächlichen Opfer unberechtigt bereichern?

Falls ja, wie?

Falls nein, warum nicht?

4. Welche Unterscheidung wird in dieser Opferliste zwischen bewaffneten
und unbewaffneten Opfern, zwischen Kämpfern und Zivilisten und
zwischen Aufständischen und Unbeteiligten gemacht bzw. gibt es eine
ergänzende Liste, und wie viele Personen sind darauf gelistet?

5. Anhand welcher Kriterien und aufgrund welcher Indizien kommt die Bun-
desregierung zu der Bewertung, dass jemand als „feindlicher Kämpfer“
einzustufen ist, und in welcher Weise wird der völkerrechtliche Grundsatz
des I. Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen berücksichtigt, in dem es
heißt: Im Zweifelsfall gilt die betreffende Person als Zivilperson?

6. Wie kommt die Bundesregierung zu der Auffassung, dass es „landes-
typisch angemessen“ sei, Familien „unabhängig von der Anzahl und der
Art der Opfer“ zu entschädigen?

7. Wie stark sind, nach Erkenntnis der Bundesregierung, die Familien unter-
schiedlich betroffen (bitte aufzählen, wie viele Familien wie viele Opfer zu
beklagen hatten, mit Hinweis, wie viele der Personen im arbeitsfähigen
Alter waren)?

8. Wieso wurden für 90 Familien nur 70 Konten eingerichtet, und wie hat die
Bundesregierung sichergestellt, dass jede Familie nur den ihr zustehenden
Betrag abheben kann?

9. Über welche Bank oder Banken wurden die Zahlungen abgewickelt, und
hat die Bundesregierung sichergestellt, dass alle Familien auch trotz der
aktuellen Bankenkrise in Afghanistan auf dieses Geld zugreifen konnten
bzw. können?

10. Wie begründet die Bundesregierung ihre Einschätzung, dass 5 000 US-Dol-
lar eine landestypische Entschädigung sei?

11. Mit welcher Begründung wird nicht die in Deutschland „landestypische“
Entschädigung für Opfer staatlicher Verfehlungen gezahlt, wenn diese Ver-
fehlungen im Ausland begangen werden?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/3417

12. Hatte die Kritik an „zu hohen“ Opferentschädigungen von bis zu 33 000 US-
Dollar pro Person in der Vergangenheit, die von US-Militärstellen geäußert
wurden, Einfluss auf die Entschädigungshöhe?

13. Wie viel Geld hat die Bundesregierung insgesamt an die Opfer gezahlt, und
aus welchem Etat kommt dieses Geld?

14. Sind die Medienberichte korrekt, nach denen die Zahlungen nicht als Ent-
schädigung, sondern als „humanitäre Hilfe“ deklariert wurden, und wenn
ja, mit welcher Begründung?

15. Sieht die Bundesregierung eine rechtliche, politische oder moralische Ver-
pflichtung, die Opfer bzw. die Hinterbliebenen der Bombardierung zu ent-
schädigen?

16. Hat sich die Bundesregierung bei den Opfern der Bombardierung vom
4. September 2009 bzw. ihren Hinterbliebenen entschuldigt?

Falls ja, in welcher Form, und falls nein, warum nicht?

17. Plant die Bundesregierung, über die bereits zugesagten bzw. geleisteten
Zahlungen hinaus, weiter über Entschädigungen mit den deutschen Anwäl-
ten der Opfer bzw. der Hinterbliebenen zu verhandeln?

Wenn nicht, mit welcher Begründung lehnt sie Verhandlungen mit den
Anwälten ab?

Berlin, den 26. Oktober 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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