BT-Drucksache 17/1911

Auswirkungen der Residenzpflicht für Asylsuchende und Geduldete

Vom 3. Juni 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1911
17. Wahlperiode 03. 06. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Raju Sharma, Halina Wawzyniak und der Fraktion
DIE LINKE.

Auswirkungen der Residenzpflicht für Asylsuchende und Geduldete

In Deutschland gilt für Asylsuchende die so genannte Residenzpflicht im Rah-
men des Asylverfahrensgesetzes, die Residenzpflicht für Geduldete ist im Auf-
enthaltsgesetz geregelt. Asylsuchende bekommen eine Unterkunft zugewiesen
und dürfen den Bezirk der zuständigen Ausländerbehörde nur mit einer entspre-
chenden Erlaubnis verlassen. Die Erteilung einer Verlassenserlaubnis ist oft mit
Gebühren verbunden, die die Betroffenen von ihren ohnehin nur sehr geringen
Finanzmitteln bestreiten müssen. Von den maximal 40,90 Euro, die Asylsuchen-
den monatlich für „persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens“ zur Ver-
fügung stehen, sind je nach geltender Erlasslage zehn oder mehr Euro zu entrich-
ten. Sowohl die konkreten Bestimmungen zur Höhe der Gebühren und Gebüh-
renbefreiungen als auch die Größe der Residenzzonen variieren von Bundesland
zu Bundesland, eine Rechtsgrundlage hierfür gibt es nicht.

Von den Betroffenen wird die Residenzpflicht als rassistisch und diskriminie-
rend erlebt. Die häufigen und zudem am äußeren Erscheinungsbild oder der
Hautfarbe der Betroffenen anknüpfenden Kontrollen durch die Polizei im
öffentlichen Raum, an Bushaltestellen oder an Bahnhöfen, führen außerdem zu
einer öffentlichen Stigmatisierung der Kontrollierten, die Unbeteiligten als Kri-
minelle oder Verdächtige erscheinen. Schließlich werden die Betroffenen
infolge polizeilich entdeckter Residenzpflichtverstöße und damit zusammen-
hängender strafrechtlicher Verurteilungen massiv kriminalisiert. Eine Konse-
quenz daraus sind Schwierigkeiten bei einer späteren Verfestigung des Aufent-
halts, geduldete Flüchtlinge und Asylsuchende werden durch Vorstrafen von
Bleiberechtsregelungen ausgeschlossen. Obwohl sie also lediglich von ihrem
Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit Gebrauch machen, werden sie hierfür
nicht nur mit Geldbußen und Freiheitsstrafen, sondern auch mit Abschiebung
und dem Entzug eines Bleiberechts bestraft.

Geduldete Personen machen die Mehrheit aller von der Residenzpflicht Betrof-
fenen aus. Sie sind auf das jeweilige Bundesland oder noch kleinere Gebietsein-
heiten beschränkt. Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit kann sich dadurch
je nach Einzelfall über einen Zeitraum von zehn und mehr Jahren erstrecken.

Unter dem allgemein geläufigen Begriff der Residenzpflicht sind im Folgenden

die räumlichen Aufenthaltsbeschränkungen und Einschränkungen der Bewe-
gungsfreiheit gemeint, es sei denn, es ist ausdrücklich von der Pflicht zur Wohn-
sitznahme oder wohnsitzbeschränkenden Auflagen usw. die Rede.

Drucksache 17/1911 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Personen sind in Deutschland derzeit von der so genannten Resi-
denzpflicht betroffen (bitte nach Bundesländern, Aufenthaltsstatus und Art
der Beschränkung auflisten)?

2. Wie viele Personen in Deutschland unterliegen derzeit wohnsitzbeschränken-
den Auflagen (bitte nach Bundesländern, Aufenthaltsstatus und Art der
Wohnsitzauflage auflisten)?

3. Wie setzen die Bundesländer die Residenzpflicht konkret um (bitte – auch im
Folgenden – jeweils auch zumindest nach den Personengruppen Geduldete
bzw. Gestattete unterscheiden)?

a) Wie sind die einzelnen Bundesländer in Residenzpflichtzonen unterteilt,
wie bewertet die Bundesregierung die Uneinheitlichkeit der derzeitigen
Regelungen zur räumlichen Beschränkung, und welche sachlichen
Gründe rechtfertigen dies aus ihrer Sicht?

b) Wie hoch sind die in einzelnen Bundesländern bzw. Landkreisen erhobe-
nen Gebühren für die Erteilung einer Verlassenserlaubnis in welchen Fall-
konstellationen?

c) Wie beurteilt die Bundesregierung die Praxis einzelner Bundesländer
bzw. Ausländerbehörden, für die Erteilung von Verlassenserlaubnissen
Gebühren zu erheben, obwohl es nach dem Urteil des Verwaltungsge-
richts Halle vom 26. Februar 2010 (Az: 1 A 395/07 HAL) und auch nach
den Anwendungshinweisen des sächsischen Ministeriums des Innern vom
14. Dezember 2005 (Az: 24-1310/70) hierfür keine Rechtsgrundlage gibt,
und welche Maßnahmen wird die Bundesregierung ergreifen, um die
Bundesländer bzw. Ausländerbehörden hierüber zu informieren und um
sicherzustellen, dass bundeseinheitlich keine entsprechenden Gebühren
erhoben werden?

4. Wie viele Asylbewerber erhielten in den Jahren 2007, 2008 und 2009 eine
Anzeige wegen Verletzung der Residenzpflicht (Ersatzweise: In wie vielen
Fällen wurde in den Jahren 2007, 2008 und 2009 Anzeige wegen Verstoßes
gegen das Asylverfahrensgesetz gestellt)?

5. Wie viele Geduldete erhielten in den Jahren 2007, 2008 und 2009 eine An-
zeige wegen Verletzung der Residenzpflicht?

6. Wie viele Asylsuchende wurden in den Jahren 2007, 2008 und 2009 wegen
Verstoßes gegen die Residenzpflicht verurteilt (bitte weiter aufgliedern nach
über und unter 30 Tagessätzen, Haftstrafen und Haftstrafen auf Bewährung)
(Ersatzweise: In wie vielen Fällen wurden in den Jahren 2007, 2008 und
2009 Asylsuchende wegen Verstößen gegen das Asylverfahrensgesetz ver-
urteilt)?

7. Wie viele Geduldete wurden in den Jahren 2007, 2008 und 2009 wegen Ver-
stoßes gegen die Residenzpflicht verurteilt (bitte aufgliedern wie oben)?

8. Für wie viele Personen wurden auf welcher Rechtsgrundlage wohnsitz-
beschränkende Auflagen in den letzten drei Jahren verhängt bzw. wie viele
unterliegen derzeit einer solchen Auflage?

9. Was hat der Bundesminister des Innern bezüglich der Residenzpflicht im
Rahmen der vergangenen Tagung der Innenministerkonferenz vorgetragen,
und hat der Bundesminister des Innern sich in diesem Zusammenhang bereits
zu möglichen Lockerungen der Residenzpflicht geäußert, und wie war die
Reaktion bzw. Haltung der Landesinnenminister zu dieser Frage?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1911

10. Welche Haltung vertritt die Bundesregierung zur Kritik des UN-Flücht-
lingskommissariats, dass die derzeitige Residenzpflichtregelung nicht voll-
ständig mit dem EU-Recht in Einklang stehe, und welchen Handlungs-
bedarf sieht sie gegebenenfalls?

11. Wie verhält sich die Bundesregierung allgemein zu der vom UNHCR ge-
äußerten Kritik, dass es „für eine generelle Einschränkung der Bewegungs-
freiheit (…) an schlüssigen Gründen“ fehle (Pressemitteilung vom 26. Mai
2010)?

12. Was sind aus Sicht der Bundesregierung die maßgeblichen Gründe dafür,
– auch in Anbetracht des Menschenwürdeprinzips, des Grundsatzes der
freien Entfaltung der Persönlichkeit und des Verhältnismäßigkeitsgrund-
satzes – an den geltenden Residenzpflichtregelungen festzuhalten (bitte die
nachfolgenden Unterfragen einzeln und konkret beantworten und nicht auf
eine allgemein gehaltene Antwort zu Frage 12 verweisen)?

a) Welche Erkenntnisse liegen vor, die belegen, dass die räumliche Aufent-
haltsbeschränkung ein zweckmäßiges Mittel zur Gewährleistung der Er-
reichbarkeit von Asylsuchenden und Geduldeten ist?

b) Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die in § 10 des Asylverfah-
rensgesetzes geregelten Zustellungsvorschriften (insbesondere die so ge-
nannte Zustellungsfiktion) ein ausreichendes Mittel sind, um eine Verzö-
gerung von Asylverfahren wegen kurzzeitiger Nichterreichbarkeit von
Asylsuchenden zu vermeiden, und wenn nein, auf welche Weise trägt die
räumliche Aufenthaltsbeschränkung zur Erreichung dieses Ziels bei?

c) Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass das Automatische Finger-
abdrucksystem (AFIS) einen Mehrfachbezug von Sozialleistungen durch
Asylsuchende und Geduldete effektiv verhindert, und wenn nein, auf
welche Weise trägt die räumliche Aufenthaltsbeschränkung zur Er-
reichung dieses Ziels bei?

d) Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung vor, die belegen, dass
die räumliche Aufenthaltsbeschränkung ein geeignetes Mittel ist, um
kriminelle Handlungen von Asylsuchenden und geduldeten Flüchtlingen
zu verhindern?

e) Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung vor, die belegen, dass
die räumliche Aufenthaltsbeschränkung ein geeignetes Mittel ist, um ein
„Untertauchen“ von abzuschiebenden Personen zu verhindern?

f) Sind der Bundesregierung Berichte über Polizeikontrollen bekannt, bei
denen das Kontrollkriterium an der Hautfarbe der Betroffenen fest-
gemacht wird, um eventuelle Verstöße gegen die räumliche Aufenthalts-
beschränkung zu entdecken, und wenn ja, welche, kann die Bundesregie-
rung eine solche Kontrollpraxis ausschließen, hält die Bundesregierung
eine solche Praxis für vereinbar mit dem Verbot einer rassistischen Dis-
kriminierung, und inwieweit zieht die Bundesregierung eine Abschaf-
fung der Residenzpflicht schon aus dem Grunde in Erwägung, um solche
rassistischen Kontrollen ausschließen zu können?

g) Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass es den Grundsätzen der
Verhältnismäßigkeit entspricht, wenn Asylsuchende und Geduldete we-
gen Vorstrafen infolge von „Residenzpflichtverstößen“ von der Zulas-
sung zu Härtefallkommissionen oder Bleiberechtsregelungen (bitte dif-
ferenzieren) ausgeschlossen werden (bitte begründen)?

h) Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass mit einer Erweiterung der
räumlichen Aufenthaltsbeschränkung für Asylsuchende und Geduldete

deren Chancen auf dem Arbeitsmarkt erhöht werden, und wenn nein, mit
welcher Begründung?

Drucksache 17/1911 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
i) Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass es im öffentlichen Inte-
resse läge, wenn Asylsuchende und Geduldete z. B. bei hier lebenden
Verwandten kostenfrei wohnen und deren Unterstützung nutzen können,
und wenn nein, mit welcher Begründung, und wenn ja, inwieweit erwägt
die Bundesregierung zumindest für solche Fälle eine Lockerung der
Wohnsitzauflagen bzw. Residenzpflicht?

13. Welche anderen EU-Staaten haben ebenfalls von der Möglichkeit der EU-
„Aufnahmerichtlinie“ Gebrauch gemacht, den Aufenthalt von Asylsuchen-
den räumlich zu beschränken, und wie sind ggf. entsprechende Regelungen
ausgestaltet?

14. Welche Änderungen im Rahmen der Neufassung der EU-„Aufnahmericht-
linie“ zu diesem Teil der Richtlinie wurden von der Kommission ursprüng-
lich vorgeschlagen, wie hat sich die Bundesregierung, wie das Europäische
Parlament hierzu positioniert, wie ist die derzeitige Fassung der Richtlinie
bzw. der Stand der Verhandlungen auf EU-Ebene, und welche Änderungen
im deutschen Recht wären erforderlich, wenn die Richtlinie nach derzei-
tigem Stand in Kraft träte?

Berlin, den 3. Juni 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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