BT-Drucksache 17/1973

Frühkindliche Bildung und Betreuung verbessern - Für Chancengleichheit und Inklusion von Anfang an

Vom 9. Juni 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1973
17. Wahlperiode 09. 06. 2010

Antrag
der Abgeordneten Caren Marks, Petra Crone, Petra Ernstberger, Iris Gleicke,
Christel Humme, Ute Kumpf, Franz Müntefering, Aydan Özog˘uz, Thomas
Oppermann, Sönke Rix, Marlene Rupprecht (Tuchenbach), Stefan Schwartze,
Dagmar Ziegler, Dr. Frank-Walter Steinmeier und der Fraktion der SPD

Frühkindliche Bildung und Betreuung verbessern – Für Chancengleichheit und
Inklusion von Anfang an

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Chancengleichheit und Teilhabe von Anfang an

Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, allen Kinder Chancengleichheit
von Anfang an zu ermöglichen, denn Bildung ist ein Menschenrecht. Das Recht
auf angemessene Förderung, Bildung und Teilhabe wird explizit in dem Über-
einkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes formuliert.

Es besteht eine „öffentliche Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern
und Jugendlichen“ (Elfter Kinder- und Jugendbericht). Staat und Gesellschaft
müssen die Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen so gestalten,
dass die Eltern und die jungen Menschen für sich selbst und füreinander Verant-
wortung tragen können. Bund, Länder und Gemeinden sowie Unternehmen,
Organisationen, Wohlfahrtsverbände und Sozialpartner stehen dabei gemeinsam
in der Verantwortung.

Eine gute und bedarfsgerechte Infrastruktur der frühkindlichen Bildung und Be-
treuung ist eine wichtige Voraussetzung, um Kindern ein gelingendes Aufwach-
sen und Familien – insbesondere auch Ein-Eltern-Familien – die Vereinbarkeit
von Familie und Erwerbsleben zu ermöglichen. Sie trägt daher erheblich zur
Vermeidung und Bekämpfung von Familien- und Kinderarmut bei. Sie ist auch
ein wichtiger Beitrag zur Gleichstellung von Frauen und Männern, denn sie för-
dert die partnerschaftliche Aufteilung von Familien- und Erwerbsarbeit.

Die Ergebnisse der PISA- und IGLU-Studien haben verdeutlicht, dass das deut-
sche Bildungssystem durch ein hohes Maß an sozialer Selektion gekennzeichnet
ist und dass insbesondere Kinder mit Migrationshintergrund oder aus armen
Familien schlechtere Chancen haben, eine weiterführende Schule zu besuchen.
In keinem anderen Land gibt es einen so deutlichen Zusammenhang zwischen

der sozialen Herkunft und dem Bildungserfolg der Kinder.

Für alle Kinder zugängliche gute Angebote der frühkindlichen Bildung können
dieser Entwicklung entgegenwirken und die Bildungschancen von Kindern
deutlich verbessern. Je früher Kinder gefördert werden, desto besser gelingt
ihnen der Start in eine erfolgreiche Schullaufbahn und ein selbstbestimmtes
Leben. Durch frühkindliche Angebote mit hohen Qualitätsstandards können

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Benachteiligungen frühzeitig ausgeglichen sowie der Spracherwerb und die Er-
weiterung der sprachlichen Kompetenzen gefördert werden. Kinder haben in
Kindertagesstätten und in der Kindertagespflege die Möglichkeit, mit anderen
gleichaltrigen Kindern zusammen zu lernen und zu spielen. Es geht dabei beson-
ders um das soziale und kulturelle Lernen. Dafür brauchen Kinder Zeit und
individuelle Förderung. Im Mittelpunkt steht das Kind mit seinen Stärken und
Begabungen.

Gesundheit von Anfang an

Eine frühkindliche Bildungsinfrastruktur fördert die Gesundheit von Kindern
und Jugendlichen. Laut dem 13. Kinder- und Jugendbericht „Gesundheitsbezo-
gene Prävention und Gesundheitsförderung in der Kinder- und Jugendhilfe“
(Bundestagsdrucksache 12/860) genießt das Thema Gesundheit in den Einrich-
tungen der Kindertagesbetreuung und in der Kindertagespflege eine hohe fach-
liche Aufmerksamkeit. Gesundheitliche Prävention und Gesundheitsförderung
sind in den Bildungsplänen der Länder sowie im Curriculum des Deutschen
Jugendinstituts für die Kindertagespflege verankert. Allerdings gibt es große
Unterschiede in der Ausgestaltung und Umsetzung der Bildungspläne.

Zukünftig müssen Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflegestellen noch
stärker als Orte der Gesundheitserziehung verstanden werden. Es ist für ein ge-
sundes und gelingendes Aufwachsen von Kindern wichtig, Bewegung, Ernäh-
rung, Entspannung und Sprachentwicklung bereits im vorschulischen Bereich
zu fördern. Gute Beispiele der Praxis sind unter anderem das Projekt „gesunde
kitas – starke kinder“ der Plattform Ernährung und Bewegung e. V., das Netz-
werk „Gesunde Kita“ in Brandenburg oder die Initiative „Dr. Hoppel – mach
mit, sei fit“ in Kindertageseinrichtungen der Arbeiterwohlfahrt.

Wir brauchen eine umfassende gesundheitliche Prävention und Gesundheitsför-
derung bei Schwangeren, jungen Eltern, Kindern und Jugendlichen. Hierzu sind
die Umsetzung eines Bundespräventionsgesetzes und eine bessere strukturelle
Verzahnung der Kinder- und Jugendhilfe, der Schulen, des Gesundheitssystems
sowie der Behindertenhilfe erforderlich.

Inklusion von Anfang an

Diese strukturellen Verbesserungen tragen auch einer konsequenten Umsetzung
des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen
mit Behinderungen Rechnung. Frühkindliche Bildungsangebote sind wichtig,
um Menschen mit Behinderung gleiche Lebenschancen zu ermöglichen und die
Inklusion von Kindern, das heißt ihre aktive Beteiligung in allen gesellschaft-
lichen Bereichen, herzustellen. Der 13. Kinder- und Jugendbericht stellt fest,
dass Kindertageseinrichtungen die Teilhabechancen von Kindern mit Behinde-
rungen fördern.

Tageseinrichtungen für Kinder dürfen nicht „aussondern“, sondern müssen die
Vielfalt und die Inklusion von Kindern – unabhängig von Geschlecht, Milieu,
sozialer und ethnischer Herkunft, Behinderung und Religion – fördern.

Sowohl bei Kindern mit leichten Entwicklungsverzögerungen als auch bei Kin-
dern mit schwerer und mehrfacher Behinderung zeigt sich, dass es für deren Ge-
samtentwicklung förderlich ist, mit Kindern ohne Behinderung zusammen zu
spielen, zu lernen und zu leben. Kinder ohne Behinderungen profitieren eben-
falls von inklusiven Bildungs- und Betreuungsangeboten.

Hilfen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung entsprechen nicht immer
den erzieherischen sowie behinderungsbedingten Bedarfen und damit nicht im-

mer dem Gedanken der Inklusion. Die Sozialgesetzbücher – insbesondere die
Sozialhilfe und die Kinder- und Jugendhilfe – müssen daher angepasst werden.

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Eine Zusammenführung der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit
Behinderung unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe (sogenannte Große
Lösung) ist anzustreben, um die Inklusion von Anfang zu fördern.

Ausbau der Betreuungsplätze weiter voranbringen

Der qualitative und quantitative Ausbau von Bildungs- und Betreuungsplätzen
für Kinder unter drei Jahren ist in Deutschland in den vergangenen Jahren vor-
angebracht worden. Wichtige Grundlagen wurden in der 15. und 16. Legislatur-
periode mit entsprechenden gesetzlichen Regelungen (Tagesbetreuungsausbau-
gesetz – TAG, Bundestagsdrucksache 15/3676, Kinderförderungsgesetz –
KiföG, Bundestagsdrucksache 16/10173) gelegt. Ab dem 1. August 2013 haben
Kinder mit Vollendung des ersten Lebensjahres nach § 24 Absatz 2 des Achten
Buches Sozialgesetzbuch (SGB VIII) einen Rechtsanspruch auf Förderung in
einer Kindertageseinrichtung oder in der Kindertagespflege.

Der Anteil der Kinder in Tagesbetreuung an allen Kindern dieser Altersgruppe
(Betreuungsquote) belief sich 2009 bundesweit auf über 20 Prozent (2008:
18 Prozent). Obwohl sich die Betreuungsquote kontinuierlich verbessert, muss
das Ausbauniveau noch deutlich gesteigert werden. Die Bundesregierung
schließt nicht aus, dass auch in einigen Regionen Westdeutschlands ein höherer
Betreuungsbedarf als 35 Prozent angemeldet wird (Antwort auf die Kleine
Anfrage auf Bundestagsdrucksache 17/714). Eine aktuelle Erhebung der Be-
darfsentwicklung legt die Bundesregierung indes nicht vor.

Da davon auszugehen ist, dass sich das Nachfrageverhalten von Eltern in Ost-
und Westdeutschland in den nächsten zehn Jahren weitgehend angleichen wird
(vgl. Birgit Riedel, Kindertagesbetreuung für unter Dreijährige: Ausbauziele
und Ausbaurealitäten, in: Blickpunkt Jugendhilfe 2/2010), muss der Ausbau von
frühkindlichen Bildungsangeboten höchste Priorität haben. Wichtige Ziele soll-
ten dabei die deutliche Steigerung der Platzzahlen, die Umsetzung des gesetzlich
vereinbarten Rechtsanspruches ab 2013, die Verwirklichung eines Rechtsan-
spruches auf Ganztagsbetreuung zunächst für Alleinerziehende und in einem
weiteren Schritt für alle Eltern sein. Ein weiteres Ziel sollte sein, frühkindliche
Bildung und Betreuung schrittweise von Elternbeiträgen zu befreien.

Qualitativ hochwertige Angebote der frühkindlichen Bildung von Anfang an

Um die Qualität der Bildungs- und Erziehungsarbeit in Tageseinrichtungen für
Kinder weiterzuentwickeln, wurden in allen Ländern Bildungspläne erarbeitet.
Diese Bildungspläne sind ein wichtiges Steuerungsinstrument in der frühkind-
lichen Bildung, Betreuung und Erziehung. Richtungsweisend ist beispielsweise
die Initiative „Zukunftschance Kinder – Bildung von Anfang an“: Durch diese
Initiative des Landes Rheinland-Pfalz werden die Qualität der Betreuungsein-
richtungen kontinuierlich gesteigert, zahlreiche Fortbildungen von Erzieherin-
nen und Erziehern gefördert sowie die Betreuungsangebote für Kinder im Alter
von zwei bis sechs Jahren schrittweise von Elternbeiträgen befreit.

Damit Kinder bedarfsgerecht und individuell gefördert werden und eine inten-
sive Sprachförderung möglich ist, ist ein guter Betreuungsschlüssel in Kinder-
tagesstätten wichtig. In den vergangenen Jahren haben viele Länder bereits die
Fachkraft-Kind-Relation verbessert. Anzustreben sind höchstens vier Kinder je
Erziehungsperson bei den unter Dreijährigen und höchstens acht Kinder pro
Erziehungsperson bei den über Dreijährigen.

Zu einer guten Förderung von Kindern gehört auch, sie in ihrem Umfeld zu be-
teiligen. Dadurch erleben Kinder frühzeitig wichtige Prinzipien der Demokratie.
Bestehende Formen der Beteilung in Kindertageseinrichtungen sollten ausge-

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weitet werden. Die Bildungspläne der Länder gewichten das Thema Partizipa-
tion bisher unterschiedlich.

Damit der Übergang zwischen den ersten beiden Bildungsinstitutionen für Kin-
der gelingen kann, müssen Tageseinrichtungen für Kinder mit den Grundschu-
len eng kooperieren. In den Bundesländern abgeschlossene Kooperationsverein-
barungen sind ausdrücklich zu begrüßen.

Durch Kindertagesstätten können möglichst viele Eltern niedrigschwellig mit
Angeboten der Eltern- und Familienbildung erreicht werden. Hier können unter-
schiedliche Bedarfslagen von Eltern und Kindern früh erkannt und Erziehungs-
und Familienkompetenz frühzeitig gestärkt werden. Tageseinrichtungen für
Kinder sollen daher flächendeckend zu Familien- bzw. Eltern-Kind-Zentren er-
weitert werden. Es sollen dabei die Angebote der Kindertageseinrichtungen mit
den Angebotssegmenten der Familienbildung, -unterstützung und -förderung
verknüpft und zu einem integrierten Gesamtkonzept erweitert werden. Als gute
Beispiele sind die familien- und sozialraumorientierten „Early Excellence
Centres“, die Ende der 90er-Jahre in Großbritannien aufgebaut wurden, zu
nennen. Charakteristisch für sie ist das Angebot integrierter Dienstleistungen
„aus einer Hand“, die in multiprofessioneller Zusammenarbeit erbracht werden.

Wichtig ist auch, die Kindertagespflege in das Gesamtkonzept einer qualitativ
hochwertigen Kinderbetreuung einzubetten. Dazu gehören eine bessere Koope-
ration von Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege, die kontinuierliche
Verbesserung der Qualifizierung, Fortbildung und Bezahlung von Tagespflege-
personen, gemeinsame Fortbildungen von Tagespflegepersonen und Fachkräf-
ten der Kindertageseinrichtungen, die Förderung innovativer Modellprojekte
von Verbänden und freien Trägern sowie eine stärkere Steuerungsrolle der
Jugendämter in der Kindertagespflege.

Für eine Fachkräfte-Offensive

Eine gute Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur und eine bedarfsgerechte För-
derung von Kindern setzt eine ausreichende Zahl an qualifizierten Fachkräften
voraus. Erzieherinnen und Erzieher haben eine wichtige gesellschaftliche Auf-
gabe, ebenso auch Tagespflegepersonen. Die Bundesregierung geht von einem
zusätzlichen Bedarf an Vollzeitfachkräften von rund 35 000 bis 40 000 in Tages-
einrichtungen bis 2013 aus (Antwort auf die Kleine Anfrage auf Bundestags-
drucksache 17/714). Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft prognosti-
ziert sogar einen Bedarf von mindestens 50 000 Stellen. Die Bundesregierung
prognostiziert des Weiteren, dass bis 2013 rund 25 000 Tagespflegepersonen ge-
wonnen werden müssen.

Es ist daher dringend notwendig, die Attraktivität des Berufs der Erzieherin bzw.
des Erziehers zu steigern. Dies gelingt insbesondere durch eine Verbesserung
der Aus-, Fort- und Weiterbildung, der Aufstiegsmöglichkeiten und der Arbeits-
bedingungen. Wichtig ist auch eine bessere Entlohnung von Erzieherinnen und
Erziehern, die unter anderem durch entsprechende tarifliche Bezahlungen sowie
die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes erreicht werden kann. Da in
diesem Berufsfeld nur etwa 3 Prozent Männer beschäftigt sind, müssen deutlich
mehr Männer für den Erzieherberuf gewonnen werden. Es ist auch notwendig,
arbeitssuchende und arbeitslose Erzieherinnen und Erzieher schnell und
unbürokratisch auf offene Stellen zu vermitteln. Die Tätigkeit der Tagespflege-
person muss ebenfalls attraktiver werden. Auch im Bereich der Tagespflege sol-
len mehr Männer gewonnen werden. Sowohl für die Kindertageseinrichtungen
als auch für die Tagespflege sollten mehr Frauen und Männer mit Migrations-
hintergrund gewonnen werden.
Die Reform des sogenannten Meister-BAföG (BAföG = Bundesausbildungsför-
derungsgesetz) in der 16. Legislaturperiode verbessert erheblich die Aufstiegs-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/1973

chancen von Erzieherinnen und Erziehern. Eine weitere wichtige Maßnahme ist
die gemeinsame Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Frachkräfte (WiFF)
der Bundesregierung, der Robert Bosch Stiftung und des Deutschen Jugend-
instituts. Weitere Maßnahmen müssen daran anknüpfen und zu einer Fachkräfte-
Offensive gebündelt werden. Auch wenn die Umsetzung entsprechender Initia-
tiven zur Gewinnung von Fachkräften zuvorderst Aufgabe der Länder ist, hat
der Bund hierbei eine wichtige Anregungs- und Unterstützungsfunktion.

Ausbau der frühkindlichen Bildung und Betreuung braucht verlässliche Rah-
menbedingungen

Bund, Länder und Kommunen haben 2007 vereinbart, dass bis 2013 die Schaf-
fung von 750 000 Betreuungsplätzen für unter Dreijährige bzw. eine Betreu-
ungsquote von 35 Prozent erreicht werden soll. Um den Ausbau der Kinderbe-
treuung für unter Dreijährige zu beschleunigen und die Kommunen zu entlasten,
beteiligt sich der Bund an der Finanzierung der Ausbauphase bis 2013 mit
insgesamt 4 Mrd. Euro. Ab 2014 beteiligt sich der Bund dauerhaft mit jährlich
770 Mio. Euro an der Förderung einer frühkindlichen Bildungsinfrastruktur.

Verstärkte Anstrengungen und zusätzliche Mittel sind für den Ausbau der früh-
kindlichen Bildung und Betreuung – auch vor dem Hintergrund der Finanz- und
Wirtschaftskrise – dringend erforderlich. Die Krise hat zu einer finanziellen
Notlage vieler Kommunen geführt. Mit dem Gesetz zur Beschleunigung des
Wirtschaftswachstums (Wachstumsbeschleunigungsgesetz, Bundestagsdruck-
sache 17/15) verschlechtert sich die finanzielle Situation der Kommunen zusätz-
lich. Sie brauchen zur Erfüllung ihrer Aufgaben – insbesondere zur Erfüllung
des gesetzlich verankterten Rechtsanspruchs ab 2013 – gezielte finanzielle Un-
terstützung.

Ein geeignetes und sozial gerechtes Mittel wäre beispielsweise ein Aufschlag
auf den Spitzensteuersatz. Die Mehreinnahmen sollten in Maßnahmen der
Bildung und Forschung – insbesondere in die Verbesserung der frühkindlichen
Bildung – investiert werden.

Um die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen heute und in der Zu-
kunft zu erhöhen, sollten etwaige demografiebedingte Einsparungen und Min-
derausgaben in die Bildungsinfrastruktur für Kinder und Jugendliche investiert
werden. Mit dem Geburtenrückgang sind rechnerische Einsparungen und Min-
derausgaben jährlich in Milliardenhöhe verbunden (vgl. Studie des Deutschen
Jugendinstituts „Erwartbare ökonomische Effekte durch den Ausbau der Betreu-
ungsangebote für unter Dreijährige auf 750 000 Plätze bis 2013“, 2007). Es
sollte dauerhafte Aufgabe des Bundes und der Länder sein, die durch den Rück-
gang der Geburtenzahlen eingesparten Haushaltsmittel regelmäßig zu ermitteln
und für die Förderung von Kindern und Jugendlichen zur Verfügung zu stellen.

Die Bundesregierung plant die Einführung eines „monatlichen Betreuungsgel-
des für Eltern, die keinen Krippenplatz in Anspruch nehmen“ (Koalitionsvertrag
2009). Nach einer vom Bundesministerium der Finanzen in Auftrag gegebenen
Studie des Zentrums für Europäische Forschung werden die Mehrausgaben für
dieses Betreuungsgeld auf etwa 1,4 bis 1,9 Mrd. Euro jährlich geschätzt. Exper-
tinnen und Experten warnen vor möglichen negativen bildungs- und gleichstel-
lungspolitischen Auswirkungen eines solchen Betreuungsgeldes, u. a. werden
Negativeffekte bei der Inanspruchnahme von frühkindlichen Bildungsange-
boten erwartet. Aus diesen Gründen sollten die Pläne zur Einführung eines Be-
treuungsgeldes nicht weiterverfolgt und stattdessen sollte weiter in den Ausbau
der frühkindlichen Infrastruktur investiert werden.

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II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bunderegierung auf,

● an dem Ziel des sogenannten Bildungsgipfels von Dresden 2008, bis 2015
mindestens 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Bildung und For-
schung aufzuwenden, festzuhalten;

● im Rahmen eines nationalen Bildungspaktes zwischen Bund und Ländern
eine Steigerung der Ausgaben für frühkindliche Bildung zu gewährleisten so-
wie verbindliche Vereinbarungen für den weiteren bedarfsgerechten Ausbau
der frühkindlichen Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur zu treffen. Wichtig
sind dabei unter anderem die Verabredung einheitlicher Qualitätsstandards,
die Durchsetzung eines Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung für ein- bis
sechsjährige Kinder – zunächst für Alleinerziehende und in einem weiteren
Schritt für alle Eltern – sowie die schrittweise Befreiung der Betreuungs-
angebote von Elternbeiträgen;

● die durch das sogenannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz bei den Kom-
munen entstandenen Einnahmeausfälle von 1,6 Mrd. Euro jährlich voll-
ständig zu kompensieren und damit die Kommunen, die eine wichtige
Verantwortung zum Ausbau der frühkindlichen Bildung und Betreuung tra-
gen, zu entlasten;

● auf weitere Steuerermäßigungen, die zu zusätzlichen Belastungen der
Kommunen führen, zu verzichten und weitere Forderungen des Antrags auf
Bundestagsdrucksache 17/1152 zeitnah umzusetzen (Rettungsschirm für
Kommunen);

● einen Gesetzentwurf vorzulegen, der einen Aufschlag auf den Spitzensteuer-
satz auf hohe Einkommen beinhaltet (Bildungssoli), mit dem ein Beitrag zur
Finanzierung auch der frühkindlichen Bildung geleistet wird;

● dafür Sorge zu tragen, dass die den Ländern zur Verfügung gestellten Inves-
tionshilfen des Bundes zum Ausbau der Bildungs- und Betreuungsinfrastruk-
tur für Kinder unter drei Jahren sachgerecht an die Kommunen weitergeleitet
werden;

● eine unabhängige regelmäßige Erhebung der Bedarfsentwicklung von früh-
kindlichen Bildungs- und Betreuungsangeboten einzuführen und einen ent-
sprechenden Bericht jährlich dem Deutschen Bundestag vorzulegen. Dabei
ist insbesondere auch der mittel- und langfristige Bedarf an Erzieherinnen
und Erziehern sowie an Tagespflegepersonen zu ermitteln;

● auf eine gesetzliche Umsetzung des Betreuungsgeldes zu verzichten. Da das
sogenannte Betreuungsgeld falsche Anreize schafft, indem es den Verzicht
auf frühkindliche Bildungsangebote fördert, besteht die Gefahr, dass bei Kin-
dern aus einkommensschwachen Haushalten das Risiko von Bildungsarmut
steigt. Chancengleichheit würde dadurch verhindert. Stattdessen sind konse-
quent Investitionen in Angebote der frühkindlichen Bildung notwendig;

● gemeinsam mit den Ländern verbindlich festzulegen, die durch den Rück-
gang der Geburtenzahlen entstehenden Einsparungen in öffentlichen Haus-
halten regelmäßig zu ermitteln und zugunsten der Förderung von Kindern
und Jugendlichen – insbesondere zur Förderung von Kindern im frühkind-
lichen Bereich – umzuverteilen;

● auf Unternehmen einzuwirken, betriebliche Kinderbetreuungsangebote be-
reitzuhalten bzw. verstärkt mit Trägern vor Ort zur Bereithaltung von Betreu-
ungsangeboten zu kooperieren;
● gemeinsam mit den Ländern über die bisher verabredeten Schritte hinaus
Maßnahmen zu ergreifen, um die Aus-, Fort- und Weiterbildung von pädago-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/1973

gischen Fachkräften zu fördern und mehr Fachkräfte für den vorschulischen
Bereich zu gewinnen. In einer entsprechenden Fachkräfte-Offensive soll die
Gewinnung von deutlich mehr männlichen Erziehern ein Schwerpunkt sein;

● darauf hinzuwirken, dass die Vermittlung von bereits ausgebildeten arbeits-
losen und arbeitssuchenden Fachkräften auf offene Stellen zügig erfolgt;

● sich für weitere Maßnahmen zur flächendeckenden Verbesserung des Betreu-
ungsschlüssels in Tageseinrichtungen für Kinder einzusetzen. Denn nur mit
einer guten Fachkraft-Kind-Relation können Kinder individuell und umfas-
send gefördert werden;

● darauf hinzuwirken, dass zeitnah eine bedarfsgerechte und intensivierte
Sprachförderung von Kindern in Einrichtungen der frühkindlichen Bildung
flächendeckend sichergestellt ist;

● gemeinsam mit den Ländern Initiativen zu ergreifen, um Tageseinrichtungen
für Kinder mittel- und langfristig zu Eltern-Kind-Zentren umzugestalten.
Eltern-Kind-Zentren sollen Eltern differenzierte und niedrigschwellige Bil-
dungs- und Unterstützungsangebote bereitstellen, damit Familien frühzeitig
gefördert und Belastungen von Eltern und ihren Kindern abgewendet werden
können;

● gemeinsam mit den Ländern die Qualität der Kindertagespflege zu befördern.
Dazu gehören eine bessere Vernetzung von Kindertageseinrichtungen und
Kindertagespflege, die kontinuierliche Verbesserung der Qualifizierung,
Fortbildung und Bezahlung von Tagespflegepersonen, die Förderung innova-
tiver Modellprojekte von Verbänden und freien Trägern sowie eine stärkere
Steuerungsrolle der Jugendämter in der Kindertagespflege;

● die Initiativen zur Stärkung von Gesundheitsförderung und Prävention, zur
Entwicklung regionaler Netzwerke für frühe Förderung und primärpräven-
tiver Unterstützungsangebote für Schwangere und junge Familien in den
Ländern durch ein bundeseinheitliches Präventionsgesetz zu ergänzen;

● Programme und Projekte zur Gesundheitsförderung mit den Schwerpunkten
Ernährung, Bewegung, Entspannung und Sprachentwicklung in Tagesein-
richtungen für Kinder gezielt anzuregen und zu unterstützen;

● darauf hinzuwirken, dass Kinder in Tageseinrichtungen ein gesundes und
– für Familien mit niedrigen Einkommen – gebührenfreies Mittagessen er-
halten können;

● bei den Ländern anzuregen, die Bildungspläne der Länder für Tageseinrich-
tungen für Kinder auf Maßnahmen der gesundheitlichen Prävention und
Gesundheitsförderung sowie der Beteiligung zu überprüfen und weiterzu-
entwickeln;

● auf die Länder hinzuwirken, dass Inklusion flächendeckend umgesetzt wird
und Kinder mit Behinderungen gemeinsam mit Kindern ohne Behinderungen
Tageseinrichtungen für Kinder besuchen können. Kinder mit Behinderungen
sind in Regeltageseinrichtungen bedarfsgerecht zu fördern;

● gemeinsam mit den Ländern verstärkt Maßnahmen für eine gelingende Inklu-
sion von jungen Menschen mit Behinderung umzusetzen. Die Zusammenfüh-
rung der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit Behinderung
unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe (sog. Große Lösung) ist anzu-
streben. Entsprechende Vorschläge der Arbeitsgruppe von Bund, Ländern
und kommunalen Spitzenverbänden sind einzubeziehen;

Drucksache 17/1973 – 8 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
● einen Gesetzentwurf vorzulegen, der zum Ziel hat, Kinderrechte im Grund-
gesetz zu verankern und damit der Kinderrechtskonvention der Vereinten
Nationen und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in der
Verfassung Rechnung zu tragen.

Berlin, den 8. Juni 2010

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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