BT-Drucksache 17/2857

Aktueller Stand der Abschiebungen von Roma in den Kosovo

Vom 2. September 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/2857
17. Wahlperiode 02. 09. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Petra Pau, Raju Sharma und der
Fraktion DIE LINKE.

Aktueller Stand der Abschiebungen von Roma in den Kosovo

Im Jahr 2009 gab es 541 Abschiebungen in den Kosovo, betroffenen waren
auch 179 Minderheitenangehörige, davon 76 Roma (vgl. Bundestagsdruck-
sache 17/2089). In den ersten vier Monaten des Jahres 2010 befanden sich unter
den 213 in den Kosovo Abgeschobenen 74 Minderheitenangehörige, 53 von
ihnen waren Roma. Auf das Jahr hochgerechnet ist für 2010 deshalb mit einer
Abschiebung von mehr als 150 Roma zu rechnen – das wäre eine Verdoppelung
gegenüber dem Vorjahr. Der Anteil der Roma bei Abschiebungen in den
Kosovo wird auch künftig weiter steigen. Bereits jetzt beklagen einige Bundes-
länder, dass sich das von der Bundesregierung gegenüber dem Kosovo zu-
gesagte „angemessene Verhältnis der verschiedenen Ethnien“ bei Rücküber-
nahmeersuchen nur noch schwer realisieren lasse, weil für nicht Roma solche
Ersuchen bereits überwiegend in der Vergangenheit gestellt wurden.

Bis April/Mai 2010 wurden 918 Rückübernahmeersuchen gestellt, nur etwa
5 Prozent betrafen so genannte Straftäter, mehrheitlich albanischer Volkszuge-
hörigkeit, wobei nur gegen zwei Personen Ausweisungsgründe vorlagen. Zwei
Drittel aller Ersuchen betrafen Familienangehörige, auch für drei unbegleitete
Minderjährige und neun alte oder pflegebedürftige Menschen wurden Ersuchen
gestellt. Bei 72,5 Prozent aller Ersuchen ging es um Minderheitenangehörige,
darunter 556 Roma. 120 Ersuchen wurden trotz eines über zwölfjährigen Auf-
enthalts der Betroffenen in Deutschland gestellt. Obwohl die Bundesregierung
von einem „Vorrang der freiwilligen Rückkehr“ spricht, überwiegt die Zahl der
Abschiebungen die der „freiwilligen“ Rückkehr seit Jahren bei Weitem.

Zunehmende öffentliche Proteste und Forderungen der Zivilgesellschaft, von
Verbänden, Wohlfahrtsorganisationen, Kirchen, kommunalen Parlamenten, aber
auch von internationalen Organisationen führten bislang zu keiner Änderung der
rigiden deutschen Abschiebungspolitik. Die Bundesregierung bestreitet sogar
rundweg, dass Roma im Kosovo überhaupt diskriminiert werden (vgl. Bundes-
tagsdrucksache 17/2089, Antwort zu den Fragen 20 und 21). Ihre Einschätzung
der Lage widerspricht damit diametral allen fachkundigen Berichten und Bewer-
tungen, was nicht zuletzt die öffentliche Anhörung des Innenausschusses des
Deutschen Bundestages am 28. Juni 2010 zu zwei Anträgen der Fraktionen
DIE LINKE. und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erbrachte. Auch das Europäi-

sche Parlament beklagte in einer Entschließung vom 8. Juli 2010 die schwierige
Lage und Diskriminierung der Roma im Kosovo und forderte von den Mitglied-
staaten, auf Zwangsrückführungen zu verzichten. Das Kinderhilfswerk der Ver-
einten Nationen UNICEF legte im Juli 2010 eine empirische Untersuchung vor
(„Integration unter Vorbehalt“, vgl. auch Ausschussdrucksache 17(4)70 D), mit
der eindrucksvoll belegt wird, dass insbesondere das Kindeswohl bei Abschie-
bungen in den Kosovo systematisch unberücksichtigt bleibt. Fast die Hälfte

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aller betroffenen Roma sind Kinder, zwei Drittel von ihnen sind in Deutschland
geboren und aufgewachsen, Kosovo ist für sie ein fremdes Land. Im Durch-
schnitt lebten die von UNICEF befragten, in den Kosovo zurückgekehrten oder
abgeschobenen Roma zuvor 14 Jahre in Deutschland. Die Kinder sprechen in
der Regel Romanes und Deutsch, aber kein Albanisch. Drei Viertel von ihnen
konnten nach der Rückkehr oder Abschiebung keine Schule mehr besuchen,
viele werden mangels Dokumenten nicht einmal behördlich registriert. Im
Kosovo leben sie verzweifelt am Rand der Gesellschaft und in extremer Armut.
Ausnahmslos alle abgeschobenen oder zurückgekehrten Roma-Kinder wollen
nach Deutschland zurück, weil sie Deutschland als ihre Heimat empfinden.
UNICEF fordert deshalb, bei der Entscheidung über den Aufenthalt der Roma
aus dem Kosovo das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen. Abschiebungen
in den Kosovo sollten deshalb beendet und den Kindern eine Integration in
Deutschland ermöglicht werden. Andernfalls entstünde eine verlorene Genera-
tion entwurzelter Flüchtlingskinder und die in Deutschland bereits geleisteten
Investitionen in die Zukunft dieser Kinder (Schulbildung) gingen unwiderruf-
lich verloren.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele ausreisepflichtige Personen aus dem Kosovo lebten zum letzten
der Bundesregierung bekannten Stand in Deutschland (geplant war eine sol-
che Erhebung für den 30. Juni 2010; bitte wie zu Frage 22 auf Bundestags-
drucksache 17/423 antworten, d. h. nach Bundesländern und Personengrup-
pen, zusätzlich aber bitte auch nach Alter – unter 18 Jahre, zwischen 18 und
60 Jahre, über 60 Jahre – differenzieren)?

2. Wie viele geduldete bzw. (vollziehbar) ausreisepflichtige Personen (bitte
differenzieren) weisen nach dem Ausländerzentralregister zum Stand
30. Juni 2010 eine „kosovarische“ bzw. serbische (inklusive Vorgängerstaa-
ten) Staatsangehörigkeit auf (bitte auch nach Bundesländern und Alter diffe-
renzieren)?

3. Für wie viele in Deutschland lebende ausreisepflichtige Personen aus dem
Kosovo bzw. mit „kosovarischer“ Staatsangehörigkeit wurde noch kein
Rückübernahmeersuchen gestellt (bitte auch nach Bundesländern differen-
zieren)?

4. Wie viele „Abschiebungsaufträge“ aus den einzelnen Bundesländern wur-
den den Koordinierungsstellen im Jahr 2010 bislang übermittelt, und wie
verteilten sich diese Aufträge auf die Personengruppen

– Straftäter,

– alleinreisende Erwachsene,

– Familien/Kinder,

– alleinerziehende Elternteile,

– Alte und Pflegebedürftige,

– langjährig Aufhältige (seit 1. Januar 1998),

– unbegleitete Minderjährige,

– Roma-Angehörige,

– andere Minderheitenangehörige,

– Empfänger von Sozialleistungen,

– Personen, gegen die Ausweisungsgründe vorliegen

(bitte in der Form wie zu Frage 4 auf Bundestagsdrucksache 17/2089 ant-

worten, jedoch zusätzlich noch die Summen beider Koordinierungsstellen
und den Stichtag der Erhebung angeben)?

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5. Wie ist es zu erklären, dass laut Antwort der Bundesregierung auf Bundes-
tagsdrucksache 17/2089 zu Frage 4 die Mehrzahl der Bundesländer einen
Anteil von Sozialleistungen beziehende Personen, für die ein Rücknahme-
ersuchen gestellt wurde, in Höhe von entweder 0 Prozent oder aber 100 Pro-
zent angegeben hat, spricht dies nicht für falsche oder irrtümliche Angaben,
und wie lauten gegebenenfalls die korrigierten Zahlen?

6. Wie ist es zu bewerten, dass unter den 918 Personen, für die nach Bundes-
tagsdrucksache 17/2089 (Frage 4) ein Rückübernahmeersuchen gestellt
wurde, nach Angaben der Bundesländer nur bei zwei Personen Aus-
weisungsgründe vorlagen, spricht dies insbesondere dafür, dass die ins-
gesamt 44 „Straftäter“, für die Ersuchen gestellt wurden, im Regelfall keine
schweren Straftaten begangen haben, und was ist der Bundesregierung über
die Schwere oder Art besagter Straftaten bekannt (welchen ungefähren An-
teil haben zum Beispiel asyl- oder aufenthaltsrechtliche Verstöße)?

7. Wie bewertet es die Bundesregierung, dass im Jahr 2010 auch für 120 Perso-
nen, die bereits seit über 12 Jahren in Deutschland leben, Rückübernahme-
ersuchen gestellt wurden – vor allem hinsichtlich der Unzumutbarkeit einer
solchen zwangsweisen Rückkehr in ärmlichste und ungewisse Verhältnisse
nach so langem Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland?

a) Sieht sie mögliche rechtliche Bedenken hinsichtlich einer Abschiebung
nach über 12-jährigem Aufenthalt von hier geborenen und/oder auf-
gewachsenen und integrierten Kindern, die noch nie im Kosovo waren und
die die Landessprache des Kosovo nicht sprechen, angesichts der Recht-
sprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum
Schutz des Privatlebens nach Artikel 8 der Europäischen Menschenrechts-
konvention (EMRK) (bitte begründen; vgl. z. B. VG Frankfurt a. M., 7 K
1621/08, Urteil vom 15. Dezember 2009)?

b) Inwieweit ist nach der Rücknahme des bundesdeutschen Vorbehalts zur
UN-Kinderrechtskonvention bei ausländerrechtlichen Entscheidungen
sicherzustellen, dass das Kindeswohl entsprechend Artikel 3 Absatz 1 der
Konvention vorrangig berücksichtigt wird, und inwieweit führt die Rück-
nahme des Vorbehalts in der in Frage 7a geschilderten Konstellation der
Abschiebung hier aufgewachsener und fest integrierter und zugleich von
dem Herkunftsland ihrer Eltern entwurzelter Kinder dazu, dass in diesen
Fällen die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 5 des
Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) i. V. m. Artikel 8 EMRK eher in Betracht
kommt also vor der Rücknahme des Vorbehalts (bitte ausführen; vgl. z. B.
Günter Benassi: „Die Bedeutung des Schutzes des Privatlebens durch
Art. 8 EMRK für die humanitären Aufenthaltsrechte am Beispiel des
§ 25 V AufenthG – Zum Einfluss von Art. 3 I UN-Kinderrechtskonven-
tion“, in: Informationsbrief Ausländerrecht 7/8/2010, S. 283, insbeson-
dere S. 291 f.)?

8. Wie bewertet die Bundesregierung den sehr hohen Anteil von Minderheiten-
angehörigen (72,5 Prozent) bzw. Roma (60,5 Prozent) an allen Ersuchen,
und inwieweit entspricht dies den Zusicherungen der Bundesrepublik
Deutschland gegenüber den kosovarischen Behörden eines „angemessenen
Verhältnisses der verschiedenen Ethnien“ bei Rückübernahmeersuchen
(Bundestagsdrucksache 17/2089, Frage 5)?

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9. Wie konkret wird die Zusage gegenüber den kosovarischen Behörden um-
gesetzt, die „geographische Verteilung“ der nicht straffällig gewordenen
Roma „auf die in Frage kommenden Gebiete in Kosovo“ zu berücksichti-
gen (Bundestagsdrucksache 17/2089, Frage 5), d. h. welche Gebiete kom-
men in Frage, wird hierbei auf den letzten Wohnort der Betroffenen oder
die Sicherheitslage und Aufnahmebedingungen vor Ort abgestellt, und was
geschieht mit Personen aus Gebieten, in denen alle oder nahezu alle Roma
vertrieben wurden?

10. Was bedeutet es konkret, dass „Personen, die besonders hilfsbedürftig sind,
… stets nachrangig angemeldet“ werden (Bundestagsdrucksache 17/2089,
Frage 8), welche Personen gelten als „besonders hilfsbedürftig“ (zum Bei-
spiel auch traumatisierte Personen, Alleinerziehende, unbegleitete Minder-
jährige, Alte/Pflegebedürftige), was bedeutet „nachrangig“, und wie ist
hiermit zu vereinbaren, dass unter den 50 vom Regierungspräsidium Karls-
ruhe von Januar bis April 2010 zur Abschiebung angemeldeten Personen
auch drei unbegleitete Minderjährige und eine alte/pflegebedürftige Person
waren, die auch tatsächlich abgeschoben wurden (ebd., Frage 6)?

11. Ist es zutreffend, dass nach Artikel 7 Absatz 2 Satz 4 des deutsch-koso-
varischen Rückübernahmeabkommens auch bei Drittstaatsangehörigen und
Staatenlosen eine Zustimmung zum Rückübernahmeersuchen als erteilt
gilt, wenn die Behörden im Kosovo innerhalb von spätestens 45 Tagen
nicht auf ein Ersuchen reagiert haben (eine ähnliche Regelung gilt auch bei
nachgewiesener oder glaubhaft gemachter „kosovarischer“ Staatsangehö-
rigkeit), und wenn nein, was ist der Fall?

a) Bedeutet das nicht, dass aufgrund dieser Regelung auch Abschiebungen
von Staatenlosen in den Kosovo vorgenommen werden, und inwieweit
sieht die Bundesregierung die Gefahr, dass sich infolgedessen der Anteil
der Staatenlosen unter den Roma-Angehörigen im Kosovo von jetzt bis
zu 20 Prozent (Schätzungen des UNHCR, vgl. Ausschussdrucksache
17(4)71, S. 6) noch vergrößern könnte?

b) Wie viele Ersuchen an die Behörden im Kosovo werden in der Praxis
nicht innerhalb von 30 bzw. 45 Tagen bzw. innerhalb der nach dem
Rückübernahmeabkommen vorgesehenen Frist beantwortet bzw. wel-
che anderen Angaben lassen sich hierzu machen (im ersten Halbjahr
2009 wurden nur 45 Prozent aller Ersuchen innerhalb eines Monats be-
antwortet; vgl. Bundestagsdrucksache 16/14129, Frage 8)?

c) Wie viele Ersuchen wurden in den Jahren 2009 bzw. 2010 aus welchen
Gründen abgelehnt?

d) Welchen Anteil machen Abschiebungen aus, in denen es zuvor keine
ausdrückliche Zustimmung zur Rückübernahme gab (bitte differenzie-
ren: vor bzw. nach Inkrafttreten des Abkommens), und wie ist dieses
Verhältnis bei Roma-Angehörigen?

e) Welche praktischen Erfahrungen und Probleme gibt es seit Inkrafttreten
des Rückübernahmeabkommens im Ersuchen- und Abschiebungsver-
fahren aus Sicht der Bundesregierung, und welche Probleme wurden
von kosovarischer Seite angesprochen?

12. Für wie viele Personen erfolgten im Jahr 2010 bislang „Fluganmeldungen/
Abschiebungsaufträge“, und wie viele Abschiebungen wurden tatsächlich
vollzogen (bitte wie zu Frage 6 auf Bundestagsdrucksache 17/2089 ant-
worten, jedoch zusätzlich noch die jeweilige Summe pro Koordinierungs-
stelle und die Summe beider Koordinierungsstellen angeben)?

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13. Wie bewertet es die Bundesregierung, dass sich die Zahl der in den Kosovo
abgeschobenen Roma im Jahr 2010 gegenüber dem Vorjahr voraussichtlich
verdoppeln wird (vgl. Vorbemerkung)?

14. Wie viele der Abschiebungen in den Kosovo im Jahr 2010 wurden im
Rahmen von Sammelabschiebungen per Charterflug durchgeführt (bitte die
einzelnen Flüge mit Datum, Startflughafen in Deutschland, Fluggesell-
schaft, Zahl der „Buchungen“, Zahl der Abgeschobenen, Anteil von
Minderheiten- bzw. Roma-Angehörigen, Kosten je Flug auflisten und die
jeweiligen Summen nennen)?

15. Wie viele solcher Charter-Abschiebungen sind für das laufende Jahr
geplant (so weit möglich mit den Angaben wie in Frage 14)?

16. Werden solche Charterflüge öffentlich ausgeschrieben, und wenn ja, durch
welche Stellen, werden einzelne Flüge oder Kontingente ausgeschrieben?

17. Welche Abschiebungsaktionen unter der Leitung oder Beteiligung von
FRONTEX (Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den
Außengrenzen) gab es bislang, und welche genaueren Angaben hierzu sind
der Bundesregierung bekannt (zum Beispiel Datum, beteiligte Länder, Flug-
gesellschaft, in Deutschland genutzte Flughäfen, Zahl der „Buchungen“,
Zahl der Abgeschobenen, Anteil von Minderheiten- bzw. Roma-Angehöri-
gen, Kosten je Flug; Angaben bitte soweit möglich länderspezifisch diffe-
renzieren)?

18. Wie ist es zu erklären, dass die Bundesregierung auf Bundestagsdruck-
sache 17/2089 zu Frage 10 geantwortet hat, dass es zum „angemessen Ver-
hältnis der verschiedenen Ethnien“ und zum ungefähren Anteil von Roma-
Angehörigen bei Ersuchen „keine quoten- oder zahlenmäßige Festlegung“
gebe, während der Leiter der Zentralen Ausländerbehörde Bielefeld,
Torsten Böhling, in seiner Stellungnahme zur Anhörung (Ausschussdruck-
sache 17(4)70 C, S. 1) darlegte, in der Behördenpraxis würde sicherge-
stellt, dass von den maximal 2 500 Personen im Jahr, für die ein Ersuchen
gestellt wird, „nicht mehr als 40 % der ethnischen Gruppe der Roma an-
gehören“, und wie ist es zu bewerten, dass der Anteil der Roma an allen Er-
suchen in den ersten Monaten des Jahres 2010 mit über 60 Prozent weit
über dieser Quote von 40 Prozent lag?

19. Inwieweit teilt die Bundesregierung die Ansicht, dass angesichts des hohen
Anteils der Roma an allen Ausreisepflichtigen aus dem Kosovo (68 Prozent
zum Stand 30. Juni 2009) ihr Anteil an Ersuchen und Abschiebungen ab-
sehbar noch steigen wird, wie auch bereits vorliegende Zahlen zu Ersuchen
und Abschiebungen zeigen (nach Ausschussdrucksache 17(4)70 C, S. 2
stieg der Anteil der Roma an allen Abgeschobenen von 5 Prozent im Jahr
2008 über 14 Prozent im Jahr 2009 auf 25 Prozent bis Mai 2010)?

20. Wie begründet die Bundesregierung ihre Auffassung, dass sie sich „in
ihrer Politik des Vorrangs der freiwilligen Rückkehr vor einer zwangs-
weisen Rückführung bestätigt“ sieht (Bundestagsdrucksache 17/2089 zu
Frage 15), obwohl die Zahl der Abschiebungen im Jahr 2009 mit 541 die
der „freiwilligen“ Rückkehrer mit 329 (wie auch in den Jahren zuvor)
deutlich überwog, und was bedeutet es konkret, dass hierdurch „illegale
Migration“ bezüglich des Kosovo „wirksam“ bekämpft worden sei (ebd.)?

21. Inwieweit kann nach Auffassung der Bundesregierung von einem „Vorrang
der freiwilligen Rückkehr“ die Rede sein, wenn nach der aktuellen empiri-
schen Studie von UNICEF (vgl. auch Ausschussdrucksache 17(4)70 D,
S. 3 f.) von 40 interviewten Roma-Familien nur eine einzige angab, „frei-
willig“ zurückgekehrt zu sein, während fünf Familien angaben, die Einver-

ständniserklärung zur „freiwilligen Rückkehr“ nur aus Angst vor einer

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Zwangsabschiebung unterzeichnet zu haben – oft auf dem Polizeirevier,
bevor sie zum Flughafen verbracht wurden –, und welche Schlussfolgerun-
gen zieht sie hieraus?

22. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung daraus, dass selbst
der vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge entsandte Leiter des
URA-2-Projekts aufgrund seiner Erfahrungen davon ausgeht, dass Personen
ohne „belastbare familiäre Bindungen im Kosovo“ keine Existenzmöglich-
keiten im Kosovo haben, und dass er es problematisch findet, Personen,
die in Deutschland geboren und/oder aufgewachsen sind, in den Kosovo
abzuschieben (vgl. Ausschussdrucksache 17(4)70 E, S. 4 f.)?

23. Wie erklärt sich die Bundesregierung den Widerspruch, dass sie selbst keine
Diskriminierung der Roma im Kosovo sieht und deren wirtschaftliche und
soziale Situation vor allem mit dem „niedrigen Bildungsniveau vieler ar-
beitsloser Roma“ erklärt (Bundestagsdrucksache 17/2089, Frage 21a), wäh-
rend zum Beispiel das Europäische Parlament (Entschließung vom 8. Juli
2010 zur Integration des Kosovo, Punkt 28) auf die schwierige Lage und
Diskriminierung insbesondere der Roma im Kosovo hinweist und eine
solche Diskriminierung auch von allen anderen wichtigen nationalen und
internationalen Organisationen gesehen wird (zum Beispiel UNHCR,
OSZE, Europarat usw.), und inwieweit ist das „niedrige Bildungsniveau
vieler arbeitsloser Roma“ im Kosovo nach Ansicht der Bundesregierung
womöglich das Resultat gesellschaftlicher Diskriminierung und Ausgren-
zung?

24. Inwieweit hält die Bundesregierung die maximale Sozialhilfe im Kosovo
in Höhe von etwa 70 Euro pro Familie (nur für Familien mit Kindern unter
fünf Jahren) für geeignet, um ein menschenwürdiges Überleben im Kosovo
sicherzustellen, angesichts der von ihr angegebenen Mietpreise für eine
2- bis 3-Zimmer-Wohnung in Pristina in Höhe von bis zu 350 bzw. 500
Euro bzw. in anderen Städten um ca. 50 Euro darunter (Bundestagsdruck-
sache 17/2089, Frage 21d), und inwieweit hält sie vor diesem Hintergrund
den im Rahmen des URA-2-Projekts gewährten, maximal sechsmonatigen
Mietzuschuss von bis zu 100 Euro monatlich für ausreichend?

25. Wie viele Psychologen arbeiten im Projekt URA 2, welche Qualifikation
haben sie, und ist es zutreffend, dass diese Psychologen zurückgekehrten
oder abgeschobenen Personen aus Deutschland keine therapeutische Hilfe
oder Behandlung anbieten können und es im Regelfall bei einem Be-
ratungsgespräch bleibt, und wenn nein, wie verhält es sich tatsächlich?

26. Inwieweit geht die Bundesregierung davon aus, dass der im Rahmen von
URA 2 gewährte Lebensmittelzuschuss in Höhe von maximal 50 Euro pro
Person tatsächlich geeignet ist „für die Überbrückung der Zeit nach der
Rückkehr bis zum Beginn der Arbeitsaufnahme“ (Ausschussdrucksache
17(4)70 F, S. 12), wie lang schätzt sie die Zeit bis zum Beginn der Arbeits-
aufnahme bei abgeschobenen Roma-Angehörigen angesichts ihrer über
90-prozentigen Arbeitslosenquote, und wie lange reichen Lebensmittel im
Wert von maximal 50 Euro im Kosovo?

27. Wie ist es zu erklären, dass nur weniger als ein Viertel aller im Jahr 2009
aus Deutschland Abgeschobenen bzw. Zurückgekehrten die Zuschüsse des
URA-2-Projekts für Mietkosten, Medikamente, Lebensmittel und Ein-
richtung in Anspruch nahm (Ausschussdrucksache 17(4)70 F, S. 11)?

28. Welchen praktischen Wert für die Betroffenen hat die Auskunft des Parla-
mentarischen Staatssekretärs beim Bundesminister des Innern, Dr. Ole
Schröder, vom 5. Mai 2010 (Plenarprotokoll 17/39, S. 3779), Abschiebun-

gen erfolgten „nicht in eine bestimmte Kommune oder ‚Lager‘ im Kosovo“
und „den rückgeführten Personen [stünde es] im Rahmen der verfassungs-

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mäßig garantierten Freizügigkeit … frei, über ihren Aufenthaltsort selbst
zu bestimmen“, wenn öffentliche Unterstützungsleistungen nur in dem
Wohnort vor der Flucht bezogen werden können und Roma-Gemeinschaf-
ten aus mehreren Orten restlos vertrieben wurden, so dass eine Rückkehr
dorthin schon aus Sicherheitsgründen kaum in Betracht kommt?

29. Wie bewertet es die Bundesregierung und welche Schlussfolgerungen zieht
sie daraus, dass nach Einschätzungen und Erkenntnissen von UNICEF, aber
auch des Leiters von URA 2, viele abgeschobene Roma den Kosovo man-
gels realistischer Überlebensperspektiven bereits nach wenigen Monaten
wieder verlassen und unter anderem versuchen, nach Deutschland (illegal)
zurückzukehren (vgl. z. B. Ausschussdrucksache 17(4)70 D, S. 9)?

30. Inwieweit hält es die Bundesregierung mit der nunmehr vorbehaltlos um-
zusetzenden UN-Kinderrechtskonvention und dem vorrangig zu beachten-
den Kindeswohl für vereinbar, wenn nach der empirischen Untersuchung
von UNICEF (vgl. auch Ausschussdrucksache 17(4)70 D) die in den
Kosovo zurückgekehrten bzw. abgeschobenen Roma-Kinder, die mehrheit-
lich hier geboren und/oder aufgewachsen sind und Deutschland als ihre
„Heimat“ empfinden, im Kosovo zu 74 Prozent nicht mehr zur Schule
gehen und die Sprache des Landes nicht sprechen können, dass sie häufig
nicht einmal behördlich registriert werden und in extremer Armut und
Hoffnungslosigkeit leben müssen?

31. Wie bewertet es die Bundesregierung und welche Schlussfolgerungen zieht
sie daraus, dass nach der UNICEF-Studie (vgl. auch Ausschussdrucksache
17(4)70 D, S. 8) 65 von 173 befragten Personen, darunter 48 Kinder, im
Kosovo nicht gemeldet waren und keinerlei kosovarische Dokumente be-
saßen, so dass sie selbst von den marginalen behördlichen sozialen Unter-
stützungsleistungen im Kosovo ausgeschlossen waren, was häufig daran
liegt, dass die abgeschobenen bzw. zurückgekehrten Kinder häufig nicht
über deutsche Geburtsurkunden und Schulzeugnisse im Original verfügen
(ebd.)?

32. Inwieweit haben die Erkenntnisse der Anhörung des Innenausschusses
des Deutschen Bundestages vom 28. Juni 2010, aber auch die umfassende
Studie von UNICEF dazu beigetragen, dass die Bundesregierung ihre ab-
lehnende Haltung gegenüber einem Bleiberecht für die Roma aus humani-
tären Gründen überdenkt (bitte darlegen)?

Berlin, den 2. September 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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