BT-Drucksache 17/2145

Potenziale des Alters und des Alterns stärken - Die Teilhabe der älteren Generation durch bürgerschaftliches Engagement und Bildung fördern

Vom 16. Juni 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/2145
17. Wahlperiode 16. 06. 2010

Antrag
der Abgeordneten Petra Crone, Angelika Graf (Rosenheim), Petra Ernstberger,
Iris Gleicke, Christel Humme, Ute Kumpf, Caren Marks, Franz Müntefering, Aydan
Özog˘uz, Thomas Oppermann, Sönke Rix, Marlene Rupprecht (Tuchenbach),
Stefan Schwartze, Andrea Wicklein, Dagmar Ziegler, Dr. Frank-Walter Steinmeier
und der Fraktion der SPD

Potenziale des Alters und des Alterns stärken – Die Teilhabe der älteren Generation
durch bürgerschaftliches Engagement und Bildung fördern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

2050 wird jeder dritte Bundesbürger älter als 60 Jahre sein. Dieser demographi-
sche Prozess kann nur gemeinsam mit den älteren Menschen gestaltet werden.
Die ältere Generation verfügt über Kompetenzen und Potenziale, die für unsere
Gesellschaft einen nicht zu unterschätzenden Wert darstellen. Ältere Menschen
sind aktiv, mobil und äußern ihre Wünsche und Bedürfnisse nach einer selbst-
ständigen und individuellen Lebensführung. Auch als Verbraucherinnen und Ver-
braucher werden Seniorinnen und Senioren immer wichtiger: Laut Deutschem
Institut für Wirtschaftsforschung verfügt die Generation der über 60-Jährigen
bereits heute über eine Kaufkraft von 316 Mrd. Euro. Jetzige Seniorinnen und
Senioren sind damit die Seniorengeneration mit der größten Konsumkraft aller
Zeiten. Diese Entwicklung wird sich verstetigen. Das hat Auswirkungen auf den
Verbraucherschutz, der sich stärker als bisher an den Seniorinnen und Senioren
wird orientieren müssen. Für eine Stärkung der Potenziale des Alters sind der
Abschlussbericht der Enquête-Kommission „Demographischer Wandel“ des
Deutschen Bundestages, der Schlussbericht der Enquête-Kommission „Zukunft
des bürgerschaftlichen Engagements“ (Bundestagsdrucksache 14/8900), der
Abschlussbericht der Enquête-Kommission „Kultur in Deutschland“ (Bundes-
tagsdrucksache 16/7000), der Fortschrittsbericht 2008 zur nationalen Nachhal-
tigkeitsstrategie (Bundestagsdrucksache 16/10700) und der Fünfte Bericht zur
Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland (Bundestags-
drucksache 16/2190) wichtige politische Grundlagen.

Der Fünfte Altenbericht aus dem Jahr 2005 beschreibt eindrucksvoll die Poten-
ziale des Alters in Familien und privaten Netzwerken sowie die Bedeutung von
Engagement und Teilhabe älterer Menschen. Die demographische Entwicklung

in unserer Gesellschaft eröffnet uns die Möglichkeit, diese Potenziale sowohl für
den Zusammenhalt der Gesellschaft als auch zur Steigerung der Lebensqualität
von älteren Menschen zu nutzen. Der Sechste Altenbericht, der der Bundes-
regierung vorliegt, greift die Frage nach den vorherrschenden Altersbildern und
ihrer gesellschaftlichen Wirkung auf. Er soll maßgeblich dazu beitragen, mo-
derne, realistische und zukunftsgerichtete Altersbilder herauszuarbeiten und

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durch eine öffentliche Debatte in der Gesellschaft zu verankern. Eine Weiterent-
wicklung der Erkenntnisse des Fünften Altenberichts ist leider nicht vorgesehen.

In einer Gesellschaft mit einem größer werdenden Anteil älterer Menschen müs-
sen Politik, Gesellschaft und Wirtschaft deren Teilhabe, Selbstverantwortung
und soziale Integration aktivieren und stärken und ihre Potenziale gezielt för-
dern. Die Erfahrungen und Fähigkeiten der Älteren tragen erheblich zur Stär-
kung der Demokratie, zur Solidarität zwischen den Generationen, zur gesell-
schaftlichen Innovation und zur Sicherung des sozialen Zusammenhalts bei.
Wichtige Aspekte sind dabei das bürgerschaftliche Engagement älterer Men-
schen, eine wirksame Antidiskriminierungspolitik sowie die Bildung im Le-
bensverlauf und im höheren Erwachsenenalter.

1. Engagement und Teilhabe älterer Menschen

Ältere Menschen gestalten und prägen die Gesellschaft: mit ihrer Erfahrung, ih-
rem Wissen, ihren Fähigkeiten und ihrem Engagement. Aufgrund der steigenden
Lebenserwartung haben sie mehr Zeit, sich in unsere Gesellschaft einzubringen.
Sie fordern Möglichkeiten zum freiwilligen Engagement auch mit Nachdruck
ein. Politik und Gesellschaft sind aufgefordert, entsprechende Rahmenbedin-
gungen zu schaffen, um älteren Menschen das Mitgestalten und Mitentscheiden
zu ermöglichen. Dazu bedarf es der Kooperation mit öffentlichen Institutionen,
allen gesellschaftlichen Gruppen, mit Verbänden und mit der Wirtschaft. Insbe-
sondere die Zusammenarbeit mit Seniorenbeiräten, Sozialverbänden, Senioren-
organisationen und Gewerkschaften ist hier zu nennen.

Etwa 23 Millionen Bürgerinnen und Bürger engagieren sich ehrenamtlich und
sind bereit, sich in ihrem Umfeld mit ihren Kompetenzen und Begabungen ein-
zubringen. Sie sind damit ein unverzichtbarer Bestandteil der Demokratie. Als
alltäglich gelebte und erlebte Solidarität eröffnet bürgerschaftliches Engage-
ment Perspektiven für ein friedliches und für die Gemeinschaft fruchtbares Mit-
einander der Generationen. Dieses Engagement ist kein Ersatz für Sozialleistun-
gen, sondern ein wichtiger Beitrag für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft.
Tausende ältere Freiwillige leisten einen wertvollen Beitrag in Hospizen, Pfle-
geheimen, Behinderteneinrichtungen, Selbsthilfegruppen, aber auch für das kul-
turelle öffentliche Leben in den Kommunen, z. B. in Museen, bei Stadtführun-
gen oder in Büchereien.

Um das Miteinander der Generationen durch das freiwillige Engagement zu
stärken, hat das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in
den Jahren 2005 bis 2008 das bundesweite Modellprogramm „Generationsüber-
greifende Freiwilligendienste“ erfolgreich durchgeführt. Rund 9 000 Freiwillige
aller Altersgruppen engagierten sich in verschiedenen Einsatzfeldern, z. B. in
Kindergärten, Schulen, Familien, Stadtzentren, stationären Einrichtungen und
Hospizen. Sie ergänzten bei fast 140 Trägern in über 1 600 Einsatzstellen die
Arbeit der qualifizierten Fachkräfte. Mit den hier geschaffenen Strukturen, ins-
besondere auch durch die Netzwerkbildung und Bündelung der Ressourcen und
Erfahrungen zwischen den Trägern, wurden die Grundlagen für die „Freiwilli-
gendienste aller Generationen“ geschaffen.

Mit diesem Modellprogramm soll das flexible, allen Altersgruppen offenste-
hende Angebot Schritt für Schritt bundesweit flächendeckend umgesetzt und
mit den Strukturen vor Ort vernetzt werden. Die positiven Erfahrungen beim
Einsatz von Freiwilligen aller Altersgruppen unter verbindlichen Qualitätsstan-
dards sollen genutzt werden, um Institutionen und Organisationen für die Inte-
gration von Menschen zu gewinnen, die sich für das bürgerschaftliche Engage-
ment interessieren.

Derzeit erleben wir einen wichtigen Diskussionsprozess zu den Altersbildern

und den Potenzialen älterer Menschen. Dieser Diskussionsprozess hilft, Diskri-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/2145

minierungen aufgrund des Alters abzubauen. Das Allgemeine Gleichbehand-
lungsgesetz (AGG) war ein wichtiger Schritt, um den Schutz vor Diskriminie-
rung auszuweiten und damit die Teilhabe von älteren Menschen an der
Gesellschaft zu verbessern.

Altersdiskriminierungen dürfen nicht als Kavaliersdelikte behandelt werden.
Insbesondere sollte die durch das AGG eingesetzte Antidiskriminierungsstelle
des Bundes beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
die Bekämpfung von Diskriminierung zukünftig verstärken. Neue realistische
Altersbilder müssen befördert werden. Denn ein Viertel aller Anfragen an die
Antidiskriminierungsstelle bezieht sich auf das Merkmal Alter.

Dabei ist zu beachten, dass die Lebensverhältnisse älterer Menschen verschie-
den sind. Genau wie jüngere Menschen unterscheiden sie sich in ihrer körperli-
chen und geistigen Leistungsfähigkeit, in ihren Interessen und in der Gestaltung
ihres Alltags. Den älteren Menschen, die einen besonderen Unterstützungsbe-
darf haben, muss die notwendige Hilfe bereitgestellt werden.

2. Bildung im und für das Alter

Der Begriff des lebenslangen Lernens ist angesichts der steigenden Lebenser-
wartung und des stetig steigenden Anteils älterer Menschen an unserer Gesell-
schaft in aller Munde. Dennoch steht die ältere Generation selbst kaum im Fokus
der Bildungsdebatte. Für sie muss das Schlagwort lebenslanges Lernen mit Le-
ben gefüllt werden, ohne hierbei den Aspekt der Freiwilligkeit zu vergessen.
Lernen ist dabei mehr als nur Wissenserwerb und zielt vor allem auf die soziale
Teilhabe und die Steigerung der Lebensqualität. Es gilt, einen neuen gesell-
schaftlichen Bildungsauftrag für ein lebenslanges Lernen anzunehmen und die-
sen strukturell auszugestalten – in Bund, Ländern und Gemeinden. Insbesondere
schulisch und betrieblich gering Qualifizierten sowie Migrantinnen und Migran-
ten muss dabei eine besondere Aufmerksamkeit zukommen. In einer Gesell-
schaft, in der Wissen eine wichtige Ressource ist, müssen diese Bevölkerungs-
gruppen durch verstärkte Bildungsinvestitionen gefördert werden.

Bildung ist für Menschen ein Leben lang die Voraussetzung, um in der sich wan-
delnden Arbeitswelt Schritt zu halten, die eigene Beschäftigungsfähigkeit abzu-
sichern und um sich in einer immer komplexer werdenden Welt zu orientieren.
Lernen für das Alter umfasst die gesamte Lebensspanne und zieht wie auch das
Lernen im Alter positive Konsequenzen für das Individuum sowie für unsere
Gesellschaft nach sich. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Menschen unter-
schiedliche Voraussetzungen und Lernbedürfnisse haben. Es ist insbesondere zu
beachten, dass der Anteil der älteren Menschen mit geistiger Behinderung er-
heblich gestiegen ist und deren besondere Bedürfnisse berücksichtigt werden.

Lernen im mittleren und höheren Erwachsenenalter ist stark dem Vorbehalt aus-
gesetzt, dass das Lernen schwerer fällt, je älter der Mensch wird. Doch kann eine
Abnahme der Lernkapazität häufig durch andere Kompetenzen eines älteren
Menschen kompensiert werden. So können über die Jahre erworbene Hand-
lungs- und Organisationskompetenzen Defizite bei der Verarbeitungsgeschwin-
digkeit, der Psychomotorik oder des Arbeitsgedächtnisses ausgleichen. Der
Fünfte Altenbericht der Bundesregierung belegt anschaulich, wie bedeutsam die
langjährig erworbenen Kompetenzen und Fertigkeiten vor allem bei komplexen
Fragestellungen und Entscheidungen sind.

Die in vielen industrialisierten Ländern übliche Einteilung des Lebenslaufes in
eine erste Phase der Bildung (Jugend), in eine zweite der Berufstätigkeit (mitt-
leres Alter) und in eine dritte der Freizeit (höheres Alter) ist nicht mehr zukunfts-
fähig. Eine Gleichzeitigkeit von Bildung, Erwerbstätigkeit und Freizeit in allen
Phasen des Lebenslaufs eröffnet neue Chancen: für das Lernen, für die beruf-

liche Entwicklung und für bürgerschaftliches Engagement. Es sollten verstärkt

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Mittel wie z. B. berufliche Auszeiten wie Sabbatjahre oder die Anhebung von
Altersgrenzen bei Weiterbildung und ehrenamtlichem Engagement unterstützt
werden.Weiterbildung sollte zur vierten Säule des Bildungssystems ausgebaut
werden, um mehr Menschen Chancengleichheit im gesamten Verlauf des le-
benslangen Lernens sowie ein durchlässiges Bildungssystem zu ermöglichen.

Lernen hat auch im höheren Erwachsenenalter positive Auswirkungen auf die
Gesundheit, die Alltagskompetenz, die Selbstbestimmtheit und damit insgesamt
auf die Lebensqualität älterer Menschen. Bildung für das Alter und im Alter
fördert ein verbessertes Gesundheitsbewusstsein der und des Einzelnen und er-
reicht das Hinausschieben von (Alters-)Erkrankungen. Sie ist eine gute Voraus-
setzung für ein aktives Leben, fördert die Teilhabe in unserer Gesellschaft und
den intergenerationellen Austausch. Allgemeine Weiterbildungsmaßnahmen für
das Alter sowie der Ausbau von generationenübergreifenden Angeboten müssen
daher gezielt gefördert werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

● die generationsübergreifenden Freiwilligendienste auszubauen und zu ver-
stetigen und soziale Ungleichheiten des Engagements abzubauen;

● die Infrastruktur für das Engagement Älterer wie z. B. Mehrgenerationen-
häuser, Seniorenbüros, Freiwilligenagenturen oder Ehrenamtsbörsen auszu-
bauen und zu verstetigen;

● Altersgrenzen insbesondere beim bürgerschaftlichen Engagement gezielt zu
überprüfen und entsprechend abzubauen;

● mehr Bewusstsein und Anerkennung für bürgerschaftliches Engagement in
der Öffentlichkeit zu schaffen;

● die ablehnende Haltung zur Umsetzung des Vorschlags für eine Richtlinie des
Rates zur Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung ungeachtet der
Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der
sexuellen Ausrichtung (KOM(2008) 426) in der Europäischen Union und in
Deutschland aufzugeben;

● die Antidiskriminierungspolitik des Bundes insbesondere durch die Antidis-
kriminierungsstelle zu befördern und Altersdiskriminierung aktiv zu be-
kämpfen;

● die Vernetzung zwischen Senioren-, Wirtschafts-, Verbraucherverbänden und
Politik voranzutreiben, um Standards bei generationengerechten Produkten
zu setzen und Probleme im Verbraucheralltag früher zu erkennen;

● das Prinzip des lebenslangen Lernens gezielt in Initiativen, Projekten und
Programmen voranzubringen. Dabei müssen die besonderen Bedürfnisse von
älteren Menschen hinsichtlich der Lerninhalte, -orte, -formen und -bedingun-
gen berücksichtigt werden;

● die Beteiligung insbesondere älterer Menschen mit niedrigem Einkommen
und niedriger Qualifikation an Weiterbildung deutlich zu erhöhen und zu die-
sem Zweck das Weiterbildungssparen stärker auf die Belange dieser Men-
schen zuzuschneiden;

● auf die Länder einzuwirken, älteren Menschen mit niedrigen Bildungsab-
schlüssen den Zugang zu akademischen Fort- und Weiterbildungen zu er-
leichtern;

● die besonderen Bedürfnisse von älteren Menschen mit geistiger Behinderung
bei der Entwicklung von Konzepten zum lebenslangen Lernen stärker als bis-

her zu berücksichtigen, um deren Inklusion und Selbstbestimmung zu för-
dern;

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● die Initiativen zur Stärkung von Bildung und Weiterbildung älterer Menschen
durch ein bundeseinheitliches Präventionsgesetz zu ergänzen;

● gemeinsam mit den Ländern einen nationalen Pakt für die Erwachsenenbil-
dung unter Beteiligung von Politik, Wirtschaft und Bildungsträgern zu ini-
tiieren, um die Bildungsbeteiligung erwachsener Menschen im gesamten
Lebensverlauf zu erhöhen, den Weiterbildungssektor übersichtlicher zu ge-
stalten und die Angebotsstruktur auch im ländlichen Raum zu verbessern;

● das Bundesprogramm „Lernende Regionen – Förderung von Netzwerken“
für den Auf- und Ausbau von regionalen Netzwerken des Lebenslangen Ler-
nens zu evaluieren und insbesondere die Angebote für Ältere in ländlichen
Gebieten auszubauen;

● das EU-Programm „GRUNDTVIG“ zu evaluieren und die Verstetigung des
Programms zu prüfen;

● gemeinsam mit den Ländern die Alters- und Alternsforschung sowie geron-
tologische Studiengänge in Universitäten und Fachhochschulen verstärkt zu
fördern;

● gemeinsam mit den Ländern und Kommunen Altersgrenzen zu überprüfen,
damit Bildungsmaßnahmen auch im höheren Erwachsenenalter stärker ge-
nutzt werden;

● neue Modellprogramme für seniorengerechte Schulungsmaßnahmen vor al-
lem im Bereich der neuen Medien zu initiieren.

Berlin, den 16. Juni 2010

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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