BT-Drucksache 17/1797

Möglicherweise unerkannt gebliebene deutsche Staatsangehörigkeit von Kindern türkischer Eltern

Vom 19. Mai 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1797
17. Wahlperiode 19. 05. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Ulla Jelpke, Petra Pau und der
Fraktion DIE LINKE.

Möglicherweise unerkannt gebliebene deutsche Staatsangehörigkeit von Kindern
türkischer Eltern

Nach § 4 Absatz 3 des Staatsangehörigkeitsgesetzes (StAG) erwerben Kinder
ausländischer Eltern die deutsche Staatsangehörigkeit per Geburt unter ande-
rem, wenn ein Elternteil seit acht Jahren rechtmäßig den gewöhnlichen Aufent-
halt im Inland hat und über ein „unbefristetes Aufenthaltsrecht“ verfügt (so die
Fassung seit dem 28. August 2007).

Nach den Vorläufigen Anwendungshinweisen des Bundesministeriums des
Innern vom 17. April 2009 zum Staatsangehörigkeitsgesetz besitzen unter ande-
rem „türkische Staatsangehörige, die unter den Artikeln 6 und 7 des Beschlusses
Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei fallen“, ein unbefristetes Aufent-
haltsrecht (vgl. Nummer 4.3.1.3). Dieses richtet sich vor allem nach der Dauer
der Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt. Ob türkische Staatsangehörige
ein unbefristetes Aufenthaltsrecht infolge des Beschlusses Nr. 1/80 haben, wird
nicht automatisch im jeweiligen Aufenthaltstitel der Betroffenen vermerkt und
lässt sich nur im Einzelfall unter Berücksichtigung der maßgeblichen Rechtspre-
chung des Europäischen Gerichtshofs bestimmen.

Der bescheinigte Aufenthaltstitel für Assoziationsfreizügige gemäß § 4 Ab-
satz 5 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) wird nur befristet erteilt.

Nach § 34 der Verordnung zur Ausführung des Personenstandsgesetzes (PStV)
verlangt das Standesamt bei der Anzeige einer Geburt zur Prüfung der deut-
schen Staatsangehörigkeit Angaben der Eltern dazu, ob ein unbefristetes Auf-
enthaltsrecht besteht. Wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, aber auch wenn
Zweifel an der Richtigkeit der Angaben bestehen oder keine Angaben zur
Rechtstellung gemacht werden (§ 34 Absatz 2 PStV), holt das Standesamt
durch ein Formblatt (Anlage 12 zu § 34 PStV) Auskunft bei der zuständigen
Ausländerbehörde ein, ob die Angaben zutreffen und ob zum Zeitpunkt der Ge-
burt ein unbefristetes Aufenthaltsrecht bzw. ein seit acht Jahren rechtmäßiger
gewöhnlicher Aufenthalt im Inland vorlagen.

In dem Formblatt bezüglich des Aufenthaltsstatus sind zum Ankreuzen die
Möglichkeiten vorgesehen: „Freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger, EWR-
Staatsangehöriger oder deren Familienangehörige, Niederlassungserlaubnis,

Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG, Staatsangehöriger der Schweiz oder dessen
Familienangehöriger“. Das Aufenthaltsrecht infolge von Artikel 6 und 7 des
Beschlusses Nr. 1/80 fehlt in dieser Auflistung, allenfalls ein Ankreuzen bei
„Sonstiges“ oder „unbekannt“ wäre möglich. Nicht unwahrscheinlich ist
jedoch, dass infolge der fehlenden konkreten Auflistung im Formblatt eine Prü-
fung des unbefristeten Aufenthaltsrechts infolge des Beschlusses Nr. 1/80 durch
das Standesamt in nicht wenigen Fällen unterbleibt.

Drucksache 17/1797 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Daraus ergibt sich die Gefahr, dass die deutsche Staatsangehörigkeit von Kin-
dern türkischer Eltern unerkannt bleibt, wenn sowohl die Eltern als auch das
Standesamt in Unkenntnis der komplizierten Rechtslage irrtümlich davon aus-
gehen, dass bei einer befristeten Aufenthaltserlaubnis kein unbefristetes Auf-
enthaltsrecht, und damit auch kein Staatsangehörigkeitserwerb durch Geburt,
vorliegen kann. Nach § 34 PStV ist in solchen Fällen auch keine Anfrage an die
aufenthaltsrechtlich fachkompetentere Ausländerbehörde zu richten.

Der Fragestellerin liegt eine Auskunft des Standesamtes in Hamburg-Harburg
vom 9. März 2010 an einen Rechtsanwalt vor, die belegt, dass es sich nicht um
ein bloß abstraktes Problem handelt: Das Standesamt bestätigt hierin, dass im
konkreten Fall keine Anfrage an die Ausländerbehörde gestellt wurde, weil die
Kindesmutter zum Zeitpunkt der Geburt „im Besitz einer befristeten Aufent-
haltserlaubnis“ gewesen sei. Hieran ändere sich auch nichts, wenn sich später
herausstelle, dass „der Aufenthaltstitel als unbefristet zu betrachten ist“. Damit
wurde die vor dem Hintergrund des Assoziationsrechts möglicherweise be-
stehende deutsche Staatsangehörigkeit des Kindes aufgrund der irrigen Rechts-
auffassung des Standesamtes selbst nach konkreten Hinweisen des Rechts-
anwalts zur Rechtslage nicht einmal geprüft und blieb unerkannt.

Über 420 000 in Deutschland lebende türkische Staatsangehörige (dies sind
25 Prozent aller türkischen Staatsangehörigen) verfügen über eine befristete
Aufenthaltserlaubnis. Ein großer Anteil von ihnen dürfte die Voraussetzungen
für ein unbefristetes Aufenthaltsrecht infolge des Assoziationsrats-Beschlusses
Nr. 1/80 erfüllen. Die Zahl der von der Problematik betroffenen Kinder mit
möglicherweise unerkannt gebliebener deutscher Staatsangehörigkeit könnte
bundesweit bei ca. 1 000 jährlich liegen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Geborene mit türkischer Staatsangehörigkeit gab es jeweils in den
Jahren 2005 bis 2009?

2. Wie viele türkische Staatsangehörige mit befristeter Aufenthaltserlaubnis
leben in der Bundesrepublik Deutschland, und welche genaueren Angaben
zum Aufenthaltsstatus, Aufenthaltszweck und zur Beschäftigungssituation
dieser Personen lassen sich machen?

a) Wie viele von ihnen besitzen (schätzungsweise) ein unbefristetes Aufent-
haltsrecht nach den Artikeln 6 und 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des Asso-
ziationsrates EWG-Türkei?

b) Wie viele von ihnen leben bereits seit einem, drei, vier bzw. fünf Jahren
in Deutschland?

c) Wie viele von ihnen besitzen die Erlaubnis zur Beschäftigung?

d) Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass türkische Staatsangehö-
rige mit einer befristeten Aufenthaltserlaubnis mehrheitlich ein unbefris-
tetes Aufenthaltsrecht nach den Artikeln 6 und 7 des Beschlusses Nr. 1/80
des Assoziationsrates EWG-Türkei besitzen (bitte begründen)?

e) Wie viele türkische Staatsangehörige verfügen über eine Aufenthalts-
erlaubnis nach § 4 Absatz 5 AufenthG?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1797

3. Unter welchen Bedingungen erwerben türkische Staatsangehörige ein
unbefristetes Aufenthaltsrecht nach den Artikeln 6 und 7 des Beschlusses
Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei, wenn die aktuellste Rechtspre-
chung des Europäischen Gerichtshofs berücksichtigt wird (bitte typische
Fallgruppen benennen)?

a) Welche Möglichkeiten haben Betroffene, feststellen zu lassen, ob sie ein
unbefristetes Aufenthaltsrecht nach den Artikeln 6 und 7 des Beschlusses
Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei haben?

b) Bei welchen Gelegenheiten/Anlässen wird eine solche Prüfung durch
welche Behörde vorgenommen?

c) Welche Nachweise müssen zur Feststellung eines unbefristeten Aufent-
haltsrechts nach den Artikeln 6 und 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des Asso-
ziationsrates EWG-Türkei erbracht werden?

4. Wird die deutsche Staatsangehörigkeit nach § 4 Absatz 3 StAG kraft Gesetz
erworben oder ist der Staatsangehörigkeitserwerb – entgegen des Gesetzes-
wortlautes – von einer Beurkundung, Registrierung usw. abhängig (bitte
begründen)?

5. Welche Rechtsgrundlagen gelten, welche Möglichkeiten gibt es, welche
Wege müssen gegangen, welche Fristen beachtet werden, um eine nach § 4
Absatz 3 StAG bestehende deutsche Staatsangehörigkeit nachträglich fest-
stellen bzw. beurkunden und eintragen zu lassen, insbesondere, wenn irr-
tümlich eine ausländische Staatsangehörigkeit beurkundet bzw. registriert
wurde (wie erfolgt die Berichtigung)?

6. Welche rechtlichen und praktischen Folgen ergeben sich aus einer solchen
nachträglichen Feststellung der deutschen Staatsangehörigkeit und Korrek-
tur der irrtümlich beurkundeten ausländischen Staatsangehörigkeit?

7. Warum ist in dem Formblatt (Anlage zu § 34 PStV) für Anfragen des Stan-
desamtes an die Ausländerbehörde beim anzukreuzenden Aufenthaltsstatus
oder -titel nicht explizit die Möglichkeit vorgesehen, dass ein unbefristetes
Aufenthaltsrecht nach den Artikeln 6 und 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des
Assoziationsrates EWG-Türkei besteht?

a) Inwieweit sieht die Bundesregierung die Gefahr, dass die fehlende An-
kreuzmöglichkeit eine unzureichende Prüfung des unbefristeten Aufent-
haltsrechts nach den Artikeln 6 und 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des Asso-
ziationsrates EWG-Türkei durch das Standesamt begünstigt?

b) Inwieweit sieht die Bundesregierung die Gefahr, dass nach § 34 PStV
eine Anfrage an die Ausländerbehörde unterbleibt in Fällen, in denen so-
wohl die Eltern als auch das Standesamt bereits wegen eines nur befriste-
ten Aufenthaltstitels (irrtümlich) davon ausgehen, dass die Voraussetzun-
gen für den Staatsangehörigkeitserwerb per Geburt nicht vorliegen, ob-
wohl möglicherweise ein unbefristetes Aufenthaltsrecht nach den Arti-
keln 6 und 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei
besteht?

c) Inwieweit sieht die Bundesregierung die Gefahr, dass auch die Aus-
länderbehörden ein möglicherweise bestehendes unbefristetes Aufent-
haltsrecht nach den Artikeln 6 und 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des Asso-
ziationsrates EWG-Türkei aufgrund der komplexen Rechtslage und gege-
benenfalls zusätzlich erforderlicher Ermittlungen (etwa zur Beschäfti-
gung) übersehen?

Drucksache 17/1797 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
8. Inwieweit sieht die Bundesregierung angesichts der Vorbemerkung, der
obigen Fragen und gegebenenfalls auch der entsprechenden Antworten zur
geschilderten Problematik einen Änderungs- bzw. Klarstellungsbedarf be-
züglich

a) der Praxis der Standesämter,

b) § 34 der Personenstandsverordnung,

c) der Anlage 12 zur PStV bzw. dem darin enthaltenen Formblatt,

und was ist geplant, um auszuschließen, dass deutsche Kinder in Deutsch-
land groß werden und dabei irrtümlich als „Ausländerinnen“ bzw. „Aus-
länder“ gelten?

9. Hat die Bundesregierung Kenntnis von konkreten Fällen, in denen eine
deutsche Staatsangehörigkeit zunächst nicht beurkundet wurde, weil das
unbefristete Aufenthaltsrecht zumindest eines Elternteils infolge des Be-
schlusses Nr. 1/80 nicht erkannt wurde (falls ja, bitte ausführen), und wie
hoch schätzt die Bundesregierung die Zahl der möglicherweise hiervon be-
troffenen Kinder?

10. Welche Verordnungen, Richtlinien, Rundschreiben oder konkretisierende
Handlungsanweisungen auf der Landesebene zur Prüfung des Staatsange-
hörigkeitserwerbs nach § 4 Absatz 3 StAG bzw. des unbefristeten Aufent-
haltsrechts infolge des Beschlusses Nr. 1/80 durch die Standesämter bzw.
zu entsprechenden Anfragen an die Ausländerbehörden sind der Bundes-
regierung bekannt, und was regeln sie im Detail?

Berlin, den 19. Mai 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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