BT-Drucksache 17/2043

Umsetzung der Berichtspflicht nach § 154 Absatz 4 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (,Überprüfungsklausel' zur Anhebung der Regelaltersgrenze) durch die Bundesregierung

Vom 9. Juni 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/2043
17. Wahlperiode 09. 06. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Anton Schaaf, Anette Kramme, Elke Ferner, Petra Ernstberger,
Iris Gleicke, Gabriele Hiller-Ohm, Josip Juratovic, Angelika Krüger-Leißner, Ute
Kumpf, Gabriele Lösekrug-Möller, Katja Mast, Thomas Oppermann, Silvia Schmidt
(Eisleben), Ottmar Schreiner, Dr. Frank-Walter Steinmeier und der Fraktion der
SPD

Umsetzung der Berichtspflicht nach § 154 Absatz 4 des Sechsten Buches
Sozialgesetzbuch („Überprüfungsklausel“ zur Anhebung der Regelaltersgrenze)
durch die Bundesregierung

Die Auswirkungen der demographischen Entwicklung auf die sozialen Siche-
rungssysteme wird in der Bundesrepublik Deutschland seit Jahrzehnten intensiv
diskutiert, wobei insbesondere die gesetzliche Rentenversicherung im Mittel-
punkt des Interesses stand. Bereits 1989 wurde unter Beteiligung der SPD mit
dem „Rentenreformgesetz 1992“ durch die Umstellung von der Brutto- auf die
Nettolohnorientierung der größte Beitragssatzanstieg für die Zukunft verhindert.
In diesem Gesetz war zudem bereits vorgesehen, das Renteneintrittsalter für den
abschlagsfreien Bezug der vorgezogenen Altersrenten mittelfristig heraufzu-
setzen. Eine Anhebung der Regelaltersgrenze über das 65. Lebensjahr ist in der
„Alterssicherungskommission“ der SPD im Jahr 1997 zwar eher kritisch bewer-
tet, aber als eine mögliche Option für die Zukunft benannt worden. Mit dem
„Gesetz zur Anpassung der Regelaltersgrenze an die demografische Entwick-
lung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Renten-
versicherung“ (RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz) im Jahr 2007 ist die auf
Wunsch des Koalitionspartners CDU/CSU in den Koalitionsvertrag aufgenom-
mene Anhebung der Regelaltersgrenze auf das vollendete 67. Lebensjahr um-
gesetzt worden. Dabei war für die SPD entscheidend, dass diese langfristige
Anhebung der Regelaltersgrenze nur dann sinnvoll und möglich ist, wenn die
Arbeitsmarktchancen älterer Menschen verbessert werden. Parallel zum RV-
Altersgrenzenanpassungsgesetz ist daher das „Gesetz zur Verbesserung der
Beschäftigungschancen älterer Menschen“ (Initiative 50plus) auf den Weg
gebracht worden. Im Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) ist zudem die
Verpflichtung formuliert worden, wonach „die Bundesregierung den gesetzge-
benden Körperschaften vom Jahre 2010 an alle vier Jahre über die Entwicklung
der Beschäftigung älterer Arbeitnehmer zu berichten und eine Einschätzung dar-
über abzugeben [hat], ob die Anhebung der Regelaltersgrenze unter Berücksich-
tigung der Entwicklung der Arbeitsmarktlage sowie der wirtschaftlichen und so-

zialen Situation älterer Arbeitnehmer weiterhin vertretbar erscheint und die ge-
troffenen gesetzlichen Regelungen bestehen bleiben können“ (§ 154 Absatz 4
SGB VI). Für diese „Überprüfungsklausel“ müssen nun Kriterien entwickelt
werden.

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Wir fragen die Bundesregierung:

I. Verfahren bei der Berichtspflicht nach § 154 Absatz 4 SGB VI

1. Beabsichtigt die Bundesregierung bei der Umsetzung der Berichtspflicht
nach § 154 Absatz 4 SGB VI, auch Sozialpartner, Sozialverbände und Wis-
senschaftlerinnen und Wissenschaftler an der Erstellung des Berichtes zu be-
teiligen?

2. Welchen Charakter wird der Bericht haben?

Soll ein eigenständiger Bericht vorgelegt werden oder wird nur im Rahmen
des zu erstellenden „Rentenversicherungsberichtes 2010“ berichtet?

II. Bedeutung der Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer

3. Nach welchen Prinzipien wird die Bundesregierung die Entwicklung der Be-
schäftigungsentwicklung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dar-
stellen und untersuchen?

Soll hier nur eine Querschnittsbetrachtung vorgenommen werden oder wird
– um einen statistischen Effekt unterschiedlich stark besetzter Jahrgänge zu
vermeiden – auch auf die Beschäftigungsentwicklung einzelner Geburtsjahr-
gänge abgestellt werden?

4. Ist sich die Bundesregierung darüber im Klaren, dass zur Bewertung der
Beschäftigungsentwicklung Älterer allein auf die Entwicklung der sozialver-
sicherungspflichtigen Beschäftigung abgestellt werden kann?

Wird die Bundesregierung hier entsprechende Daten vorlegen, die die
wöchentliche Arbeitszeit differenziert darstellen?

5. Liegen der Bundesregierung Informationen darüber vor, in welchen Beschäf-
tigungsverhältnissen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die das 55. Le-
bensjahr vollendet haben, tätig sind?

Wie hoch ist der Beschäftigungsanteil in prekärer Beschäftigung, also in
Leiharbeit, in befristeter Beschäftigung und in geringfügiger Beschäftigung?

6. Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung über die Wirksamkeit der
arbeitsmarktpolitischen Instrumente, die mit der „Initiative 50plus“ geschaf-
fen worden sind, vor?

Konnte insbesondere durch die erweiterte Befristungsmöglichkeit und die
Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei Auf-
nahme einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit die Beschäftigungs-
situation der über 55-Jährigen verbessert werden?

7. Wird bei der Bewertung der Entwicklung der Beschäftigungssituation nicht
nur eine Differenzierung nach Geschlecht und West- bzw. Ostdeutschland
vorgenommen, sondern auch nach Branchen?

8. Wird die Bundesregierung in ihrem Bericht die verzerrende Wirkung der
Altersteilzeit, wonach Personen, die sich in der Freistellungsphase befinden,
also de facto nicht mehr im Arbeitsleben stehen, aber sozial- und arbeitsrecht-
lich als Beschäftigte gelten, berücksichtigen?

9. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass die Frage der Neueinstellun-
gen von Älteren angesichts der demographischen Veränderungen eine der
entscheidenden Kriterien darstellt, ob sich die Beschäftigungssituation älte-
rer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verbessert?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/2043

10. Wird die Bundesregierung die Erhöhung des Erwerbspersonenpotenzials
durch die Anhebung der Regelaltersgrenze und die entsprechende Rückwir-
kung auf die Beschäftigungssituation Jüngerer berücksichtigen?

11. Welche Bedeutung wird der Entwicklung der Arbeitslosigkeit Älterer bei-
gemessen?

Wie hat sich hier sowohl der Anteil der Arbeitslosen als auch die Dauer der
Arbeitslosigkeit im Vergleich zu allen abhängig Beschäftigten entwickelt?

12. Wie bewertet die Bundesregierung die Entwicklung, wonach bei in den
nächsten Jahren in Rente gehenden Geburtsjahrgängen der Anteil derjeni-
gen, die Phasen der Arbeitslosigkeit in ihrer Versichertenbiographie aufwei-
sen, deutlich höher ist als bei den jetzt in die Regelaltersrente gehenden
Jahrgängen?

13. Hat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber, wie viele ältere Leistungs-
empfängerinnen und Leistungsempfänger nach dem Zweiten Buch Sozial-
gesetzbuch (SGB II) gesundheitlich eingeschränkt sind und deshalb Pro-
bleme bei der Vermittlung auf dem Arbeitsmarkt haben?

14. Wie bewertet die Bundesregierung Vorschläge, wonach bei gesundheitlich
eingeschränkten älteren Bezieherinnen und Bezieher von Leistungen nach
dem SGB II Beschäftigungsgelegenheiten in der Entgeltvariante zu schaffen
sind?

III. Bedeutung der Einkommenssituation

15. Welchen Stellenwert wird die Bundesregierung der Einkommenssituation
älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beimessen?

Wird in dem Bericht eine Einschätzung über die gesamten Alterseinkünfte
der in den nächsten Jahren in die Rente gehenden Jahrgänge vorgenommen
werden?

16. Wie hoch ist der Anteil der älteren Beschäftigten, die gegenwärtig im Nied-
riglohnsektor beschäftigt sind, und wie hat sich deren Anteil in den letzten
Jahren entwickelt?

Kann die Bundesregierung Auskunft darüber geben, wieviel ältere Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer Brutto-Stundenlöhne von weniger als
8 Euro die Stunde erhalten?

17. Welche Bedeutung misst die Bundesregierung dem Risiko der Altersarmut
– definiert als Bezug von Leistungen der Grundsicherung im Alter nach
dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) – in den nächsten Jahren
bei?

18. Wie bewertet die Bundesregierung die Tatsache, dass die Träger der Grund-
sicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II Leistungsempfängerinnen
und Leistungsempfänger, die die Voraussetzungen einer vorgezogenen Al-
tersrente erfüllen, mit dem vollendeten 63. Lebensjahr auch gegen ihren
Willen aus dem SGB II aussteuern können?

Wie groß schätzt die Bundesregierung den Personenkreis, der in den nächs-
ten Jahren hiervon betroffen sein kann, ein, und welche Bedeutung misst sie
den Auswirkungen der Abschläge auf die Altersrente bei?

IV. Bedeutung der Übergänge aus dem Erwerbsleben in die Altersrente

19. Wie hat sich in den Rentenzugängen der Jahre 2000 bis 2009 der Anteil der-
jenigen, die in den drei Jahren vor dem Rentenzugang durchgehend sozial-

versicherungspflichtig beschäftigt waren, entwickelt?

Drucksache 17/2043 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Wie hat sich spiegelbildlich der Anteil derjenigen verändert, die in den drei
Jahren vor dem Rentenzugang durchgehend erwerbslos waren (jeweils ge-
trennte Angaben für die Zugänge in die Regelaltersrente und eine vorgezo-
gene Altersrente)?

20. Kann die Bundesregierung Unterschiede im Rentenzugang (Zeitpunkt und
Art des Rentenzugangs) feststellen zwischen den Versicherten, die nach Voll-
endung des 50. Lebensjahres überwiegend erwerbstätig waren, und denen,
die überwiegend erwerbslos waren?

21. Wie bewertet die Bundesregierung, dass der Anteil der Regelaltersrente an
allen neu bewilligten Altersrenten von 2000 an stetig zugenommen hat, aber
seit 2007 eine Stagnation zu verzeichnen ist?

22. Hält die Bundesregierung es für notwendig, die Anhebung der Regelalters-
grenze durch flexible Übergänge aus dem Erwerbsleben in die Rente, die die
Finanzen der Rentenversicherung nicht belasten, zu ergänzen?

Welche Bedeutung können hierbei verbesserte rechtliche Regelungen bei
der Teilrente und die Möglichkeit, Zusatzbeiträge zur Rentenversicherung
zu entrichten, haben?

23. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass die Stagnation des durch-
schnittlichen Rentenzugangsalters seit 2005 in erster Linie den unterschied-
lich stark besetzten Jahrgängen (Brussig, Martin: Künftig mehr Zugänge in
Altersrenten absehbar, Altersübergangs-Report, Nr. 2010-02) geschuldet ist?

V. Bedeutung der Absicherung gesundheitlich eingeschränkter älterer Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer

24. Wie erklärt die Bundesregierung den in den letzten Jahren zu beobachten-
den Rückgang der Zahlbeträge bei Renten wegen voller Erwerbsminderung
in den Rentenzugängen der letzten Jahre?

Welche Annahmen bestehen über die Höhe der Erwerbsminderungsrenten
bei den Zugängen der nächsten Jahre?

25. Welche Auswirkungen wird die Anhebung der Regelaltersgrenze auf die
Versicherten haben, die erst nach Vollendung des 60. Lebensjahres eine Er-
werbsminderungsrente beziehen?

26. Liegen der Bundesregierung Informationen darüber vor, wie hoch der
Anteil der Versicherten ist, die eine Erwerbsminderungsrente beziehen, und
zusätzliche Einkünfte aus einer Betriebsrente und/oder privater Vorsorge
erzielen?

Wie wird sich dies voraussichtlich bei den Zugängen in eine Erwerbsmin-
derungsrente in den nächsten Jahren entwickeln?

27. Welche Bedeutung besitzt die Absicherung des Erwerbsminderungsrisikos
in der betrieblichen Altersversorgung und der geförderten Altersvorsorge
nach § 10a des Einkommensteuergesetzes?

28. Wie erklärt die Bundesregierung den Umstand, dass trotz eines Anstiegs des
durchschnittlichen Rentenzugangsalters der Anteil der Erwerbsminde-
rungsrente an allen Rentenzugängen stabil geblieben ist?

29. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass die nahezu konstanten Zu-
gangszahlen in eine Erwerbsminderungsrente in den letzten Jahren deutlich
machen, dass die Erwerbsminderungsrente aufgrund der engen medizi-
nischen Zugangsvoraussetzungen kein arbeitsmarktpolitisches Ventil für
ansonsten beschäftigungslose Ältere darstellt?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/2043

VI. Arbeitsbedingungen und Renteneintritt

30. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass die Humanisierung der
Arbeitswelt eine notwendige Voraussetzung ist, um angesichts des demo-
graphischen Wandels das Beschäftigungspotenzial in Deutschland optimal
ausschöpfen zu können?

Welche Bedeutung misst die Bundesregierung hier der 2002 gegründeten
„Initiative Neue Qualität der Arbeit“ bei, und wie beabsichtigt die Bundes-
regierung, den entsprechenden Haushaltstitel im Bundesministerium für
Arbeit und Soziales langfristig auszugestalten?

31. Welche Fortschritte erkennt die Bundesregierung in den Betrieben, sich
dem demographischen Wandel zu stellen, und durch verbesserte Arbeitsbe-
dingungen, Gesundheitsförderung, Qualifikationsentwicklung, Laufbahn-
gestaltung und Personalentwicklung dafür zu sorgen, dass die Beschäfti-
gungsfähigkeit bis zum Renteneintrittsalter erhalten bleibt?

32. Liegen der Bundesregierung Erkenntnisse darüber vor, inwiefern im Rah-
men der Arbeitsprogramme 2008 bis 2012 der „Gemeinsamen Deutschen
Arbeitsschutzstrategie“ gezielt die Arbeitssituation älterer Beschäftigter
verbessert werden soll?

33. Welche Bedeutung haben für die Bundesregierung die Ergebnisse des Deut-
schen Gewerkschaftsbundes-Index „Gute Arbeit 2009“, wonach nur die
Hälfte der befragten Beschäftigten erwartet, unter den gegenwärtigen Ar-
beitsbedingungen, die ausgeübte Tätigkeit bis zum Renteneintrittsalter aus-
üben zu können?

Wie bewertet die Bundesregierung dabei insbesondere das Ergebnis,
wonach von den Beschäftigten, die ihre Arbeitsbedingungen als schlecht
einstufen, nur 25 Prozent glauben, das Rentenalter im Beruf erreichen zu
können?

Berlin, den 9. Juni 2010

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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