BT-Drucksache 17/2122

Demokratische Teilhabe von Belegschaften und ihren Vertretern an unternehmerischen Entscheidungen stärken

Vom 16. Juni 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/2122
17. Wahlperiode 16. 06. 2010

Antrag
der Abgeordneten Ottmar Schreiner, Anette Kramme, Petra Ernstberger, Iris
Gleicke, Hubertus Heil (Peine), Gabriele Hiller-Ohm, Josip Juratovic, Angelika
Krüger-Leißner, Ute Kumpf, Gabriele Lösekrug-Möller, Katja Mast, Thomas
Oppermann, Anton Schaaf, Silvia Schmidt (Eisleben), Dr. Frank-Walter Steinmeier
und der Fraktion der SPD

Demokratische Teilhabe von Belegschaften und ihren Vertretern an
unternehmerischen Entscheidungen stärken

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Wir brauchen mehr demokratische Teilhabe von Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmern in Unternehmen. Damit soll die alleinige Orientierung der Unter-
nehmen an der Profitmaximierung verhindert werden. In Deutschland sorgen
das Drittelbeteiligungsgesetz, das Mitbestimmungsgesetz und das Montanmit-
bestimmungsgesetz für eine demokratische Teilhabe der Belegschaft und ihrer
Vertreter an unternehmerischen Entscheidungen. In Kapitalgesellschaften mit
mehr als 500 Beschäftigten stellen die Arbeitnehmer ein Drittel der Sitze im
Aufsichtsrat. In Kapitalgesellschaften mit mehr als 2 000 Beschäftigten ist der
Aufsichtsrat paritätisch besetzt. Allerdings hat der Aufsichtsratsvorsitzende,
der immer der Anteilseignerseite angehört, eine Doppelstimme. In Unterneh-
men der Montanindustrie mit mehr als 1 000 Beschäftigten herrscht eine echte
Parität. Eine von beiden Seiten benanntes „neutrales Mitglied“ kann bei einem
Stimmenpatt den Ausschlag geben. Die Schwellenwerte für das Erreichen der
Drittelbeteiligung und für das Mitbestimmungsgesetz sind vor dem Hinter-
grund steigender Produktivität nicht mehr zeitgemäß.

Gewinnmaximierung durch Lohnkostenminimierungen

Deutschland ist das einzige Land in der Europäischen Union, in dem die Real-
löhne im Durchschnitt nicht gestiegen sind, sondern seit bald zwei Jahrzehnten
stagnieren. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden demnach in Deutsch-
land am wachsenden Wohlstand real nicht mehr beteiligt. Dieser Umstand spie-
gelt sich auch in der historisch niedrigen Lohnquote und der steigenden Armut
wider. Mit ursächlich hierfür ist das Shareholder-Value-Prinzip, das einzig und

allein das Eigentümerinteresse nach raschen und hohen Profiten in den Mittel-
punkt des unternehmerischen Wirtschaftens stellt. Um so wichtiger ist eine
Weiterentwicklung und Stärkung der Mitbestimmung als Lehre aus der Krise.
Dazu gehört auch, die Mitbestimmung in zentralen unternehmerischen Ent-
scheidungen zu erweitern. Dies setzt einen gesetzlich vorgegebenen Katalog
zustimmungsbedürftiger Geschäfte voraus, der alle Maßnahmen der strategi-
schen Ausrichtung des Unternehmens, darunter Betriebsschließungen, Stand-

Drucksache 17/2122 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

ortverlagerungen und Unternehmensverkäufe umfassen sollte. Denn die Praxis
zeigt, dass die Zustimmungskataloge der Aufsichtsräte häufig zu knapp ausge-
staltet sind. Einer qualifizierten Minderheit im Aufsichtsrat von einem Drittel
seiner Mitglieder sollte zudem möglich sein, den Katalog zustimmungsbedürf-
tiger Geschäfte zu ergänzen.

Scheinauslandsgesellschaften umgehen deutsche Mitbestimmung

Durch sogenannte Scheinauslandsgesellschaften, also Unternehmen ausländi-
scher Rechtsform mit Verwaltungssitz oder Zweigniederlassung in Deutschland
bzw. deutschen Personengesellschaften mit ausländischem Komplementär, ver-
suchen eine steigende Zahl von Unternehmen, die deutsche Mitbestimmung zu
umgehen. Während im Jahr 2006 nur 17 in Deutschland ansässige Firmen mit
mindestens 500 Beschäftigten sich über eine ausländische Rechtsform – wie
zum Beispiel eine britische Limited oder eine niederländische B. V. – der deut-
schen Mitbestimmung entziehen konnten, sind es mittlerweile 37 (Hans-Böckler-
Stiftung). Mitbestimmungsfreie Zonen für Unternehmen ausländischer Rechts-
form in Deutschland müssen verringert werden, damit mehr Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer in den Schutzbereich der Unternehmensmitbestimmung
fallen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die gesetzlichen Voraussetzungen für die
Ausweitung der Unternehmensmitbestimmung durch Aufnahme folgender
Punkte schafft:

– die deutsche Mitbestimmung gesetzlich auf Unternehmen ausländischer
Rechtsform mit Verwaltungssitz oder Zweigniederlassung in Deutschland
bzw. deutschen Personengesellschaften mit ausländischem Komplementär
erstrecken;

– einen gesetzlichen Mindestkatalog zustimmungsbedürftiger Geschäfte für
zentrale unternehmerische Entscheidungen – insbesondere Betriebsschlie-
ßungen, Standortverlagerungen und Unternehmensverkäufe – im Aufsichts-
rat einführen. Einer qualifizierten Minderheit im Aufsichtsrat von einem
Drittel seiner Mitglieder sollte berechtigt sein, den Katalog zustimmungsbe-
dürftiger Geschäfte zu ergänzen;

– die Schwellenwerte für das Mitbestimmungsgesetz auf 1 000 Beschäftigte
und für das Drittelbeteiligungsgesetz auf 250 Beschäftigte verringern;

– die rechtliche und wirtschaftliche Gleichstellung zwischen Kapital und Ar-
beit über die „echte Parität“ durch eine neutrale Person im Aufsichtsrat und
gleichzeitige Abschaffung des Doppelstimmrechts des Aufsichtsratsvorsit-
zenden für alle Kapitalgesellschaften, die unter das Mitbestimmungsgesetz
von 1976 fallen, erzielen.

Berlin, den 15. Juni 2010

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/2122

Begründung

Die Mitbestimmung in Unternehmen ist ein wesentlicher Eckpfeiler unserer so-
zialen und demokratischen Gesellschaftsordnung. Mitbestimmung hat sich be-
währt. Aufgrund einer jüngeren Rechtsprechung des Europäischen Gerichts-
hofes (EuGH) zur völligen Niederlassungsfreiheit, können in Deutschland
ansässige Unternehmen mit einer ausländischen Rechtsform geführt werden.
Hierdurch ist es ihnen möglich, die deutsche Mitbestimmung zu umgehen. Für
die Beschäftigten heißt das: keine demokratische Teilhabe am Unternehmen
und damit keine Mitbestimmungsrechte. In den letzten vier Jahren ist der Anteil
von Firmen ausländischer Rechtsform deutlich gestiegen. Die europäische
Rechtsprechung billigt jedoch den nationalen Gesetzgebern einen Spielraum
für den Schutz von Arbeitnehmerinteressen zu, den es zu nutzen gilt. Die Un-
ternehmensmitbestimmung muss an die veränderten Rahmenbedingungen, an
die Europäisierung und Internationalisierung der Unternehmen angepasst wer-
den. Die Interessen der Menschen müssen im Vordergrund eines sozial verant-
wortbaren Wirtschaftens stehen – Stakeholder müssen Vorrang habe, Nachhal-
tigkeit muss vor Kurzfristigkeit stehen.

Kontrolle wirtschaftlicher Macht

Vor und in der Wirtschafts- und Finanzkrise haben Belegschaftsvertretungen
immer wieder Alternativkonzepte zu Standortverlagerungen oder Massenent-
lassungen eingebracht, um für die langfristigen Interessen ihres Unternehmens
zu kämpfen. Ohne dieses Engagement hätte uns die Krise viel stärker getroffen.
Daher ist Mitbestimmung zeitgemäßer denn je. Das ist die Lehre aus der jüngs-
ten Wirtschaftskrise. Unternehmensmitbestimmung ermöglicht zuvorderst die
Kontrolle wirtschaftlicher Macht.

Unternehmensmitbestimmung ist ein Standortvorteil

Mitbestimmung erhöht die Motivation und Produktivität der Mitarbeiter und
trägt wesentlich zum nachhaltigen, wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen
bei. Jedes ins Ausland verlagerte dritte Großunternehmen und sogar jedes
zweite Kleinunternehmen kehrt nach einiger Zeit nach Deutschland zurück
(Hans-Böckler-Stiftung). Umso wichtiger ist es, die Mitbestimmung bei we-
sentlichen unternehmerischen Entscheidungen durch einen gesetzlich vorge-
gebenen Katalog zustimmungsbedürftiger Geschäfte zu stärken, der auch
Standortverlagerungen umfassen sollte. Mitbestimmung ist ein Standortvorteil.
Die Volkswagen AG lebt das vor. Eine exzellente Marktposition ist bei Volks-
wagen nicht trotz, sondern wegen einer starken Mitbestimmung und damit
einer rechtlichen und wirtschaftlichen Gleichstellung von Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern erreicht worden.

Sozialer Frieden

Der soziale Frieden wird durch die Umgehung der Unternehmensmitbestim-
mung gefährdet. Studien zeigen hingegen, dass Volkswirtschaften von der Un-
ternehmensmitbestimmung profitieren. Unternehmen mit ausgedehnter Mitbe-
stimmung weisen eine gerechtere Einkommensverteilung auf, besitzen eine
gute wirtschaftliche Attraktivität, verfügen über eine starke Weltmarktposition
und der soziale Frieden ist weitestgehend sichergestellt.

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