BT-Drucksache 17/2932

Zukunft der Medizinischen Versorgungszentren

Vom 14. September 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/2932
17. Wahlperiode 14. 09. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Mechthild Rawert, Dr. Marlies Volkmer, Bärbel Bas, Petra
Ernstberger, Elke Ferner, Dr. Edgar Franke, Iris Gleicke, Angelika Graf
(Rosenheim), Ute Kumpf, Dr. Karl Lauterbach, Steffen-Claudio Lemme,
Hilde Mattheis, Thomas Oppermann, Dr. Carola Reimann, Ewald Schurer,
Dr. Frank-Walter Steinmeier und der Fraktion der SPD

Zukunft der Medizinischen Versorgungszentren

Das deutsche Gesundheitswesen ist immer noch gekennzeichnet von einer strik-
ten Trennung zwischen der ambulanten haus- und fachärztlichen Versorgung
und der Versorgung im Krankenhaus. Dies geht oft einher mit Koordinations-,
Kommunikations- und Kooperationsdefiziten, die zu Verlusten bei der Qualität
und Wirtschaftlichkeit der Versorgung führen. Ein zukunftsfähiges Gesundheits-
wesen wird sich angesichts der demografischen Entwicklung und der Möglich-
keiten des medizinisch-technischen Fortschritts daran messen lassen müssen,
wie eine bessere fach- und sektorenübergreifende Versorgung gewährleistet
werden kann. Eine zentrale Versorgungsform an der Schnittstelle der Sektoren
ist das Medizinische Versorgungszentrum (MVZ). In einem MVZ arbeiten Ärz-
tinnen und Ärzte verschiedenster Fachgebiete eng mit nicht-ärztlichen Gesund-
heitsberufen zusammen. So soll eine koordinierte Behandlung aus einer Hand,
eine ambulante, interdisziplinäre Zusammenarbeit sowohl zwischen den ärzt-
lichen Professionen als auch den nicht-ärztlichen Heilberufen gewährleistet
werden.

Die Möglichkeit zur Einrichtung von MVZ wurde mit dem GKV-Modernisie-
rungsgesetz 2004 geschaffen. Seitdem hat die Zahl der MVZ und der dort tätigen
Ärztinnen und Ärzte rasant zugenommen. Die Erfahrungen zeigen bisher, dass
diese Versorgungsform sowohl von Patientinnen und Patienten als auch von
Ärztinnen und Ärzten sehr gut angenommen wird.

Die Vorzüge liegen u. a. in einer engen Zusammenarbeit aller an der Behandlung
Beteiligten und einer gemeinsamen Verständigung über Krankheitsverlauf, Be-
handlungsziele und Therapie. Die Bündelung medizinischer Kompetenz führt
zu einer effizienten und qualitativ besseren Therapie und Medikation, gerade
auch bei komplexeren Krankheitsbildern.

Darüber hinaus werden teure und für die Patientinnen und Patienten belastende
Doppeluntersuchungen vermieden. Verschriebene Arzneimittel werden besser
aufeinander abgestimmt. Das verbessert die Qualität der medizinischen Versor-
gung insgesamt und senkt gleichzeitig die Kosten im Gesundheitswesen. Für die
Patientinnen und Patienten hat die Versorgung „aus einer Hand“ zudem den Vor-
teil kurzer Wege und Wartezeiten. Die gemeinsame Nutzung der Verwaltung,
der Medizintechnik und technischer Einrichtungen, sowie die Koordinierung
und Konzentration der Behandlungen erschließen Wirtschaftlichkeitspotenziale.
Ärztinnen und Ärzte werden von bürokratischen Aufgaben entlastet.

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Es bleibt mehr Zeit für die medizinische Arbeit sowie eine kontinuierliche Wei-
terbildung. Durch die MVZ können junge Ärztinnen und Ärzte als Niedergelas-
sene tätig sein, ohne die ökonomischen Risiken einer Niederlassung auf sich
nehmen zu müssen. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist leichter als bis-
her möglich.

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheits-
wesen fordert in seinem Gutachten 2009, dass das vorhandene Effizienz- und
Effektivitätspotenzial in diesem Bereich besser auszuschöpfen ist. Er hebt ins-
besondere eine notwendige bessere Anbindung an den stationären Sektor hervor,
z. B. mittels Verbünden aus Krankenhäusern und MVZ, sowie Zusammen-
schlüssen aus Krankenhäusern und ambulanten Praxisgemeinschaften.

Dagegen will die Bundesregierung die Möglichkeiten für MVZ und damit für
eine sektorübergreifende Versorgung stark begrenzen. Im Koalitionsvertrag
zwischen CDU, CSU und FDP wird formuliert, dass MVZ nur noch unter be-
stimmten Voraussetzungen zugelassen werden sollen. Geschäftsanteile sollen
nur von zugelassenen Ärztinnen und Ärzten sowie Krankenhäusern für den Fall
gehalten werden, dass die Mehrheit der Geschäftsanteile und Stimmrechte Ärz-
tinnen und Ärzten zusteht und das MVZ von Ärztinnen und Ärzten verantwort-
lich geführt wird. Nur in unterversorgten Gebieten soll eine Öffnungsklausel für
Krankenhäuser vorgesehen werden, wenn keine Interessentinnen und Interes-
senten aus dem Bereich der Ärztinnen und Ärzte zur Verfügung stehen.

In einer gemeinsamen Presseerklärung mit der Bundesärztekammer vom
27. August 2010 hat der Bundesminister für Gesundheit, Dr. Philipp Rösler, an-
gekündigt, „dass die im Koalitionsvertrag angekündigte gesetzliche Neurege-
lung für Medizinische Versorgungszentren (MVZ), wonach die Mehrheit der
Geschäftsanteile und Stimmrechte Ärztinnen und Ärzten zustehen und das MVZ
von Ärztinnen und Ärzten verantwortlich geführt werden soll, schnell umgesetzt
werden soll.“

Die von der Bundesregierung geplante Einschränkung bei der Gründung von
MVZ nimmt insbesondere jungen Ärztinnen und Ärzten die Wahlmöglichkeit
zwischen einer freiberuflichen Tätigkeit in der eigenen Praxis und der Tätigkeit
im MVZ.

Des Weiteren hätte das „dienende“ Agieren der in den nicht-ärztlichen Gesund-
heits- und Pflegefachberufen Tätigen in der interdisziplinären Zusammenarbeit
ausgedient.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele MVZ wurden in den Jahren 2004 bis 2010 in der Trägerschaft von
Krankenhäusern betrieben, wie viele in der Trägerschaft von Ärztinnen und
Ärzten, wie viele in der Trägerschaft sonstiger Akteure?

Wie bewertet die Bundesregierung die zu beobachtende Entwicklung?

2. Was sind nach Auffassung der Bundesregierung tragende Gründe für die
Gründung von MVZ bei Vertragsärztinnen und Vertragsärzten, Klinikbetrei-
bern und anderen Akteuren?

Bewertet die Bundesregierung rein betriebswirtschaftliche Erwägungen wie
die Gewinnung von Synergieeffekten oder die Minderung des Verwaltungs-
aufwandes kritisch, und wie begründet sie ihre Einschätzung?

3. Wie viele Vertragsärztinnen und wie viele Vertragsärzte, jeweils nochmals
unterteilt nach Fachgruppen, arbeiteten in den Jahren 2004 bis 2010 durch-
schnittlich jeweils in einem MVZ in der Trägerschaft von Vertragsärztinnen
und Vertragsärzten, Kliniken oder anderen Akteuren?

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Wie viele Ärztinnen, wie viele Ärzte arbeiteten in MVZ jeweils im Ange-
stelltenverhältnis?

Wie bewertet die Bundesregierung die Entwicklung?

Wie ist die regionale Verteilung gestaffelt nach Bundesländern?

4. Welche Fachgruppen kooperieren am häufigsten in MVZ?

Wie beurteilt die Bundesregierung die Beteiligung von Hausärztinnen und
Hausärzten an MVZ?

5. Wie viele Angehörige der nicht-ärztlichen Gesundheitsberufe sind derzeit
bundesweit in MVZ angestellt?

Wie ist die regionale Verteilung gestaffelt nach Bundesländern?

6. Inwieweit können MVZ nach Ansicht der Bundesregierung als ein Modell
für die Ausbildung neuer Kooperationsformen zwischen Medizinerinnen
und Medizinern und nicht-ärztlichen Gesundheitsberufen gesehen werden?

7. Welcher Anteil der MVZ unter welcher Trägerschaft befindet sich in städti-
schen, welcher in ländlichen Regionen?

Gibt es Unterschiede zwischen den Bundesländern?

Welche Schlüsse zieht die Bundesregierung aus der Verteilung?

8. Wie bewertet die Bundesregierung Äußerungen des Geschäftsführers der
Deutschen Krankenhausgesellschaft e. V., wonach Medizinische Versor-
gungszentren in der Trägerschaft von Krankenhäusern in vielen Regionen
dringend notwendig seien, um die ambulante Versorgung auch in Zukunft
zu sichern?

9. Wie will die Bundesregierung die schon heute bestehenden und künftig grö-
ßer werdenden Versorgungslücken im niedergelassenen Bereich schließen,
wenn gleichzeitig die Gründung von MVZ erschwert wird?

10. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung, wie sich die Arbeitsweise
und der Behandlungserfolg von freiberuflich tätigen Ärztinnen und Ärzten
im Vergleich zu fest an MVZ angestellten Ärztinnen und Ärzten unterschei-
den?

11. Liegen der Bundesregierung Erkenntnisse vor, dass die Qualität der Versor-
gung in einem MVZ, das mehrheitlich in der Eigentümerschaft von Ärztin-
nen und Ärzten betrieben wird, besser ist als in einem MVZ eines Kranken-
hausträgers, und falls ja, welche?

12. Welche konkreten Erkenntnisse hat die Bundesregierung darüber, wie bei
angestellten Ärztinnen und Ärzten in Krankenhäusern oder MVZ die The-
rapiefreiheit eingeschränkt wird?

Wenn ja, durch wen?

13. Welche Gefahren sieht die Bundesregierung, dass Krankenhäuser mittels
Medizinischer Versorgungszentren freiberufliche Ärztinnen und Ärzte ver-
drängen könnten?

14. Welche Hinweise gibt es in der Bundesregierung auf die mögliche Einfluss-
nahme von Kapitalgebern auf die Geschäftsführung und die Versorgung von
Patienten und Patientinnen in MVZ?

15. Wie begründet die Bundesregierung auch unter verfassungsrechtlichen Ge-
sichtspunkten, dass nach der geplanten Neuregelung hohe Investitionen in
MVZ von Personen zulässig sind, die über die Eigenschaft verfügen, Arzt

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oder Ärztin zu sein, auch wenn diese sich an der Leitung und/oder der
Tätigkeit im MVZ nicht beteiligen, während die gleiche Investition von Per-
sonen, die nicht Arzt oder Ärztin sind, nicht mehr zulässig sein soll?

16. Welche Folgen hätte nach Meinung der Bundesregierung eine derartige Re-
gelung für die hochspezialisierte fachärztliche Versorgung, deren Kapi-
talbedarf durch den medizinisch-technischen Fortschritt ständig steigt?

17. Was unterscheidet die nach den Planungen der Bundesregierung künftig
nicht mehr zulässigen Eigentumsformen von MVZ vom Konzept der von
der Kassenärztlichen Bundesvereinigung betriebenen sog. Ärztlichen Ver-
sorgungsZentren („PATIOMED AG“), bei denen das erforderliche Kapital
ebenfalls extern (im Wesentlichen von der „Ärzte- und Apothekerbank“)
zur Verfügung gestellt wird?

18. Welche Schlüsse zieht die Bundesregierung aus der Forderung des Sachver-
ständigenrates nach einer sektorübergreifenden Vereinheitlichung hinsicht-
lich der Leistungsdefinitionen, Qualitätsstandards, Vergütung einschließlich
Investitionsfinanzierung und Vorhaltekosten, Genehmigung neuer Behand-
lungsmethoden, Preise von veranlassten Leistungen und eventuellen Regu-
lierungen, wie z. B. Mindestmengen oder Mengenbegrenzungen?

19. Wie lassen sich die geplanten Einschränkungen der Eigentums- und Or-
ganisationsformen von MVZ mit der ebenfalls im Koalitionsvertrag zwi-
schen CDU, CSU und FDP getroffenen Aussage vereinbaren, dass Wett-
bewerb um Leistungen, Preise und Qualität eine an den Bedürfnissen der
Versicherten ausgerichtete Krankenversicherung sowie eine gute medizini-
sche Versorgung sichert?

20. Gibt es auch noch andere Bereiche im Gesundheitswesen, wo aus Sicht der
Bundesregierung Wettbewerb schädlich für die freiberuflich tätigen Ärzte
und Ärztinnen ist und unterbunden werden sollte?

Berlin, den 14. September 2010

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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