BT-Drucksache 17/3303

Kooperation zwischen der Europäischen Union und Libyen bzw. der Türkei in der Flüchtlingspolitik

Vom 14. Oktober 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/3303
17. Wahlperiode 14. 10. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Christine Buchholz, Wolfgang
Gehrcke, Annette Groth, Andrej Hunko, Niema Movassat, Petra Pau, Alexander
Ulrich und der Fraktion DIE LINKE.

Kooperation zwischen der Europäischen Union und Libyen bzw. der Türkei
in der Flüchtlingspolitik

Im Verwaltungsrat der EU-Grenzagentur Frontex wurde einstimmig beschlos-
sen, mit Libyen und der Türkei Verhandlungen über eine weitere Zusammenar-
beit in der Migrations- und Flüchtlingspolitik aufzunehmen. Im Mittelpunkt der
Gespräche mit Libyen steht dabei die der Abschluss eines Arbeitsabkommens
über die Bekämpfung der sogenannten illegalen Migration. „Auf Basis dieses
Arbeitsabkommens soll der Schutz der südlichen Seeaußengrenzen der EU durch
Frontex künftig auf operativer bzw. auf technischer Ebene optimiert werden. Er
dient einem zielgerichteten Kapazitätsaufbau im Aufgabenbereich des libyschen
Grenzmanagement“, erläuterte die Bundesregierung die geplante Zusammen-
arbeit (www.migrationsrecht.net).

Über Titel wie „Programm für die Zusammenarbeit mit Drittländern in den
Bereichen Migration und Asyl“ wurden dem Regime von Oberst Muammar
al-Gaddafi bereits in der Vergangenheit von der EU hohe Millionenbeiträge zur
Verfügung gestellt. Die EU und ihre Mitgliedstaaten beliefern Libyen mit Waf-
fen, Schiffen, Fahrzeugen, Leichensäcken, Geldern für Abschiebeflüge und
Haftanstalten. Das EU-Mitgliedsland Italien schiebt bereits jetzt schutzsuchende
Menschen an Libyen ab. So wurden im Mai 2009 hunderte zumeist afrikanische
Flüchtlinge, die über Libyen nach Italien geflohen waren, auf Weisung des itali-
enischen Innenministers unter Missachtung aller Flüchtlingsrechte nach Libyen
zurückgeschleppt. Nach Erkenntnissen von Menschenrechtsorganisationen wie
PRO ASYL wurden diese Flüchtlinge – ebenso wie andere zuvor in Libyen auf-
gegriffene afrikanische Flüchtlinge – sofort in Gefängnissen und Haftlagern in-
terniert. In diesen Lagern werden Flüchtlinge nach Erkenntnis von PRO ASYL
und weiteren Menschenrechtsorganisationen misshandelt, gefoltert, vergewal-
tigt und auch getötet. Flüchtlinge wurden von libyschen Sicherheitsbehörden
auch ohne Wasser und Nahrungsmittel in der Wüste ausgesetzt.

Ebenso wie Libyen vor allem für afrikanische Flüchtlinge ist die Türkei ein
Durchgangsland für Flüchtlinge vor allem aus dem Nahen Osten. Die Türkei ist
Mitunterzeichnerin der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, hält jedoch im

Unterschied zu vielen anderen Staaten weiterhin an den damals geltenden zeit-
lichen und geographischen Beschränkungen fest. Daher sieht sich die Türkei
nicht verpflichtet zur Aufnahme von Flüchtlingen aus nichteuropäischen Län-
dern. Diesen droht in der Türkei die Festnahme wegen illegaler Einreise; dauer-
haftes Asyl wird ihnen versagt. So wurden nach Berichten der türkischen Men-
schenrechtsorganisationen IHD (Menschenrechtsverein der Türkei) und TIHV
(Türkische Menschenrechtsstiftung) im Jahr 2009 23 014 Flüchtlinge und Asyl-

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suchende inhaftiert und oft monatelang in überfüllten Lagern festgehalten. Dut-
zende Flüchtlinge sterben zudem jedes Jahr bei dem Versuch der illegalen Ein-
bzw. Ausreise über türkische Grenzen. Die EU fordert von der Türkei als Be-
dingung für einen Beitritt im Bereich Migration und Asyl Reformen, deren
Hauptziel allerdings nicht das Wohl der Flüchtlinge, sondern die Abwehr „ille-
galer“ Migration nach Europa ist.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Was beinhalten die im Frontex-Verwaltungsrat mit deutscher Zustimmung
gefassten Beschlüsse bezüglich einer weiteren Zusammenarbeit mit Libyen
bzw. der Türkei?

a) Haben aufgrund dieser Beschlüsse bereits Verhandlungen mit Libyen
bzw. der Türkei stattgefunden, und wenn ja, mit welchem Ergebnis?

b) Gibt es einen Zeitplan für die weiteren Verhandlungen, und wenn ja,
welchen?

c) Wer genau nimmt von Seiten der EU bzw. Frontex an diesen Verhandlun-
gen teil, und wer von libyscher bzw. türkischer Seite?

d) Welche Inhalte werden im Einzelnen verhandelt?

2. Welche konkrete Zusammenarbeit im Bereich der Flüchtlings- und Migra-
tionspolitik gibt es bereits zwischen der EU und Libyen bzw. der Türkei (bitte
einzeln benennen)?

3. Inwieweit sind bereits Frontex-Missionen in Zusammenarbeit mit Libyen
bzw. der Türkei geplant oder durchgeführt worden?

4. Wie soll man sich die Umsetzung von Projekten zur Verbesserung des Flücht-
lingsschutzes in Libyen in den nächsten drei Jahren vorstellen, für die die
EU-Kommission 50 Mio. Euro zur Verfügung stellt, von denen aber nichts
unmittelbar an Libyen fließen soll?

a) Was ist der Bundesregierung zur voraussichtlichen Gewichtung zwischen
den verschiedenen Punkten der vereinbarten „Kooperationsagenda“
(Rückkehrförderung, Aufnahme und Betreuung von Flüchtlingen,
„Schutz“ der libyschen Außengrenzen, vgl. EUROPA-Press Releases –
Besuch der EU-Kommissare Malmström und Füle in Libyen zur Förde-
rung einer engeren Zusammenarbeit) bekannt?

b) Inwiefern kann sich die Bundesregierung einen eigenen Beitrag für das
Vorhaben vorstellen, Libyen „beim angemessenen Umgang mit Flücht-
lingen zu helfen“?

5. Stimmen Presseberichte, nach denen der italienische Freundschaftspakt mit
Libyen die Verpflichtung festschreibt, beträchtliche Teile der Mittel in Italien
zu reinvestieren und für die Installierung eines satellitengestützten Systems
zur Überwachung der libyschen Südgrenze zu nutzen?

a) Wenn ja, wer ist nach Kenntnis der Bundesregierung Lieferant des Sys-
tems, und sind auch deutsche Firmen beteiligt?

b) Welche Gebiete an der Grenze Libyens zu den Nachbarstaaten werden
mit diesem System abgedeckt?

c) Sind auch Einrichtungen der EU oder der EU-Mitgliedstaaten an dieses
System angeschlossen, wenn ja, welche, und welche Informationen kön-
nen von ihnen abgerufen werden?

6. Werden zur Kontrolle der EU-Seegrenzen im Mittelmeer, etwa in gemein-

samen italienisch-libyschen Patrouillen, auch Drohnen (UAV) eingesetzt,
und von welchen Institutionen genau werden sie betrieben?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/3303

a) Stimmen Presseberichte (www.stranieriinitalia.it), wonach die Kosten
für die Installation dieses UAV-basierten Grenzüberwachungssystems
zum großen Teil von der EU übernommen werden?

b) Hat Oberst Muammar al-Gaddafi nach Kenntnis der Bundesregierung
weitere Forderungen an die EU adressiert, die die Ausstattung mit tech-
nischer Hilfe und speziellen Ausrüstungsgegenständen sowie die Aus-
bildung von eigenem Personal an diesen Gerätschaften beinhalten?

7. Gibt es einen neuen Verhandlungsstand bezüglich des Rahmenabkommens
zwischen der EU und Libyen bezüglich der Fragen der Visum- und der
Rücknahmepolitik, und wie sieht dieser nach Kenntnis der Bundesregie-
rung konkret aus?

8. Inwieweit ist der Bundesregierung bekannt, dass Flüchtlinge bzw. Schutz-
suchende und irreguläre Migrantinnen und Migranten – wie von der Men-
schenrechtsorganisation PRO ASYL behauptet – in libyschen Lagern ge-
foltert, vergewaltigt und getötet werden?

9. Inwieweit hat die Türkei bislang die Auflagen der EU für einen EU-Beitritt
im Bereich Migration und Asyl erfüllt?

a) Inwieweit wurde eine Asylgesetzgebung erarbeitet und entspricht diese
den europäischen Standards?

b) Welche Rückführungsabkommen mit Drittländern wurden von der Tür-
kei abgeschlossen?

c) Inwieweit wurden Schritte unternommen, die in der Türkei geltenden
geographischen Beschränkungen der Genfer Konvention aufzuheben?

10. Was genau wird in der deutschen Polizeiakademie in welchem Umfang ge-
lehrt zur Frage des Umgangs mit Schutzgesuchen an oder vor den EU-
Außengrenzen, insbesondere hinsichtlich der praktischen Umsetzung der in
den Frontex-Leitlinien des Schengener Grenzkodex vorgesehenen extrater-
ritorialen Wirkung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen
Menschenrechtskonvention bei Frontex-Einsätzen auf Hoher See (bitte,
auch zu den folgenden Teilfragen, möglichst detailliert antworten)?

a) Was wird den deutschen Beamtinnen und Beamten in der Polizeiakade-
mie dazu beigebracht, wie auf Hoher See aufgegriffene oder gerettete
Personen in geeigneter Weise darüber zu informieren sind, dass sie
Gründe vorbringen können, aufgrund derer sie annehmen, dass eine
Ausschiffung an den vorgeschlagenen Ort gegen den Grundsatz der
Nichtzurückweisung verstoßen würde (in welcher Sprache, mit welchen
Hilfsmitteln, Informationsbroschüren usw.), und wie sollen sie sich ver-
halten, wenn die Personen etwa aufgrund von Sprachproblemen nicht
entsprechend informiert werden können?

b) Was wird den Beamtinnen und Beamten dazu beigebracht, welche
Gründe vorgebracht werden bzw. wie geltend gemachte Gefahren be-
schaffen sein müssen, damit sich Schutzsuchende auf Hoher See im
Rahmen von Frontex-Einsätzen auf den Grundsatz der Nichtzurückwei-
sung berufen können, und welche Kriterien gelten hierbei in Bezug auf
die Bewertung der „Glaubwürdigkeit“ von Aussagen Schutzsuchender?

c) Was wird den Beamtinnen und Beamten dazu beigebracht, ob insbeson-
dere bereits die unmissverständliche Äußerung, Asyl suchen zu wollen,
ausreicht, um ein sorgfältiges Prüfungsverfahren innerhalb der Europäi-
schen Union auf dem Festland einzuleiten, und wenn dies nicht der Fall
ist, wie sollen vorgebrachte Gründe auf Hoher See angemessen über-

prüft werden können, wenn keine ausreichende sprachliche Verständi-
gung und sorgfältige Überprüfung der Angaben möglich sind?

Drucksache 17/3303 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
d) Was wird den Beamtinnen und Beamten dazu beigebracht, welcher Mit-
gliedstaat für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig ist,
wenn bei einem Frontex-Einsatz auf Hoher See davon ausgegangen
wird, dass ein Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung
drohen könnte, bzw. welche unmittelbaren Maßnahmen in einem sol-
chen Fall ergriffen werden sollen?

e) Was wird den Beamtinnen und Beamten dazu beigebracht, wie sie sich
verhalten sollen, wenn sie im Rahmen eines Frontex-Einsatzes auf
Hoher See beobachten und/oder davon ausgehen müssen, dass Einsatz-
kräfte anderer Mitgliedstaaten gegen die Frontex-Leitlinie und insbe-
sondere gegen das Gebot der Nichtzurückweisung verstoßen?

Berlin, den 12. Oktober 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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