BT-Drucksache 17/1974

Hochwasserschutz europäisch und ökologisch nachhaltig umsetzen - Für ein integriertes Hochwasserschutzkonzept

Vom 9. Juni 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1974
17. Wahlperiode 09. 06. 2010

Antrag
der Abgeordneten Oliver Kaczmarek, Dirk Becker, Marco Bülow, Gerd Bollmann,
Bernhard Brinkmann (Hildesheim), Petra Ernstberger, Iris Gleicke, Ulrich Kelber,
Dr. Bärbel Kofler, Ute Kumpf, Dr. Matthias Miersch, Thomas Oppermann,
Frank Schwabe, Ute Vogt, Dr. Frank-Walter Steinmeier und der Fraktion der SPD

Hochwasserschutz europäisch und ökologisch nachhaltig umsetzen –
Für ein integriertes Hochwasserschutzkonzept

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die jüngsten Hochwasser an Weichsel und Oder mit ihren Nebenflüssen haben
darauf aufmerksam gemacht, welche Herausforderungen infolge klimatisch be-
dingter Extremwetterereignisse zukünftig zu erwarten sind: Hochwasser folgen
nicht nur in immer kürzeren Abständen, auch die Schäden werden immer
schwerwiegender. Obwohl nach den letzten verheerenden Hochwässern an
Elbe und Oder Einigkeit darüber bestand, den Flüssen mehr Raum geben zu
müssen, sind nicht alle notwendigen Maßnahmen zum Hochwasserschutz um-
gesetzt worden. Die Fehler der Vergangenheit, wie Kanalisierung und Begra-
digung der Flüsse, Wiesenumbruch in den Talauen, Bodenverdichtung, werden
zwar gebietsweise rückgängig gemacht, aber bis heute setzt sich die Flächen-
versiegelung und der Zugriff auf Überschwemmungs- und Flusseinzugsgebiete
für neue Straßen, Bau- und Gewerbegebiete fort.

Der Klimawandel verschärft durch zunehmende Starkregenereignisse die
Probleme. Als Folgen des Klimawandels werden in Deutschland die Nieder-
schläge im Winter zu-, im Sommer jedoch abnehmen. Als mögliche Auswir-
kungen auf den Wasserhaushalt ist von einer steigenden Hochwasserwahr-
scheinlichkeit im Winter und Frühjahr (u. a. auch durch die geringere
Niederschlagsspeicherung als Schnee) auszugehen.

Hochwasserschutz muss an diesen Ursachen ansetzen und nicht nur Symptome
bekämpfen. Im Fokus steht dabei die naturnahe Wasserspeicherkapazität für
den ökologisch nachhaltigen Hochwasserschutz.

Hinzu kommt, dass ein nachhaltiger Hochwasserschutz noch stärker auf der
europäischen Ebene verankert und kontrolliert werden muss, denn Hochwasser

ist grenzüberschreitend. Die neue Hochwasserrahmenrichtlinie gibt vor, die
ökologische Komponente stärker zu berücksichtigen. Denn: Naturschutz ist
auch Hochwasserschutz. Das Problem muss in seinem komplexen Zusammen-
hang betrachtet, bewertet und umgesetzt werden. Dabei gilt es auch, die Inte-
ressen der Binnenschifffahrt zu berücksichtigen.

Drucksache 17/1974 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

1. Verlust der Artenvielfalt: negative Folgen für Natur- und Hochwasserschutz

Durch die menschliche Nutzung hat sich der Wasserhaushalt der gesamten
Landschaft verändert. In den letzten 100 Jahren wurden Flüsse und Bäche be-
gradigt, Auen ausgedeicht und landwirtschaftlich genutzt oder bebaut, Moore
und Feuchtgebiete entwässert, Böden verdichtet und versiegelt, Wälder zu
nicht standortgerechten artenarmen Forsten umgebaut. In einem landwirtschaft-
lich und industriell genutzten Raum sind immer wieder Kompromisse zwischen
ökologischer und ökonomischer Nutzung notwendig, in der Phase der Industri-
alisierung bis heute hat die einseitige Fokussierung jedoch nicht nur zu einem
Verlust der Artenvielfalt und Biodiversität geführt, sondern auch zu einer Ver-
schärfung der Hochwassergefahr.

1.1 Flüsse und Auen als zentrale ökologische Komponenten im Hochwasser-
schutz

Flüsse und Auen sorgen im Naturkreislauf für sauberes Trinkwasser, leisten
einen wichtigen Beitrag zur Gewässerqualität, sind wichtige Erholungsräume
für den Menschen sowie länderübergreifende Achsen für den Biotopverbund.
Fließgewässer und Auen sind durch Nutzungen wie Schifffahrt, Wasserkraft
und Landwirtschaft vielfach verändert worden. 80 Prozent unserer Fließgewäs-
ser sind deutlich bis vollständig verändert, nur noch 15 bis 20 Prozent der
natürlichen Auen sind erhalten. 83 Prozent aller Biotoptypen der Flüsse und
Auen sind gefährdet. Lediglich 5 700 ha naturnahe Hartholzauwälder, entspre-
chend 1 Prozent des ursprünglichen Bestandes, sind bundesweit erhalten ge-
blieben. Feuchtgebiete, die natürlicherweise große Flächenanteile einnehmen
würden, umfassen mit rund 10 000 ha nur noch ca. 2 Prozent der Überschwem-
mungsauen und deutlich weniger als 1 Prozent der Altauen.

Das Ausmaß der Hochwasserkatastrophen ist Folge dieser Entwicklungen. Eine
naturnahe Gewässerstruktur, die Wiederanbindung der Auen an die Gewässer
und ein auentypischer Wasserhaushalt und die Schaffung von Retentions-
flächen sind wesentliche Voraussetzungen für den vorbeugenden und nachhalti-
gen Hochwasserschutz.

1.2 Moore und Feuchtgebiete brauchen und speichern Wasser

In Regionen mit hohen Niederschlägen und hohen Grundwasserständen bilden
sich Nieder- oder Hochmoore. Sie speichern Wasser mit ihren Poren im Boden
sowie mit besonderen Pflanzen und Torfmoosen wie ein Schwamm und dienen
somit auch als Puffer für die Aufnahme großer Wassermengen bei Hochwasser
und Starkniederschlägen. Moore sind zudem Lebensraum einer spezifischen
Artenvielfalt. Viele heimische Arten kommen ausschließlich in Mooren vor;
fast alle sind heute gefährdet oder vom Aussterben bedroht.

Intakte Hochmoore sind in Deutschland aufgrund menschlicher Nutzung bis
heute um mehr als 95 Prozent zurückgegangen. Wegen der teilweise tausend
Jahre umfassenden Entwicklungszeit ist die Regeneration von Mooren beson-
ders schwierig. Maximal 10 Prozent des Ausgangsbestandes der Hochmoore
kann heute noch als regenerierbar bewertet werden. Gerade in Bereichen mit
hohem Mooranteil im Einzugsgebiet bietet die Moorrenaturierung jedoch ein
hohes Potential für den Hochwasserschutz, das es weiter zu nutzen gilt.

2. Wasserspeicherkapazität der Land- und Waldwirtschaft sichern

Nicht nur Feuchtgebiete und Auen verdienen Beachtung. Land- und forstwirt-
schaftlich genutzte Flächen können eine wichtige Funktion für die Wasserspei-

cherung und den Wasserabfluss übernehmen. Durch Flurbereinigung, Wege-
bauten, Bodenverdichtung, Entwässerung durch Entwässerungsgräben oder

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1974

Gewässerausbau, massiven Verlust von Grünland durch Umwandlung in (Mais-)
Äcker, sind Strukturen und Bodeneigenschaften, die den Abfluss hemmen
können, stark eingeschränkt worden. Somit sollten zukünftig wieder alle Maß-
nahmen, die die Wasserspeicherkapazität des Bodens erhöhen oder als Abfluss-
hindernis wirken, für den Hochwasserschutz genutzt werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

● im Bereich des Hochwasserschutzes verstärkt auf ökologische und damit
nachhaltige Möglichkeiten zu setzen, um den Auswirkungen des Klima-
wandels, vor allem dem immer öfter einsetzenden Starkregen, nachhaltig be-
gegnen zu können,

● den Hochwasserschutz nicht singulär zu betrachten, sondern im Zusammen-
hang mit Naturschutz, Landwirtschaft und auch der Binnenschifffahrt, um
effektiv vorgehen zu können,

● die notwendige Rückverlegung von Deichen mit einer Renaturierung der
Gewässer und Talauen und einer Verlängerung des Fließweges durch Reak-
tivierung von Nebenarmen zu fördern und darauf hinzuwirken, dass die Län-
der dieser Verpflichtung nachkommen,

● gemeinsam mit den Ländern, den Erhalt aller noch intakten Gewässer und
Auen zu fördern und gemeinsam mit ihnen eine Reglung festzulegen, die
keinen weiteren Verbau von Fließgewässern erlaubt, wenn diese zu einer
Verschärfung der Hochwasserproblematik führen,

● die Erhöhung der Wasserrückhaltefähigkeit der Moore und Feuchtgebiete im
gesamten Einzugsgebiet der Flüsse durch Renaturierung und Wiedervernäs-
sung zu fördern,

● die Ausrichtung der Landnutzung auf der gesamten Fläche auf eine mög-
lichst bodenschonende, wasserspeichernde und hochwasserreduzierende
Nutzung voranzutreiben,

● die Verbesserung der Schutzfunktionen des Waldes vor Hochwasser durch
naturnahe Waldwirtschaft zu sichern,

● in Ergänzung zum aktuellen Wasserhaushaltsgesetz ein neues integriertes
Hochwasserkonzept, das sowohl den Naturschutz als auch die Binnenschiff-
fahrt berücksichtigt, vorzulegen und gemeinsam mit den Ländern konkrete
Masterpläne zur Umsetzung der verschiedenen Maßnahmen zu entwickeln
und festzuschreiben,

● sich auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, eine bessere Koordinierung
des Hochwasserschutzes mit der Komponente des ökologischen Klima-
schutzes im Rahmen eines Integrierten Europäischen Hochwasserschutz-
konzeptes erreicht wird, damit der Naturschutz als Hochwasserschutzmaß-
nahme einen eigenen Stellenwert erhält.

Berlin, den 8. Juni 2010

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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