BT-Drucksache 17/2480

Neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff einführen - Chancen zu nötigen Veränderungen nutzen

Vom 7. Juli 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/2480
17. Wahlperiode 07. 07. 2010

Antrag
der Abgeordneten Hilde Mattheis, Dr. Karl Lauterbach, Bärbel Bas, Petra Crone,
Petra Ernstberger, Elke Ferner, Dr. Edgar Franke, Iris Gleicke, Angelika Graf
(Rosenheim), Christel Humme, Ute Kumpf, Steffen-Claudio Lemme, Caren Marks,
Thomas Oppermann, Mechthild Rawert, Dr. Carola Reimann, Ewald Schurer,
Dr. Marlies Volkmer, Dr. Frank-Walter Steinmeier und der Fraktion der SPD

Neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff einführen – Chancen zu nötigen Veränderungen
nutzen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Seit Einführung der Pflegeversicherung 1995 wird der Begriff der Pflegebedürf-
tigkeit (§ 14 des Elften Buches Sozialgesetzbuch – SGB XI) kritisch diskutiert.
Er gilt als zu eng, zu verrichtungsbezogen und zu einseitig somatisch ausgerich-
tet. Hauptkritikpunkt ist dabei, dass wichtige Aspekte wie die soziale Teilhabe
unberücksichtigt bleiben.

Unter der früheren Bundesministerin für Gesundheit, Ulla Schmidt, wurde des-
halb am 10. Oktober 2006 ein Beirat zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeits-
begriffs einberufen. Er erhielt den Auftrag, konkrete, wissenschaftlich fundierte
Vorschläge für einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und ein damit verbunde-
nes neues Begutachtungsverfahren zu erarbeiten.

Seit dem 29. Januar 2009 liegt der Abschlussbericht des Beirats vor. Ausgangs-
punkte für die darin enthaltenen Vorschläge für einen neuen Pflegebedürftig-
keitsbegriff und für ein neues Begutachtungsassessment (NBA) sind dabei eine
stärkere Orientierung am Teilhabeanspruch pflegebedürftiger Menschen und die
Überwindung der bisher fast vollständigen Ausrichtung auf körperbezogene
Hilfeleistungen. Personen mit kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen
sollen besser berücksichtigt werden. Das NBA orientiert sich am Selbständig-
keitsgrad pflegebedürftiger Menschen, statt an deren Defiziten und Unver-
mögen. Damit soll eine ganzheitliche und kontextbezogene Wahrnehmung der
Lebenslagen pflegebedürftiger Menschen erzielt werden. An die Stelle der bis-
herigen drei Pflegestufen sollen fünf Bedarfsgrade treten.

Am 20. Mai 2009 legte der Beirat einen zusätzlichen Umsetzungsbericht mit
möglichen Strategien und konkreten Implementierungsschritten vor. Darin wer-

den fünf verschiedene Umsetzungsszenarien dargestellt, eine Stichtagsregelung
für die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs empfohlen und die
Wichtigkeit des Bestandschutzes für die jetzigen Leistungsempfänger der Pfle-
geversicherung betont. Der Beirat zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeits-
begriffs wird seine Arbeit im Sommer 2010 beenden. Der neue Pflegebedürftig-
keitsbegriff und das NBA bieten die Chance zu grundlegenden und nötigen
Veränderungen der Pflege in Deutschland.

Drucksache 17/2480 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Die Bundesregierung hat sich in ihrem Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU
und FDP vom 26. Oktober 2009 zu einer neuen, differenzierteren Definition der
Pflegebedürftigkeit bekannt und angekündigt, die erarbeiteten Vorschläge „auf
die Gestaltung der Pflegeversicherung und auch die Zusammenhänge mit ande-
ren Leistungssystemen“ hin zu überprüfen.

II. Der Deutsche Bundestag begrüßt,

– die Ergebnisse des Beirats zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs
und dankt ihm für seine Arbeit;

– den Vorschlag für ein neues Begutachtungsassessment. Es kann dazu beitra-
gen, Ungerechtigkeiten bei der Einschätzung der Beeinträchtigungen von
Menschen abzubauen und Ungleichbehandlungen zwischen Menschen oder
ganzen Gruppen mit verschiedenen Beeinträchtigungen zu vermeiden. Mit
seiner modularen Struktur bildet das NBA die für die Einstufung in eine Pfle-
gebedürftigkeit relevanten Aktivitäten und Lebensumstände besser ab.

III. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

– Der geltende Pflegebedürftigkeitsbegriff des SGB XI ist mit seiner aus-
schließlich auf den Hilfebedarf bei Alltagsverrichtungen ausgerichteten Be-
urteilungsgrundlage gemessen an den heutigen pflegewissenschaftlichen Er-
kenntnissen nicht mehr zeitgemäß.

– Die Verwendung des Faktors Zeit ist als Bemessungsgröße für das Ausmaß
der im Einzelfall benötigten Hilfen nach pflegewissenschaftlichen Erkennt-
nissen nicht mehr sachgerecht.

– Der geltende Pflegebedürftigkeitsbegriff berücksichtigt bei der Begutach-
tung die spezifischen Bedürfnisse von Kindern und Menschen mit psychi-
schen und kognitiven Beeinträchtigungen nicht ausreichend.

IV. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

– den Bundestag zu unterrichten, zu welchen Ergebnissen sie bei der in ihrem
Koalitionsvertrag vom 26. Oktober 2009 angekündigten Prüfung der Aus-
wirkungen eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs auf die Gestaltung der
Pflegeversicherung und auf andere Leistungssysteme gekommen ist;

– die Implementierung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs als Instrument
zu nutzen, einen Paradigmenwechsel herbeizuführen – hin zu einer ganzheit-
lichen Sicht auf den pflegebedürftigen Menschen mit seinem Recht auf
Selbstbestimmung und Teilhabe und den damit notwendigen Veränderungen
der Pflege in Deutschland;

– angesichts der demografischen Herausforderung die Wahrung eines solidari-
schen Beitrags zu den Kosten der Pflege weiterhin als eine gesellschaftliche
Aufgabe anzusehen;

– einen Gesetzentwurf zur Implementierung des neuen Pflegebedürftigkeits-
begriffs vorzulegen, der folgende Punkte berücksichtigt:

● Gewährung eines klar definierten Bestandschutzes gegenüber den Pflege-
bedürftigen, die nach jetzigem Recht Leistungen aus der Pflegeversiche-
rung beziehen,

● Verbesserung von Zusammenspiel und Durchlässigkeit der einzelnen Sys-
teme, z. B. der ambulanten und der stationären Versorgung, damit sich die
beabsichtigten Effekte des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs (Teilhabe-
anspruch, höhere individuelle Selbständigkeit) voll entfalten können,

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/2480

● Lösung für die Handhabung mit den Überschneidungsbereichen der Kran-
ken-, Pflege-, Hilfe- und Versorgungsplanung im Rahmen des SGB XI,

● Stärkung von Pflegeberatung und zivilgesellschaftlichen Arrangements.

Berlin, den 7. Juli 2010

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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