BT-Drucksache 17/2527

Mikrokredite in der Entwicklungspolitik und Alternativen für eine erfolgreiche Armutsbekämpfung und nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung

Vom 8. Juli 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/2527
17. Wahlperiode 08. 07. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Niema Movassat, Annette Groth, Inge Höger, Harald Koch und
der Fraktion DIE LINKE.

Mikrokredite in der Entwicklungspolitik und Alternativen für eine erfolgreiche
Armutsbekämpfung und nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung

Ein Kleinkredit kann das Leben Einzelner erleichtern: Das Geld kann zum Auf-
bau einer wirtschaftlichen Aktivität dienen und damit zur Einkommenssteige-
rung und -diversifizierung beitragen. Es kann verwendet werden, um Zeiten der
Not – etwa nach Naturkatastrophen – zu überstehen, und es kann die Verletzlich-
keit gegenüber Missernten und Krankheiten verringern helfen. Bei Mikrokredi-
ten wird auf die sonst für Darlehen nötige Bonitätsprüfung und auf dingliche
Sicherheiten verzichtet. Das übliche Verfahren sieht so aus, dass eine „Spar-
gruppe“ (fünf bis sechs Kreditnehmerinnen/Kreditnehmer) sich zusammenfin-
det, die abwechselnd einen Kredit erhalten und gegenseitig füreinander bürgen.
Hierdurch werden die Transaktionskosten (Infrastruktur- und Prüfungskosten)
für die Kredite auf die Beteiligten abgewälzt. So wird erreicht, dass Personen-
kreise, die sonst keinen Zugang zu Krediten haben, also arme oder doch zumin-
dest relativ arme Bevölkerungsgruppen, Kapital erhalten.

„Mikrokredite haben sich als wirksames und kostengünstiges Mittel zur Ar-
mutsbekämpfung bewährt“, so der Bundesminister für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel, am 6. November 2009. Dennoch wird
gerade in den Entwicklungsländern, in Dörfern und Institutionen, die Erfahrun-
gen mit Mikrokrediten gemacht haben, Kritik an dem Prinzip laut. In der Reali-
tät scheinen gerade die Ärmsten oft am wenigsten an Mikrokreditprogrammen
zu partizipieren und davon zu profitieren. Denn in die „Spargruppen“ werden sie
– weil sie in der Gemeinschaft als unzuverlässig oder zu arm gelten – gar nicht
erst aufgenommen.

Mikrokredite werden meist gezielt an Frauen vergeben, da diese als verlässlicher
gelten. Gleichzeitig gelten sie als geeignetes Instrument der Frauenförderung.
Die Kredite würden Frauen ökonomisch stärken, um sie aus der Abhängigkeit
von Männern zu befreien. In der Praxis ist dies häufig nicht der Fall. Zwar neh-
men meist Frauen Kleinkredite auf, doch bestimmen sie längst nicht immer über
die Verwendung des Geldes. Eine Untersuchung über die Grameen Bank hat ge-
zeigt (Anne Marie Goetz & Rina Sen Gupta, 1996), dass 22 Prozent der Kredit-
nehmerinnen überhaupt nicht wussten, wofür ihre Männer das Geld verwenden.
Die positive Wirkung von Mikrokrediten auf das Selbstwertgefühl und die ge-
sellschaftliche Stellung vieler Frauen ist nicht zu übersehen. Dennoch stellen sie
kein Empowerment im Sinne des von Südfrauennetzwerk DAWN (Develop-
ment Alternatives with Women for a New Era) entwickelten Konzeptes für eine
geschlechtergerechte Entwicklung dar. Dieses zielte nicht nur auf die indivi-
duelle Unterstützung benachteiligter Frauen, sondern forderte auch grundlegende

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strukturelle Änderungen ein. Mikrokredite dagegen fokussieren ausschließlich
auf die ökonomische Selbstständigkeit und fördern die Entpolitisierung von
Frauenstrukturen. Am Beispiel Indiens beschreibt Christa Wichterich die Fol-
gen: ,Früher stellten Frauen in den Selbsthilfegruppen die politischen Überle-
bens- und Geschlechterfragen: Wem gehört das Land, das Wasser, das Saatgut,
der Körper der Frauen, ihre Arbeit, die Macht im Dorf? Jetzt dreht sich alles ums
Geld: Wer bekommt einen Kredit, für welche „einkommenschaffende Tätigkeit“
wird er genutzt, wie wird er zurückgezahlt?‘ (taz, 10. Juli 2007).

Obwohl Mikrokredite Einzelnen oft eine Chance bieten, ihre Lebenssituation zu
verbessern, bedeuten sie noch längst keine Schaffung neuer Arbeitsplätze. Im
Gegenteil: Meist wird versucht, erweiterte Haushaltsaktivitäten (Hühnerzucht,
Reparatur und Herstellung von Kleidung u. Ä.) in Wert zu setzen. Dabei über-
nehmen die Frauen – die die Hauptadressatinnen von Mikrokrediten sind – das
unternehmerische Risiko zu 100 Prozent. Für Kreditnehmerinnen/Kreditnehmer
bleibt also das Problem der fehlenden Absicherung, wenn das Kapital zerstört
wird, beispielsweise die durch Mikrokredite gekaufte Kuh stirbt oder es zu einer
Missernte kommt. Hier droht dann die Gefahr, den Kredit nicht mehr zurückzah-
len zu können.

Im Mittel bestätigen eine Vielzahl kleinräumiger Untersuchungen: „Ein Drittel
der Kreditnehmerinnen schafft den Aufstieg, ein Drittel kann die ein oder andere
Not lindern, aber krebst in einem ständigen Auf und Ab um die Armutsgrenze
herum, ein Drittel gerät in eine neue Verschuldungsspirale und bleibt arm.“
(Christa Wichterich, taz, 10. Juli 2007). Mit letzterem Punkt ist auch das Pro-
blem der Folgekredite beschrieben, nämlich dass Kreditnehmerinnen/Kredit-
nehmer häufig den nächsten Mikrokredit aufnehmen, um den vorherigen abbe-
zahlen zu können.

Eine Insolvenz aber kann vernichtende persönliche Folgen für die Kreditnehme-
rinnen/Kreditnehmer haben (vgl. etwa das „house breaking“ in Bangladesch, bei
welchem die Mitglieder der Spargruppe bei Nichtrückzahlung des Kredits durch
ein Mitglied in dessen Haus einbrechen und sich Wertgegenstände mitnehmen).

„Zugang zu Krediten ist also hier wie dort die Voraussetzung für wirtschaftliches
Wachstum aus der Mitte der Gesellschaft heraus;“ meint dennoch Dirk Niebel
am 6. November 2009. Dies ist eine unbewiesene Aussage – zumindest für den
Mikrofinanzbereich. Die gesamtwirtschaftlichen Effekte von Kleinkrediten sind
durchaus zweifelhaft, und es existiert kaum belastbares empirisches Material.
Im Gegenteil gibt es Anzeichen dafür, dass Mikrokreditprogramme eine nicht
konkurrenzfähige marginalisierte Wirtschaftsstruktur begünstigen, die sogar
zum Hindernis für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung werden kann (Mil-
ford Bateman & Ha-Joon Chang, 2009).

Dennoch ist der Markt wirtschaftlich lukrativ, und hierzu gibt es Zahlen: So
beträgt das Gesamtvolumen von Mikrokrediten mittlerweile 60 Mrd. US-Dollar,
und es gibt in diesem Bereich „schätzungsweise 90 Anlagefonds und -papiere mit
einem Gesamtvolumen von sechs Milliarden Euro (…). Die Weltbank rechnet bis
2015 mit einem Zuwachs auf 15 Milliarden.“ (Gesine Wolfinger, welt-sichten,
Dezember 2009). Dass private Akteure auf diesen Markt drängen, verwundert
nicht: Die zu erzielenden Profite sind ansehnlich. Zinssätze von 40 (knowl-
edge.allianz.at) oder gar 70 bis 100 Prozent (sueddeutsche.de 14. April 2010)
sind durchaus üblich. Um ins Geschäft zu kommen, verschleiern private Akteure
die effektiven Kosten ihrer Kreditangebote immer wieder. Freiwillige Verhal-
tenskodizes dürften daher für die Regulierung dieses Geschäftsfeldes nicht aus-
reichen. Die hohen Zinsen sind ebenfalls ein wichtiger Grund für Insolvenzen.

Die Frage bleibt also, ob mittels Mikrofinanzinstitutionen globale und volks-
wirtschaftliche Problemlagen nicht einfach in die Verantwortlichkeit von Ein-

zelnen abgewälzt werden.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/2527

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie hoch sind die Mittel aus dem Einzelplan 23, die in die Förderung von
Mikrokreditprojekten fließen?

Aus welchen anderen Haushaltsposten anderer Bundesministerien werden
Gelder für Mikrokredit-Projekte bereitgestellt?

2. Wie sind diese Mittel regional aufgeteilt (bitte eine Auflistung der Län-
der)?

3. Wie viele Projekte werden damit gefördert (bitte eine Auflistung der Pro-
jekte und Länder)?

4. Welche unterschiedlichen Konzepte im Detail kommen zur Anwendung
(bitte Konzepte insbesondere auch in ihrer Unterschiedlichkeit darstellen)?

5. Welche Rolle spielt das Empowerment von Frauen in den jeweiligen Pro-
jekten?

Welche Projekte wurden ausdrücklich als Maßnahmen zur Förderung der
Geschlechtergerechtigkeit konzipiert?

6. Wie und mit welchem Ergebnis wurde die Wirkung dieser Projekte auf die
Gleichstellung von Frauen und Männern sowie örtliche Frauenselbsthil-
festrukturen evaluiert?

7. Ist angedacht, die Haushaltsmittel für Mikrokreditprojekte im Jahr 2011 zu
erhöhen oder zu senken, und in welchem Umfang soll dies geschehen?

8. In wie vielen und in welchen der geförderten Mikrokreditprogramme exis-
tieren Komponenten, um die unternehmerische Qualifikation der Kredit-
nehmerinnen/Kreditnehmer zu fördern und/oder Fehlinvestitionen vermei-
den zu helfen (bitte konkrete Projekte benennen)?

9. In wie vielen und in welchen der geförderten Mikrokreditprogramme exis-
tieren Komponenten, um sicherzustellen, dass die Kreditnehmerinnen/Kre-
ditnehmer bei Insolvenz nicht ihre Lebensgrundlage verlieren (bitte kon-
krete Projekte benennen)?

a) Wie bewertet die Bundesregierung Vorfälle wie das „house breaking“?

b) Sind ihr weitere Vorfälle ähnlicher Natur bekannt?

10. In wie vielen und in welchen der geförderten Mikrokreditprogramme exis-
tieren Komponenten, um sicherzustellen, dass auch die Ärmsten an Mikro-
kreditprogrammen partizipieren können (bitte konkrete Projekte benennen)?

11. Wie hoch sind die Zinssätze bei Mikrofinanzprojekten, die die Bundesrepu-
blik Deutschland fördert?

a) Wie bewertet die Bundesregierung die häufig sehr hohen Zinslasten für
Kreditnehmerinnen/Kreditnehmer?

b) Ist es aus Sicht der Bundesregierung möglich, Mikrokreditsysteme zu
etablieren, die mit moderaten Zinsbelastungen operieren?

12. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass Mikrokredite die Ärmsten
der Armen nicht erreichen?

a) Wenn ja, welche Ursachen sieht die Bundesregierung hierfür?

b) Wenn nein, aufgrund welcher konkreten Evaluierungsergebnisse kommt
sie zu dieser Schlussfolgerung?

13. Ist im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit eine umfas-
sende empirische Untersuchung zur Frage vorgesehen, ob, und wenn ja, in
welchem Umfang und über welche Mechanismen, Mikrokreditprojekte tat-

sächlich zur Armutsbekämpfung sowie zur gesamtwirtschaftlichen Entwick-
lung und Modernisierung beitragen?

Drucksache 17/2527 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
a) Wenn ja, wann ist mit der Veröffentlichung einer solchen Studie zu
rechnen?

b) Wenn nein, wieso sieht die Bundesregierung keinen Bedarf für eine sol-
che Studie?

c) Wie schätzt die Bundesregierung die gesamtwirtschaftlichen Effekte
von Mikrokrediten ein, und woraus ergibt sich die Einschätzung?

14. Welche Möglichkeiten werden genutzt, um andere Formen (kommunale;
gemeinschaftliche; genossenschaftliche) der Eigentumssicherung und -meh-
rung sowie gemeinschaftlich geleistete Arbeit zu fördern?

Was sind das für Projekte (bitte konkret benennen), und wie hoch sind die
dafür aufgewandten Mittel?

a) Sind hier weitere alternative Möglichkeiten in Planung, oder gibt es
Überlegungen hierzu?

b) Welche weiteren alternativen Möglichkeiten sind der Bundesregierung
bekannt, die weder angewendet werden noch in Planung sind?

c) Welche Vor- und Nachteile sieht die Bundesregierung bei diesen alter-
nativen Möglichkeiten im Vergleich zum System der Mikrofinanzkre-
dite?

15. In welchem Umfang fördert das Bundesministerium für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung konditionierte Sozialprogramme (condi-
tioned cash transfers, CCT) in Entwicklungsländern, in denen nicht rück-
zahlbare Zuschüsse zum Lebensunterhalt gewährt werden?

Was sind das für Projekte (bitte konkret benennen)?

16. Gedenkt die Bundesregierung die Zahl derartiger Projekte zu vergrößern
oder deren finanzielle Unterstützung auszubauen?

17. Berät die Bundesregierung in ihrer Entwicklungszusammenarbeit die ent-
sprechenden Stellen in Partnerländern dahingehend, dass sie die Märkte für
Mikrokredite regulieren, um zu verhindern, dass private Interessen und
Akteure die Bemühungen zur Armutsbekämpfung zur Mehrung privaten
Reichtums missbrauchen?

a) Wenn ja, in welchen Ländern geschieht das, und (bitte konkrete Länder-
beispiele nennen) haben diese eine entsprechende Bankgesetzgebung
verabschiedet?

b) Welche Beratungsmaßnahmen werden in diesem Zusammenhang Kre-
ditnehmerinnen/Kreditnehmern geboten?

18. Wie bewertet die Bundesregierung die häufig sehr frühen Rückzahlungs-
pflichten für Kleinkredite?

a) Wirkt die Bundesregierung darauf hin, dass durch zu frühe Rückzah-
lungspflichten im Rahmen geförderter Projekte nicht die Ziele des
Mikrofinanzkredits konterkariert werden?

b) Wie stellen sich die Rückzahlungsintervalle im Regelfall im Rahmen
geförderter Projekte dar?

Berlin, den 8. Juli 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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