BT-Drucksache 17/1734

Konsequenzen aus dem Berufsbildungsbericht ziehen - Ehrliche Ausbildungsstatistik vorlegen, gute Ausbildung für alle ermöglichen

Vom 18. Mai 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1734
17. Wahlperiode 18. 05. 2010

Antrag
der Abgeordneten Agnes Alpers, Dr. Petra Sitte, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie
Hein, Yvonne Ploetz und der Fraktion DIE LINKE.

Konsequenzen aus dem Berufsbildungsbericht ziehen – Ehrliche
Ausbildungsstatistik vorlegen, gute Ausbildung für alle ermöglichen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die Berufsbildungsstatistik bildet die strukturellen Probleme im System der
beruflichen Ausbildung nicht angemessen ab und ist damit keine gute Grund-
lage für eine empirisch fundierte Berufsbildungspolitik.

Die Darstellung der Daten zum Ausbildungsstellenmarkt durch die Arbeits-
agenturen verschleiert die realen Probleme von Jugendlichen beim Übergang
von der Schule in Ausbildung eher, als dass sie auf sie aufmerksam machen
würde. Im September 2009 wies die Bundesagentur für Arbeit zum Ab-
schluss des Berichtsjahres aus, dass 9 603 Bewerberinnen und Bewerber
noch unversorgt seien – knapp 2 Prozent aller seit Beginn des Berichtsjahres
gemeldeten Bewerberinnen und Bewerber. Hierbei wird außer Acht gelassen,
dass weitere 73 456 Bewerberinnen und Bewerber zum 30. September 2009
zwar eine Alternative wie beispielsweise einen Job als Ungelernte oder einen
Platz in einer der zahlreichen Überbrückungsmaßnahmen gefunden haben,
ihre Ausbildungsplatzsuche jedoch explizit aufrechterhalten. Als suchend
wären somit ehrlicherweise mindestens 83 059 Bewerberinnen und Bewer-
ber zu zählen – immerhin 16 Prozent der gemeldeten Bewerberinnen und Be-
werber insgesamt. Weitere 198 121 bzw. 37 Prozent der gemeldeten Bewer-
berinnen und Bewerber haben ihre Ausbildungsplatzsuche mit unbekanntem
Ausgang aufgegeben – es ist davon auszugehen, dass auch ein erheblicher
Anteil dieser Jugendlichen nicht im eigentlichen Sinne als „versorgt“ gezählt
werden kann.

Bekanntermaßen in Ausbildung eingemündet sind 252 181 bzw. 47 Prozent
der Bewerberinnen und Bewerber – nicht einmal jede bzw. jeder zweite der
gemeldeten Bewerberinnen und Bewerber wurde folglich tatsächlich erfolg-
reich durch die Arbeitsagenturen bzw. kommunalen Träger in Ausbildung
vermittelt. Die von der Bundesagentur für Arbeit veröffentlichte Vermitt-
lungsquote von 98 Prozent der Bewerberinnen und Bewerber kann vor die-
sem Hintergrund nur als Verschleierung des real existierenden Ausbildungs-
platzmangels begriffen werden.

Darüber hinaus erfasst die Statistik der Arbeitsagenturen sowie der kommu-
nalen Träger in den Optionskommunen nur einen eng begrenzten Ausschnitt
der Übergänge von der Schule in die Ausbildung. Ein großer Teil der
Schulabsolventinnen und -absolventen wendet sich nie an die entsprechen-
den Stellen, sondern bewirbt sich direkt im sogenannten Übergangssystem.

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Von den Neuzugängen zur beruflichen Bildung gehen inzwischen rund
40 Prozent in entsprechende Ersatzmaßnahmen, die den Teilnehmerinnen
und Teilnehmern keinen anerkannten Berufsabschluss bieten. Auch die Be-
werbungen und Neuzugänge für schulische Ausbildungswege werden von
der Ausbildungsstatistik der Bundesagentur für Arbeit nicht erfasst, eine sys-
tematische Zusammenführung der Schulstatistik, der Statistik des Bundes-
instituts für Berufsbildung und der Statistik der Bundesagentur für Arbeit er-
folgt nicht. Eine umfassende statistische Erfassung der Wege von der Schule
in Ausbildung ist mit den vorhandenen Instrumenten der Berufsbildungs-
berichterstattung folglich nicht möglich.

2. Der Berufsbildungsbericht 2010, die Ausbildungsstatistik der Bundesagentur
für Arbeit sowie aktuelle Studien zeigen gravierende strukturelle Mängel im
System der beruflichen Ausbildung auf, welche umfassende Reformen der
Berufsausbildung erzwingen.

Bereits im Jahr 2009 hat die Wirtschaftskrise auf dem Ausbildungsmarkt
deutliche Spuren hinterlassen, die Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsver-
träge brach im Vergleich zum Vorjahr um gut 50 000 Verträge und damit um
mehr als 8 Prozent ein. Auch für das Jahr 2010 gibt es in Bezug auf den Aus-
bildungsplatzmangel keinen Grund zur Entwarnung. Gerade die Ausbil-
dungspläne von Großunternehmen mit mehr als 1 000 Beschäftigten fallen
deutlich hinter die beiden vergangenen Jahre zurück (vgl. IHK-Unterneh-
mensbefragung Ausbildung 2010). Der demographischen Entwicklung zum
Trotz gibt es weiter deutlich weniger Berufsausbildungsstellen als Bewerbe-
rinnen und Bewerber. 402 707 Bewerberinnen und Bewerbern, die bei ihrer
Suche nach einem Ausbildungsplatz bei den Arbeitsagenturen Unterstützung
suchen, standen im April 2010 gerade einmal 357 231 Berufsausbildungs-
stellen gegenüber (vgl. Ausbildungsstatistik der Bundesagentur für Arbeit).
Davon ausgehend, dass für ein auswahlfähiges Angebot an Ausbildungsplät-
zen auf 100 Bewerberinnen und Bewerber mindestens 112,5 Ausbildungs-
plätze kommen müssten (vgl. BVerfG-Urteil vom 10. Dezember 1980), feh-
len für eine ausgeglichene Ausbildungsbilanz fast 96 000 Ausbildungsplätze.
Weitere 11 782 Ausbildungsplätze werden derzeit nur außerbetrieblich ange-
boten. Um allen Bewerberinnen und Bewerbern eine betriebliche Ausbildung
zu ermöglichen, fehlen folglich insgesamt 108 000 Ausbildungsplätze – das
Ausbildungsplatzangebot müsste um 30 Prozent steigen, um diese Bilanz zu
erreichen.

Ausbildungsgänge, die grundsätzlich in vollzeitschulischer Form angeboten
werden, werden zunehmend von privaten Schulen angeboten. In vielen Re-
gionen sind bestimmte Berufe nur noch über eine Ausbildung an einer Privat-
schule erreichbar. Aufgrund der teilweise erheblichen Gebühren, die von die-
sen Schulen erhoben werden, bleiben Jugendlichen aus finanzschwachen
Elternhäusern ganze Berufszweige verschlossen.

Bildungspolitik muss gewährleisten, dass alle Menschen Zugang zu einer gu-
ten beruflichen Ausbildung haben, die ihren Interessen und Neigungen ent-
spricht. Durch die aktuelle Situation des Ausbildungssystems werden das
Recht auf Bildung und das Recht auf eine freie Wahl des Berufes für viele
Schulabgängerinnen und -abgänger verletzt. Viel zu viele junge Menschen
werden über Jahre in Ersatzmaßnahmen abgedrängt, die ihnen keine berufli-
che Perspektive bieten können, oder sie landen direkt nach dem Abschluss
der allgemeinen Schulbildung in der Arbeitslosigkeit. Inzwischen haben in
Deutschland 1,5 Millionen der 20- bis 29-Jährigen keine abgeschlossene Be-
rufsausbildung. Ihnen bleiben ihre beruflichen Wünsche und Perspektiven
meist lebenslang verschlossen. Dies kann nicht länger hingenommen werden.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1734

3. Der Berufsbildungsbericht 2010 macht auf erhebliche Mängel der allgemei-
nen und beruflichen Schulbildung aufmerksam.

Die öffentlichen Schulen haben die Aufgabe, allen Jugendlichen in den allge-
meinbildenden Schulen eine umfassende allgemeine Bildung auf hohem Ni-
veau anzubieten, mit der sie auch gut auf die berufliche Ausbildung vorberei-
tet werden, sowie sie in den beruflichen Schulen während der Ausbildung
bestmöglich zu unterstützen. Internationale Studien, etwa der Organisation
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), belegen je-
doch, dass gerade die allgemeinbildenden Schulen in Deutschland sozial
Schwächere ausgrenzen, statt diese Kinder und Jugendlichen gezielt zu för-
dern. Die Benachteiligung dieser Kinder und Jugendlichen wird durch den
Ausbildungsplatzmangel beim Übergang von der Schule in die Ausbildung
noch verschärft. Sie bleiben häufig dauerhaft ohne anerkannten Ausbildungs-
abschluss oder müssen in Branchen ausweichen, die ihren Neigungen und In-
teressen nicht entsprechen. Die Berufsschulen sind vielfach nicht in der Lage,
ihnen während der Ausbildung die nötige Unterstützung für einen guten Be-
rufsschulabschluss und einen guten Einstieg ins Erwerbsleben zu bieten. Die
zunehmende Inanspruchnahme privater Nachhilfeangebote ist als Ausdruck
gravierender Mängel des öffentlichen Schulwesens zu verstehen.

Die Etikettierung eines relevanten Anteils der Schulabsolventinnen und -ab-
solventen als „nicht ausbildungsreif“ ist trotz der Mängel im allgemeinbil-
denden Schulwesen als unangemessen zurückzuweisen. Es ist die Aufgabe
des Berufsbildungssystems, allen Jugendlichen eine gute Ausbildung zu er-
möglichen. Eine Ausgrenzung der vermeintlich nicht ausbildungsreifen Be-
werberinnen und Bewerber hilft den betroffenen Jugendlichen in keiner
Weise. Im Gegenteil: Statt durch Förderung und Integration tritt ihnen das
Berufsbildungssystem durch Stigmatisierung und Ausgrenzung gegenüber.
Die Verantwortung für den Mangel an Ausbildungsplätzen sowie an pädago-
gischer Unterstützung darf nicht den Jugendlichen zugeschoben werden.
Stattdessen muss die Politik Verantwortung dafür übernehmen, dass gerade
Benachteiligte und sozial Schwächere durch geeignete Maßnahmen unter-
stützt werden und eine qualifizierte und anerkannte Ausbildung abschließen
können.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf:

1. Eine integrierte Ausbildungsberichterstattung auf den Weg zu bringen, mit
der der Übergang von der Schule in Ausbildung sowie Ausbildungsverläufe
umfassend und ungeschönt abgebildet werden. Um allen Jugendlichen eine
qualifizierte Berufsausbildung zu ermöglichen, muss die Ausbildungsbe-
richterstattung klar aufzeigen, wie groß der Ausbildungsplatzmangel tatsäch-
lich ist. Jugendliche, die keinen Ausbildungsplatz erhalten, dürfen in der
Statistik nicht als „versorgt“ gezählt werden, unabhängig davon, ob sie in Er-
satzmaßnahmen einmünden, die Suche aufgeben, sich eine Alternative wie
beispielsweise einen Job als Ungelernte gesucht haben oder von der Arbeits-
agentur bzw. dem kommunalen Träger als „nicht ausbildungsreif“ deklariert
wurden. Eine integrierte Ausbildungsberichterstattung muss eine Gesamt-
schau aller verschiedenen Ausbildungswege ermöglichen und hierfür ver-
schiedene Teilstatistiken wie die Schulstatistik, die Statistik der Bundesagen-
tur für Arbeit sowie Erhebungen des Bundesinstituts für Berufsbildung
zusammenführen und, wo nötig, ergänzen.

2. Einen Gesetzentwurf für eine Umlagefinanzierung der Ausbildung vorzule-
gen, damit künftig allen Bewerberinnen und Bewerbern direkt nach dem Ab-
schluss der allgemeinen Schulbildung und unabhängig von der konjunkturel-
len Situation ein Ausbildungsplatz im dualen System angeboten werden
kann. Hierbei werden alle Unternehmen nach Maßgabe ihrer wirtschaftlichen

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Möglichkeiten an den Kosten der Ausbildung beteiligt. Zur Förderung be-
nachteiligter und leistungsschwächerer Jugendlicher müssen ausbildungsbe-
gleitende Hilfen zu einem Regelangebot für ausbildende Betriebe ausgebaut
werden. Die Bundesagentur für Arbeit muss hierfür ihr Angebot deutlich aus-
bauen. Bund und Länder haben einen Ausbau der Angebote verbindlich ab-
zusichern und sich an der Finanzierung stärker zu beteiligen. Schulgebühren
müssen bundesweit abgeschafft werden.

3. Gemeinsam mit den Ländern eine Reform der Schulbildung einzuleiten, die
insbesondere für benachteiligte und schwächere Schülerinnen und Schüler
eine deutlich bessere Förderung sicherstellt. Die Schulen müssen leistungs-
schwächeren Schülerinnen und Schülern individualisierte Angebote im Lern-
prozess bieten, die inklusive Bildung und gleiche Lernchancen ermöglichen.
Dafür sind ein längeres gemeinsames Lernen aller Schülerinnen und Schüler,
eine Reform der Lehr- und Lernformen hin zu einer inklusiven Pädagogik
und ein deutlicher Ausbau der sozialpädagogischen sowie sozialpsychologi-
schen Unterstützung an den Schulen wichtige Voraussetzungen. Die Bundes-
regierung hat gleichsam dafür zu sorgen, dass allen Jugendlichen ein freier
und gleicher Zugang zum Bildungssystem gewährt wird.

Berlin, den 18. Mai 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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