BT-Drucksache 17/2859

Residenzpflicht für Asylsuchende und Geduldete (Nachfrage zu Bundestagsdrucksache 17/2261)

Vom 2. September 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/2859
17. Wahlperiode 02. 09. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Petra Pau, Frank Tempel und der
Fraktion DIE LINKE.

Residenzpflicht für Asylsuchende und Geduldete
(Nachfrage zu Bundestagsdrucksache 17/2261)

Die Legitimität der so genannten Residenzpflicht, mit der die Bewegungsfreiheit
von Asylsuchenden und Geduldeten in Deutschland massiv eingeschränkt wird,
steht immer stärker in Frage.

In mehreren Bundesländern werden Lockerungen der Residenzpflicht, soweit sie
im Rahmen geltenden Bundesrechts möglich sind, diskutiert bzw. haben zuletzt
die Länder Berlin und Brandenburg entsprechende Erleichterungen auf dem Ver-
ordnungs- bzw. Erlasswege bereits umgesetzt.

Auf Initiative der Fraktion DIE LINKE. forderte am 15. Juli 2010 auch der Land-
tag in Nordrhein-Westfalen die Landesregierung auf, räumliche Beschränkungen
weitestmöglich zu lockern und eine Bundesratsinitiative zur gänzlichen Ab-
schaffung der Residenzpflicht einzubringen. Für diese Ziele setzt sich beispiels-
weise auch die Fraktion der FDP im Thüringer Landtag mit einem entsprechen-
den Antrag vom 19. Mai 2010 ein. Im Deutschen Bundestag hat die Fraktion DIE
LINKE. die Forderung nach einer Abschaffung der Residenzpflicht im Juni 2010
eingebracht (Bundestagsdrucksache 17/2325).

Auf Bundestagsdrucksache 17/2261 ist die Bundesregierung nach Ansicht der
Fragesteller überzeugende Antworten zur Begründung der Aufrechterhaltung der
Residenzpflicht schuldig geblieben. So gab sie beispielsweise vor, Beschränkun-
gen der Bewegungsfreiheit würden eine „gleichmäßige Verteilung“ von Asyl-
suchenden und Geduldeten gewährleisten (ebd., Vorbemerkung der Bundesregie-
rung). Die Verteilung der Betroffenen und eine Aufteilung der mit ihrer Unterbrin-
gung und Versorgung verbundenen Aufgaben wird jedoch durch spezielle Rege-
lungen im Asylverfahrens- bzw. Aufenthaltsgesetz und die Verpflichtung zur
Wohnsitznahme im zugewiesenen Gebiet sichergestellt – die strafbewehrte Ein-
schränkung der Bewegungsfreiheit trägt zur Erreichung dieses Ziels nichts bei.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Gibt es nach Auffassung der Bundesregierung eine Rechtsgrundlage für die
Erhebung von Gebühren für Verlassenserlaubnisse bei Geduldeten, obwohl

eine solche Gebühr nach der abschließenden Regelung nach Kapitel 3 bzw.
insbesondere nach § 47 Absatz 1 Nummer 9 der Aufenthaltsverordnung (wo
es um eine Bescheinigung und nicht um eine Erlaubnis geht) nicht vorgesehen
ist, und wenn ja, welche konkret (bitte in Auseinandersetzung mit der Begrün-
dung des Urteils des VG Halle, Az. 1 A 395/07 HAL, vom 26. Februar 2010
darlegen)?

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2. Bedarf es nach Ansicht der Bundesregierung einer gesonderten Bescheini-
gung oder nur einer behördlichen Erlaubnis zum Verlassen des zugewiesenen
Aufenthaltsbereichs (bitte begründen), und wenn Letzteres der Fall ist, wie
sollen Betroffene in der polizeilichen Kontrollpraxis ohne Bescheinigung
nachweisen, dass sie den ihnen zugewiesenen Aufenthaltsbereich erlaubt ver-
lassen haben?

3. Ist es nach Auffassung der Bundesregierung zulässig, dass die Bundes- oder
Landespolizei anlässlich von Verstößen gegen die Beschränkung der Bewe-
gungsfreiheit die Aufenthaltspapiere der Betroffenen (Duldung bzw. Aufent-
haltsgestattung) gegen Quittung einbehält und an die zuständige Ausländer-
behörde schickt, und wenn ja, auf welcher genauen rechtlichen Grundlage ge-
schieht dies?

4. Wie können Betroffene, deren Duldung oder Aufenthaltsgestattung gegen
Quittung einbehalten wurde, ohne Ausweisdokument an ihren Wohnort
zurückkehren, und was passiert insbesondere, wenn sie sich bei weiteren
Kontrollen zur Person nicht ausweisen können, weil diese Quittung kein Foto
enthält?

5. In wie vielen Fällen wurde in den Jahren 1991 bis 2009 (bitte nach Jahren
differenziert angeben) laut polizeilicher Kriminalstatistik Anzeige wegen
„Verstößen gegen das Asylverfahrensgesetz“ (§§ 84 bzw. 85 des Asylverfah-
rensgesetzes – AsylVfG) bzw. wegen „sonstigen Verstößen gegen das Aufent-
haltsgesetz“ (bzw. vor 2005: Ausländergesetz) gestellt (bitte differenziert
angeben)?

a) Wie viele dieser Anzeigen erfolgten jeweils durch die Bundespolizei (bzw.
den Bundesgrenzschutz), durch eine Landespolizei, eine Ausländerbe-
hörde, eine andere Behörde usw., und werden Anzeigen durch die Auslän-
derbehörden in der polizeilichen Kriminalstatistik erfasst?

b) In wie vielen Fällen kam es in den entsprechenden Jahren zu Verurteilun-
gen wegen der genannten Delikte (bitte nach Jahren und Verstößen gegen
das Asylverfahrens- bzw. sonstigen Verstößen gegen das Aufenthalts-
gesetz bzw. Ausländergesetz differenzieren)?

6. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass es sich bei „Verstößen
gegen das Asylverfahrensgesetz“ bzw. gegen § 85 AsylVfG (wird erst seit
2009 gesondert erfasst; Verstöße gegen die §§ 84 und 84a AsylVfG machten
2009 weniger als 2 Prozent aller Verstöße gegen das AsylVfG aus) ganz über-
wiegend um Verstöße gegen die Beschränkung der räumlichen Bewegungs-
freiheit handelt (vgl. Beate Selders, „Keine Bewegung!“, 2009, S. 89)?

Wenn nicht, welche Kenntnisse oder Einschätzungen hat die Bundesregie-
rung dazu, in welchem Umgang welche anderen unter § 85 AsylVfG fallende
Delikte in einem relevanten Umfang zur Anzeige gebracht wurden bzw. wer-
den?

7. In welchem ungefähren Umfang handelt es sich nach Auffassung der Bundes-
regierung bei „sonstigen Verstößen gegen das Aufenthaltsgesetz“ um Verstöße
gegen die räumliche Beschränkung (§ 95 Absatz 1 Nummer 7 des Aufenthalts-
gesetzes – AufenthG), in welchem ungefähren Umfang um Anzeigen nach
§ 95 Absatz 1 Nummer 5 und 6 AufenthG (falsche Angaben, Mitwirkungs-
pflichtverletzungen), und in welcher Rubrik der polizeilichen Kriminal-
statistik werden Verstöße gegen die Verteilung und Zuweisung nach § 15a
AufenthG erfasst?

8. Wie viele Strafgefangene waren in den Jahren 1991 bis heute jeweils zu einem
Stichtag in Haft wegen Verstößen gegen das Asylverfahrensgesetz bzw.

wegen sonstiger Verstöße gegen das Aufenthalts- bzw. Ausländergesetz (bitte
nach Jahren und Delikten, so differenziert wie möglich, unterscheiden)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/2859

9. Wird die Bundesregierung, auch angesichts der aktuellen parlamentarischen
und öffentlichen Diskussion um die Residenzpflicht, künftig in der polizei-
lichen Kriminalstatistik genauer erfassen lassen, wie viele Verstöße gegen
räumliche Beschränkungen jährlich zur Anzeige gebracht werden bzw. wie
viele Personen wegen solcher Delikte in Haft sind, und wenn nein, warum
nicht?

10. Wieso dient die räumliche Beschränkung des Aufenthalts nach Auffassung
der Bundesregierung dazu, „eine gleichmäßige Verteilung der mit der Auf-
nahme von Asylbewerbern verbundenen Aufgaben und Belastungen für
Länder und Kommunen zu gewährleisten“ (vgl. Vorbemerkung der Bun-
desregierung auf Bundestagsdrucksache 17/2261), obwohl diese Verteilung
bereits durch entsprechende Verteilungsregelungen, das Automatisierte
Fingerabdruckidentifizierungssystem (AFIS) und die Pflicht zur Wohnsitz-
nahme vollständig gewährleistet wird, und wie begründet die Bundesregie-
rung vor diesem Hintergrund ihr Festhalten an der Beschränkung der Be-
wegungsfreiheit?

11. In welchen Fallkonstellationen wäre das Ziel einer Verfahrensbeschleuni-
gung tatsächlich gefährdet, „wenn der betroffene Ausländer das jeweilige
Land bzw. den Bezirk der zuständigen Ausländerbehörde ohne deren Kennt-
nis verlässt“ (so die Bundesregierung auf Bundestagsdrucksache 17/2261 zu
Frage 12a), soweit sich die Betroffenen nicht am Beginn des Asylverfahrens
und damit ohnehin in einer Aufnahmeeinrichtung befinden?

12. Inwieweit wäre bei Aufhebung der Residenzpflicht mit Verzögerungen des
Asylverfahrens zu rechnen, da Asylsuchende gemäß der Zustellungsvor-
schriften nach § 10 AsylVfG ihre Erreichbarkeit sicherstellen und Zustellun-
gen und Mitteilungen andernfalls gegen sich gelten lassen müssen, die
Erreichbarkeit also im eigenen Interesse der Asylsuchenden liegt und Ver-
fahrensverzögerungen aufgrund der Zustellungsvorschriften ausgeschlos-
sen sind?

13. Inwieweit „ergänzt“ die räumliche Beschränkung das Automatisierte Finger-
abdruckidentifizierungssystem bei der Verhinderung eines Mehrfachbezugs
von Sozialleistungen (so die Antwort der Bundesregierung zu Frage 12c auf
Bundestagsdrucksache 17/2261), obwohl ein Mehrfachbezug nur durch den
systematisierten Fingerdatenabgleich verhindert werden kann, nicht aber
durch die Beschränkung der Bewegungsfreiheit der Betroffenen (bitte be-
gründen)?

14. Inwieweit ist die Bundesregierung der Ansicht und welche empirischen
Belege hat sie gegebenenfalls hierfür, dass sich Personen, die aus Angst vor
ihrer Abschiebung „untertauchen“ wollen, durch die Residenzpflicht hier-
von abhalten lassen würden (wie die Antwort zu Frage 12e auf Bundestags-
drucksache 17/2261 nahelegt), insbesondere weil die daran geknüpften
Sanktionen gegenüber den Sanktionen für „illegalen Aufenthalt“ nicht ins
Gewicht fallen dürften?

15. Inwieweit ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die Beschränkung
der Bewegungsfreiheit von Asylsuchenden und Geduldeten zur Abschre-
ckung potentieller Asylsuchender im Ausland erforderlich ist (bitte begrün-
den)?

16. Welche konkreteren Planungen liegen zur Umsetzung des Koalitionsvertra-
ges zwischen CDU, CSU und FDP vor, wonach die Residenzpflicht „so aus-
gestaltet werden [soll], dass eine hinreichende Mobilität insbesondere im
Hinblick auf eine zugelassene Arbeitsaufnahme möglich ist“, und wenn es
keine solchen Planungen gibt, warum nicht, und wann soll der Koalitions-

vertrag in diesem Punkte umgesetzt werden?

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17. Welche anderen EU-Staaten haben von der Möglichkeit der EU-„Aufnah-
merichtlinie“ Gebrauch gemacht, den Aufenthalt bzw. die Bewegungsfrei-
heit von Asylsuchenden räumlich zu beschränken, und wie sind entspre-
chende Regelungen ausgestaltet (bitte die jeweiligen Länder und die dort
geltenden Regelungen konkret benennen und differenzieren nach der Ver-
pflichtung zur Wohnsitznahme an einem bestimmten Ort und einer gege-
benenfalls hinzukommenden Beschränkung der Bewegungsfreiheit bzw.
einem Verbot, den zugewiesenen Wohnort oder ein bestimmtes Gebiet ohne
Genehmigung zu verlassen)?

18. Mit welcher Begründung hält die Bundesregierung insbesondere die Straf-
vorschrift des § 85 Nummer 2 AsylVfG mit der EU-Aufnahmerichtlinie
2003/9/EG für vereinbar (bitte begründen in Auseinandersetzung mit den
dies verneinenden Stellungnahmen zum EU-Richtlinienumsetzungsgesetz
der Caritas und der Diakonie bzw. von Rechtsanwalt Dr. Reinhard Marx,
Ausschussdrucksache 16(4)209 B und D, S. 43 f. bzw. 43)?

19. Mit welcher Begründung hält die Bundesregierung die nach dem Asyl-
verfahrensgesetz mögliche räumliche Beschränkung der Bewegungsfreiheit
auf den Bezirk der (zuständigen) Ausländerbehörde mit Artikel 7 Absatz 1
Satz 2 der EU-Aufnahmerichtlinie 2003/9/EG für vereinbar, wo geregelt ist,
dass, wenn Beschränkungen der Bewegungsfreiheit vorgenommen werden,
„das zugewiesene Gebiet (…) die unveräußerliche Privatsphäre nicht beein-
trächtigen“ darf und „hinreichenden Spielraum“ für die „Inanspruchnahme
der Vorteile aus dieser Richtlinie“ (Schule, Beschäftigung, Bildung, Ge-
sundheitsversorgung, Zugang zu Rechtsbeiständen und zu Angeboten für
besonders Schutzbedürftige usw.) gewähren muss?

a) Wie begründet sie dies insbesondere in Hinblick auf kleine und/oder länd-
liche Residenzpflichtbezirke, die den Betroffenen z. B. keinen erlaubnis-
freien Besuch einer Stadt mit entsprechenden Angeboten ermöglicht?

b) Stimmt sie damit überein, dass nach dem insoweit klaren Wortlaut der
Vorschrift bereits das „zugewiesene Gebiet“ in seiner Größe und Ausge-
staltung die Privatsphäre und die aus der Richtlinie folgenden Ansprüche
nicht beeinträchtigen darf, d. h. dass mögliche Verlassenserlaubnisse und
Ausnahmeregelungen im Einzelfall nicht ausreichend sind, um einen
Verstoß gegen Artikel 7 Absatz 1 Satz 2 der Richtlinie in Fällen grund-
sätzlich „ungeeigneter Gebiete“ zu heilen (bitte begründet darlegen)?

Berlin, den 30. August 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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